Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/624: Stephen Emmott - Zehn Milliarden (Ressourcenmangel, Klimawandel) (SB)


Stephen Emmott


Zehn Milliarden



"Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!" schrieb Friedrich Hölderlin 1803 in seiner Hymne "Patmos". Diese häufig zitierte Verszeile wird gelegentlich von technikgläubigen Zeitgenossen zur Rechtfertigung des wissenschaftlichen Fortschritts als Antwort auf die globalen Umweltkrisen bemüht. Solch einen Standpunkt würde Stephen Emmott verwerfen. Ohne sich explizit auf das Hölderlin-Zitat zu beziehen, resümiert der Autor des Buchs "Zehn Milliarden", in dem vielfältige Gefahren für die Menschheit benannt werden: "Ich glaube, wir sind nicht mehr zu retten." (S. 202)

Bevor er zu dieser fatalistisch anmutenden Schlußfolgerung gelangt, stellt der Leiter eines Microsoft-Labors in Cambridge eine Reihe von wissenschaftlichen Daten beispielsweise zum Bevölkerungswachstum, Rohstoffbedarf der Menschheit und Klimawandel zusammen und rechnet die jeweiligen Trends bis zum Jahr 2100, wenn die Erde voraussichtlich von zehn Milliarden Menschen oder mehr bewohnt wird, hoch. Davon handelt auch das Bühnenstück "Ten Billion", mit dem Emmott und die Regisseurin Katie Mitchell im Jahr 2012 am Royal Court Theatre in London große Erfolge feierten.

Das Buch hat Emmott offenbar deshalb geschrieben, weil er verhängnisvolle Konsequenzen der globalen Entwicklungen befürchtet:

"Durch unsere Intelligenz, unseren Einfallsreichtum und unser Handeln haben wir diesen Planeten verändert, und zwar so gut wie in jeder Hinsicht. Wir haben, daran besteht kein Zweifel, massiven Einfluß auf die Erde. (...) Ich bin der Überzeugung, dass wir die Situation, in der wir uns jetzt befinden, mit Fug und Recht einen Notfall nennen können - einen beispiellosen Notfall planetarischen Ausmaßes. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben." (S. 12/13)

"Zehn Milliarden" ist somit eher als Weckruf denn als weiterer Ratgeber für Verhaltensänderungen im Angesicht des bevorstehenden Klimawandels und Ressourcenmangels zu verstehen. Daß Emmott es gar nicht erst versucht, einfache Lösungen für umfassende Probleme anzubieten, zählt zu den erfreulichen Aspekten dieses Buchs. Durch die brüske Konfrontation mit dem, was gemeinhin als harte wissenschaftliche Faktenlage gilt, will Emmott die Leserschaft aufrütteln. Dazu fährt er, unterstützt durch eine knapp gehaltene Sprache, schwere Geschütze auf, die sich in wenigen Sätzen zusammenfassen lassen: Gegen Ende des Jahrhunderts werden voraussichtlich zehn Milliarden Menschen die Erde bevölkern. Entsprechend groß wird der Bedarf an Trinkwasser, Nahrung, Energie und mineralischen Rohstoffen sein. Das gibt die Erde nicht her. Es dürfte zum Hauen und Stechen um die Ressourcen kommen.

Der Preis für die Bevölkerungsexplosion, deren Ursache Emmott vor allem auf die gesteigerte landwirtschaftliche Produktivität in Folge der Maschinisierung und ab den 1960er Jahren der Grünen Revolution (Einsatz von Herbiziden und Dünger, Entwicklung neuer Sorten) zurückführt, waren "enorme Umweltschäden: Verlust von Lebensräumen, Schadstoffbelastung, Überfischung." (S. 28)

Emmott, der sich von Berufs wegen mit Computational Science, der rechnergestützten Wissenschaft, befaßt, geht meist nach einer Methode vor, bei der er zunächst die historische Entwicklung des Verbrauchs einer Ressource schildert und daran die Berechnung zukünftiger Trends knüpft. Dabei gelangt er immer wieder zu dem Ergebnis, daß die verfügbaren Rohstoffe nicht genügen, die Entwicklung folglich untragbar ist.

In den an Umweltfragen interessierten Kreisen ist der Begriff des "virtuellen Wassers" zwar keine Neuigkeit, seine Bedeutung wird hier aber in wenigen Sätzen recht anschaulich beschrieben: Virtuelles Wasser ist das Wasser, "das für die Herstellung all der Dinge benötigt wird, die wir verbrauchen". (S. 78) 3000 Liter "virtuelles Wasser" enthält ein Burger, 9000 Liter ein Hähnchen und 2700 Liter eine Tafel Schokolade. Eine Tasse Kaffee ist für 100 Liter virtuelles Wasser zu haben, und um einen Liter eines Getränks in einer Plastikflasche zu transportieren, werden allein für die Flaschenherstellung vier Liter Wasser verbraucht. "Wir konsumieren Wasser genau wie Nahrungsmittel in einem Ausmaß, das völlig untragbar ist", schreibt Emmott, der damit unausgesprochen an eine ältere Diskussion anknüpft, die schon 1972 in dem Buch "Die Grenzen des Wachstums" im Auftrag des Club of Rome aufgeworfen wurde.

