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REZENSION/603: Tommy McKearney - The Provisional IRA (Irland) (SB)


Tommy McKearney


The Provisional IRA

From Insurrection to Parliament



In Nordirland stehen die Dinge derzeit nicht zum Besten. Am 1. November wurde der protestantische Gefängniswärter David Black während der morgendlichen Fahrt zur Arbeit im Hochsicherheitstrakt Maghaberry auf der Autobahn Dublin-Belfast erschossen. Black, dessen gewaltsamer Tod der erste eines Gefängniswärters in Nordirland seit 1979 war, gehörte dem pro-britischen Oranier-Orden an, dessen Märsche jeden Sommer für Unruhe in einigen katholischen Wohngegenden sorgen. Die Attentäter haben Black hingerichtet, um auf den seit 2011 andauernden Schmutzprotest der irisch-republikanischen Gefangenen in Maghaberry gegen Leibesvisitationen aufmerksam zu machen und die Gründung einer "neuen IRA" bekanntzugeben. Seit Anfang Dezember kommt es an diversen Orten in Nordirland immer wieder zu Ausschreitungen protestantischer Jugendlicher wegen der Entscheidung des inzwischen katholisch-nationalistisch dominierten Stadtrats von Belfast, die britische Flagge nicht wie bisher ganzjährig, sondern nur an Feiertagen über dem Rathaus der Provinzhauptstadt wehen zu lassen.

Für die meisten Außenstehenden ist der Konflikt in Nordirland, der seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 offiziell nicht mehr mit Waffengewalt ausgetragen wird, ein Buch mit sieben Siegeln. Es gibt aber jetzt Abhilfe in Form des Buches "The Provisional IRA - From Insurrection to Parliament" von Tommy McKearney. Auf dem Klappentext lobt der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Irish Press, Tim Pat Coogan, das Werk in höchsten Tönen: "Tommy McKearneys Erzählung ist für jeden, der sich für den Kampf innerhalb Nordirlands selbst oder für die Beziehung zwischen England und Irland interessiert, ein Buch, das man gelesen haben muß". Die vorliegende Lektüre hat das überschwengliche Lob Coogans, der sich selbst mit Standardwerken über Michael Collins und die IRA einen Namen als führender lebender Geschichtsexperte auf dem Feld des irischen Republikanismus machte, verdient.

Der 1952 geborene Tommy McKearney stammt aus einer erzrepublikanischen Familie. Sein Großvater mütterlicherseits war Kommandeur der "alten" IRA in der Grafschaft Roscommon während des irischen Unabhängigkeitskrieges 1919-1921. Mit 20 Jahren trat er 1972 - wie damals viele junge Katholiken als Reaktion auf die Erschießung von 13 Teilnehmern einer Bürgerrechtsdemonstration in Derry durch britische Fallschirmjäger am sogenannten Bloody Sunday - der Provisional IRA bei und wurde Oberkommandierender der Brigade für den Osten der Grafschaft Tyrone. (Die Bezeichnung Provisional IRA leitet sich aus der Spaltung der alten IRA Ende 1969 ab. Während sich die "Provos" für den bewaffneten Widerstand gegen Übergriffe loyalistischer Paramilitärs und der protestantisch dominierten Royal Ulster Constabulary (RUC) auf katholische Wohnviertel entschieden, wandte sich die Official IRA ausschließlich der friedlichen Politik zu, nannte sich später die Workers' Party und ging in den neunziger Jahren in der Irish Labour Party auf. Ein ehemaliges Mitglied der Official IRA, Eamon Gilmore, ist heute irischer Außenminister und Vorsitzender der besagten sozialdemokratischen Arbeiterpartei).

1977 wurde Tommy McKearney wegen der Erschießung von Stanley Adams, einem Postbeamten und Teilzeitsoldaten beim britischen Ulster Defence Regiment (UDR), zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und nach 16 Jahren aus der Haft entlassen. 1980 nahm er am ersten IRA-Hungerstreik im Hochsicherheitstrakt Long Kesh gegen die Entscheidung der konservativen britischen Regierung Margaret Thatchers teil, die republikanischen Insassen nicht mehr als Kriegsgefangene, sondern als gewöhnliche Kriminelle zu behandeln. Als jener Hungerstreik auf Entscheidung des IRA-Kommandeurs in Long Kesh, Brendan Hughes, abgebrochen wurde, hatte McKearney seit 53 Tagen nichts mehr gegessen und nach Einschätzung der Ärzte nur noch wenige Stunden zu leben.

Während der Zeit im Gefängnis hat sich McKearney, der ursprünglich Lehrer werden wollte, einen Ruf als wißbegieriger Mensch erworben, der viel las und unter den Häftlingen die politische und philosophische Bildungsdiskussion vorantrieb. Ungeachtet der Tatsache, daß McKearney drei seiner Brüder während des Bürgerkrieges verlor - zwei von ihnen starben als IRA-Mitglieder bei Operationen, ein Dritter, der nicht militärisch involviert war, fiel einem Attentat loyalistischer Paramilitärs zum Opfer -, wandte er sich Mitte der neunziger Jahre von der IRA und derem politischen Arm Sinn Féin ab, weil er den bewaffneten Kampf inzwischen für kontraproduktiv hielt. Er bescheinigt dem kleinen Kreis an IRA-Dissidenten, die heute den Krieg gegen den britischen Staat mit vereinzelten Aktionen immer noch fortzusetzen versuchen, Realitätsverlust und Waffenfetischismus.