Unsauber recherchiert hat der Autor allerdings im Zusammenhang mit seinem Rückblick auf Wassermangel als Folge von Trockenheit, wenn er behauptet: "Unser Wasserbedarf, nicht nur nach Trinkwasser, sondern auch für die Herstellung von Nahrungsmitteln und all dem Zeugs, das wir verbrauchen, explodierte. Und nun bekamen wir zum ersten Mal Probleme mit dem Wasser. 1984 berichteten Reporter aus Äthiopien von einer Dürre biblischen Ausmaßes, verursacht von wochenlanger Trockenheit." (S. 33)

"Probleme mit dem Wasser" bekamen Menschen nicht erst seit 1984. Das ist so offensichtlich, daß die Vermutung aufkommt, für Emmott existiere eine eklatante Wassernot erst dann, wenn sie derart medial aufbereitet und benefizökonomisch ausgeschlachtet wird wie jene Dürrekatastrophe in Äthiopien, die eine von dem Musiker Bob Geldorf angeregte Hilfsmaschinerie mit riesigen Rockkonzerten in London und Philadelphia (Life Aid) in Gang gesetzt hat.

Populärwissenschaftlich simplifizierend mutet Emmotts Aussage an, daß das Klima "eines der grundlegenden lebenserhaltenden Systeme der Erde" sei. Von ihm hänge es ab, "ob wir Menschen auf diesem Planeten leben können oder nicht". Das Klima setze sich aus vier Komponenten zusammen: "Der Atmosphäre (der Luft, die wir atmen), der Hydrosphäre (dem Wasser auf dem Planeten), der Kryosphäre (den Eisschilden und den Gletschern) und der Biosphäre (den Pflanzen und Tieren)." (S. 38)

Abgesehen davon, daß die Formulierung, daß sich das Klima aus vier Komponenten "zusammensetzt", als handle es sich um einen Gegenstand, ungenau ist, wird hier ein wesentlicher klimarelevanter Faktor unterschlagen: die Sonnenaktivität. Auch Schwankungen der Erdachse bestimmen das Klima mit, und die Lithosphäre (Gesteinshülle), die sich über geologische Zeiträume gerechnet in einem permanenten Umbruch befindet, ebenfalls.

Das Buch "Zehn Milliarden" bliebe unzulänglich rezensiert, ließe man seine merkwürdige Aufmachung unerwähnt. Es mutet wie ein überambitionierter Einfall des Autors oder auch ein verlagstechnischer Verzweiflungsversuch an, angesichts der Kürze des Textes dem Buch durch einige Tricks mehr Substanz andichten zu wollen.

Gäbe es für Bücher ein Äquivalent zum Eichgesetz, nach dem Fertigpackungen so gestaltet sein müssen, "daß sie keine größere Füllmenge vortäuschen, als in ihnen enthalten ist" (Paragraph 7, Absatz 2), wäre das Buch gewiß ein Vorzeigekandidat für die Kategorie "Mogelpackung". Der als Standard geltende Wert, daß eine Verpackung nicht mehr als 30 Prozent Luft enthalten sollte, wird hier deutlich übertroffen! Auf manchen Seiten findet sich nur ein einziger Satz, und damit ist keine Kapitelüberschrift gemeint.

Beispielsweise Seite 47: "An genau diesem Punkt befinden wir uns heute", heißt es da, und schon darf umgeblättert werden. Dort wird der Leser dann mit einer Seite, die immerhin zur Hälfte beschrieben ist, "belohnt". Allerdings sind die Buchstaben fett und in doppelter Schriftgröße gesetzt - als genüge die Aussage für sich genommen nicht, sondern müsse wie eine Schlagzeile ins Auge springen. So gibt das folgende Zitat den kompletten Inhalt von Seite 48 wieder: "Wir müssen uns genauer ansehen, was in diesem Moment - heute - mit diesem hochgradig interdependenten System passiert, auf das wir angewiesen sind und das wir derzeit rasend schnell verändern. Nur dann verstehen wir, auf welchem Weg wir uns gerade befinden."

Nun könnten Autor oder Verlag einwenden, daß die Verpackung edler Pralinen üblicherweise mehr Luft als die eigentliche, wertgeschätzte Ware enthält. Aber wer so argumentiert, müßte plausibel machen, daß der Inhalt des Buchs auch den Anspruch eines solchen Luxusartikels erfüllt. Das ist in diesem Fall fraglich. So ist im obigen Zitat mit dem "System" die Erde gemeint, und daß dort alles irgendwie zusammenhängt, ist keine neue Aussage, würde von jedem Wissenschaftler unterschrieben und wird durch das Wort "interdependent" auch nicht inhaltsschwerer. Für viele andere Textstellen gilt das gleiche.

Ein permanenter Widerspruch, der sich fast durch das gesamte Buch hindurchzieht, wird erst gegen Ende zumindest randläufig erwähnt: Emmott benutzt laufend das Wort "wir" und bezieht es undifferenziert auf die gesamte Menschheit, als habe ein Inder einen genauso hohen durchschnittlichen Ressourcenverbrauch wie ein Brite oder als hätten innerhalb Großbritanniens die einkommensarmen Haushalte einen genauso hohen Ressourcenverbrauch wie die der obersten zehntausend. Erst auf Seite 191 erinnert der Autor daran, daß mit "wir" diejenigen gemeint sind, "die im Westen und Norden unseres Planeten leben". Anderswo gebe es drei Milliarden Menschen, "für die es derzeit wichtig wäre, 'mehr' zu konsumieren, vor allem mehr Wasser, mehr Nahrungsmittel und mehr Energie".

Daß diese gesellschaftliche Diskrepanz ständig aufrechterhalten werden muß und dazu Recht und Gesetz in Stellung gebracht werden, läßt der Autor aus und vermeidet damit genau die Frage, die zu klären anstünde, wollte man die beschriebenen Entwicklungen, die rechnerisch allesamt in Katastrophen münden, aufhalten. Das Buch erweckt den Eindruck, daß sein Autor wohl nur von einer Position aus, die sich von dem Geschehen unbetroffen wähnt, konstatieren kann, wie bereits eingangs zitiert: "Ich glaube nicht, daß wir noch zu retten sind." Das ist ein Standpunkt, den einzunehmen sich beispielsweise ein Hungernder in Afrika nicht leisten kann, wollte er sich nicht seinem "Schicksal" fügen. Er könnte sich durchaus die Frage stellen, was seine Armut mit dem Reichtum in den Wohlstandsregionen dieser Erde zu tun hat, und wenn er dann auch noch die Gelegenheit hätte, ein Buch darüber zu schreiben, würde es vermutlich sehr viel streitbarer sein als "Zehn Milliarden", sich nicht auf die Schilderung von Phänomenen und daraus hergleiteten Hochrechnungen beschränken und ganz sicher nicht geradezu epidemisch das Wort "wir" enthalten.

Bei der Schilderung der Klimawandelfolgen und Ressourcenverknappung den gesellschaftlichen Widerspruch zwischen arm und reich zu ignorieren, ist keine Nebensache, führt dies doch in der Analyse zu beträchtlichen Irrtümern. Deutlich wird dies an Emmotts Beispiel der Produktion eines Autos und den dazu erforderlichen Transportwegen für die einzelnen Materialien, aus denen es gefertigt wird. Die sind gewaltig, müssen aber, wie der Autor zutreffend bemerkt, nicht in den Kaufpreis eingerechnet werden. Irgend jemand muß aber dafür bezahlen, schreibt er und vermutet, daß es "vielleicht Sie. Vermutlich Ihre Kinder" sein werden. (S. 104)

Hier bezieht er sich auf die Umweltprobleme aufgrund der Emissionen von Treibhausgasen, die bei den globalen Handelsströmen, zu denen es für die Autoproduktion kommt, entstehen. Kein Thema für den Autor scheint zu sein, daß der Preis für billige Autos heute schon von Menschen vor allem auf den unteren Stufen der globalen Produktionskette entrichtet wird, die sich in körperlich ruinösen Arbeiten zu Hungerlöhnen verbrauchen. Ob im Steinkohlebergwerk der Türkei, den Coltan-Minen der DR Kongo oder - sozusagen am Wurmfortsatz der Warenwelt - beim Abwracken von Containerschiffen an den Stränden von Bangladesch, hier und heute, nicht erst morgen zahlen Menschen einen hohen Preis dafür, daß andere im Wohlstand leben können.

Der Erfolg von Emmotts Bühnenstück und Bestseller dürfte nicht zuletzt darin gegründet sein, daß er zwar explizit zum radikalen Handeln auffordert, aber bestehende Produktions- und Eigentumsverhältnisse nicht in Frage stellt. Indem er von "wir" und der "Menschheit" spricht, verleiht er der von ihm prognostizierten Entwicklung etwas Unfaßbares, Schicksalhaftes. Doch die Profiteure des Wohlstandsgefälles haben ein Gesicht und sie tragen einen Namen; ihre Interessen und die Mittel und Methoden, mit denen sie diese gegen das Überlebensinteresse anderer durchsetzen, sind benennbar. Der multiple Ressourcenmangel, auf den die Menschheit nach Ansicht Emmotts zusteuert, ist somit eher ein Problem der Besitzenden und weniger der Habenichtse. Denn für sie ist das Schreckensszenario, das der Autor für einen späteren Zeitpunkt entwirft, längst Lebensrealität.

10. Juni 2014


Stephen Emmott
Zehn Milliarden
Suhrkamp Verlag Berlin 2013
206 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-518-42385-1