In seinem Buch erläutert der bekennende Sozialist McKearney die Geschichte des irischen Republikanismus vor und nach der Teilung der grünen Insel 1921. Er hält den bewaffneten Aufstand der nordirischen Katholiken gegen den protestantisch-unionistischen Staat Nordirland und später auch gegen die britischen Streitkräfte dort für legitime Selbstverteidigung. Das heißt aber nicht, daß er im Nachhinein alle Anschläge der IRA gutheißt oder deren Beitrag zur Vertiefung des Mißtrauens zwischen Nationalisten und Unionisten leugnet. Er analysiert die strukturellen Gründe, warum sich die Unionisten, für die Nordirland, der Ansicht seines Gründers James Craig folgend, als "protestantischer Staat für ein protestantisches Volk" konzipiert war, nicht dazu durchringen konnten, die politische und wirtschaftliche Diskriminierung der Katholiken zu beenden, und warum ihre loyalistischen Schlägertrupps damals so heftig auf die Bürgerrechtsbewegung, die Gleichheit für alle forderte, reagierten.

Die Beendigung der Teilung Irlands und die Schaffung einer sozialistischen Republik waren zwar die erklärten Ziele der IRA. Sie sollten sich jedoch als unerreichbar erweisen. McKearney nennt schonungslos die Gründe für das Scheitern. Hierzu gehören an erster Stelle die einseitige Ausrichtung der IRA auf die Erfordernisse eines Guerillakrieges mit der britischen Armee und die daraus resultierende Vernachlässigung des sozialen Kampfes, der eine klassenbewußte Solidarisierung unter der arbeitenden Bevölkerung auf beiden Seiten sowohl der konfessionellen Trennungslinie in Nordirland als auch der Grenze zwischen Nord und Süd ermöglicht hätte. Er wirft sogar die Frage auf, ob es nicht vielleicht der eigentliche Zweck des Bloody Sunday war, die damals für die Behörden in London und Belfast nicht mehr zu kontrollierende Welle an zivilem Ungehorsam in Nordirland gezielt in Richtung bewaffneten Konflikt zu kanalisieren, den der britische Staat aufgrund seiner militärischen Überlegenheit über kurz oder lang gewinnen mußte.

Die IRA in Nordirland war zu keinem Zeitpunkt in der Lage, Großbritannien dermaßen schwere Verluste unter seinen Soldaten zuzufügen, daß sie London zu einem Abzug veranlaßt hätten. Durch die bis in die Anfänge der neunziger Jahre hinein zielstrebig verfolgte Einschleusung von Spitzeln in die IRA-Kommandoebene sowie die illegale Aufrüstung der Loyalisten mit Maschinengewehren und Munition aus Südafrika hatte das Militär und der Geheimdienst Großbritanniens den republikanischen Aufstand zwar nicht unterwerfen können, seine Fortsetzung aber erheblich erschwert. McKearney hält die damalige Entscheidung der IRA, mit Sinn Féin in den Parlamentarismus einzusteigen, für konsequent. Ähnlich wie Anthony McIntyre, dem anderen prominenten Sinn-Féin-Kritiker aus den Reihen der IRA-Veteranen, wirft er aber der Sinn-Féin-Führung um Gerry Adams und Martin McGuinness vor, die demokratische Diskussion innerhalb der Untergrundarmee verhindert und die Entscheidung für den Gang durch die Institutionen über die Köpfe der einfachen Freiwilligen hinweg getroffen zu haben. Nach Ansicht McKearneys kann man den sogenannten Friedensprozeß in Nordirland im Prinzip gut finden, ohne die gravierenden Mängel des politischen Prozesses, der ihn begleitet, ignorieren zu müssen.

Seiner Meinung nach hat die IRA zweifelsohne den "Orange State" zu Fall gebracht, doch leider haben die ihn ersetzenden politischen Institutionen die religiöse Kluft in der Unruheprovinz zementiert, statt sie zu überwinden. Sinn Féin hat sich vom Sozialismus abgewandt und ist zu einem Vehikel für politische Karrieristen verkommen. Inzwischen bildet sie die größte nationalistische Partei in Nordirland, das sie zusammen mit der Democratic Unionist Party (DUP) reagiert. Im Süden profitiert sie von dem drastischen Popularitätsverlust der Fianna-Fáil-Partei infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise. Doch ob die mögliche Regierungsbeteiligung von Sinn Féin in Dublin nach den nächsten Parlamentswahlen in der Republik Irland tatsächlich einem geeinten Irland den Weg ebnen wird - wie es die Parteispitze seit Jahren suggeriert - muß sich noch zeigen.

Wie einst dem großen sozialistischen Revolutionär James Connolly würde es auch Tommy McKearney nicht reichen, wenn plötzlich auch auf der nördlichen Seite der inneririschen Grenze die roten Briefkästen der Royal Mail grün übermalt wären und über dem Belfaster Rathaus statt des Union Jack die irische Trikolore wehte, solange das nicht mit einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung in ganz Irland in Richtung Liberté, Égalité und Fraternité einherginge. Mit seinem Plädoyer auf eine Besinnung auf die ursprünglichen Ziele tritt er für einen "radikalen Republikanismus" ein, der die Klassenschranken einreißt und die religiösen Gräben überwindet. Ideen, wie man dies bewerkstelligen könnte, liefert der überzeugte Gewerkschaftsaktivist zuhauf. Folglich bietet McKearneys Buch nicht nur einen Blick in die jüngere Geschichte der IRA aus der Sicht eines noch idealistischen Ex-Offiziers, sondern zeichnet aufgrund einer fundierten marxistischen Analyse für den irischen Republikanismus auch den Weg in eine vielversprechende Zukunft.

18. Dezember 2012


Tommy McKearney
The Provisional IRA - From Insurrection to Parliament
Pluto Press, London, 2011
236 Seiten
ISBN: 978-0-7453-3074-7