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REZENSION/639: Jürgen Tautz - Die Erforschung der Bienenwelt (SB)


Jürgen Tautz


Die Erforschung der Bienenwelt

Neue Daten - neues Wissen



Die erste Auflage des Bienenbuches "Die Erforschung der Bienenwelt. Neue Daten - neues Wissen" von Professor Jürgen Tautz war bereits einen Monat nach ihrem Erscheinen vergriffen. Es zeigt, daß das Interesse an Neuem "aus alten Stöcken", wie es die HOBOS.de Webseite im Untertitel ihrer Buchvorstellung verspricht, überaus groß ist. Damit, daß das 80seitige Kompaktwerk - der Klett MINT Verlag spricht bescheiden von einem "Heft" -, welches die Audi Stiftung für Umwelt mit dessen Hilfe herausgegeben hat, für bekennende Bienenfans zum Nulltarif erhältlich ist (ein Nachdruck soll in Kürze den Nachschub sichern) [1], hat das wenig zu tun. Vielmehr gründet sich die große Nachfrage wohl in der wachsenden Sorge um die kleinen, plüschmorsbewehrten Frühlingsboten, die für jeden, der ein Auge dafür hat, nachweislich immer rarer werden. Auch wenn es in den Medien momentan still geworden ist, lassen doch regelmäßige Schreckensmeldungen nicht vergessen, inwieweit die schöne, heile Biene-Maja-Welt durch Pestizide, Umweltschadstoffe, gefährliche Parasiten oder Bienenviren in Blütenpollen und durch konkurrierende Einwanderer oder Killerbienen aus Afrika in Unordnung geraten ist. Niemand kann genau sagen, warum Bienen mancherorts massenhaft sterben. Ebenso ungeklärt bleibt auch die seltsame Erscheinung, bei der sich ganze Bienenschwärme in den Vereinigten Staaten scheinbar grundlos verabschieden, über Nacht verschwinden und unauffindbar verschollen bleiben, ohne daß man die toten Tiere gefunden hätte. "Colony Collaps Disorder" (CCD) haben Forscher das mysteriöse Phänomen genannt. Seit Jahren wird daran geforscht, ohne Ergebnis. In Europa soll die Bienenpopulation in manchen Jahren bis zu 30 Prozent, in manchen Gegenden sogar bis zu 85 Prozent geschrumpft sein. Hier nimmt man an, daß sie Krankheiten oder der Umweltverschmutzung zum Opfer gefallen sind.

Wer aber von den bereits 15.000 Lesern zu diesen brisanten Fragestellungen neue Daten oder Hinweise erhofft, wird von dem jüngsten Werk zum Bienenleben enttäuscht sein, denn mit keinem Wort werden die zahlreichen Herausforderungen erwähnt, die sich dem kleinsten aller Nutztiere durch die verändernde Umwelt stellen, und schon gar nicht die menschenverursachten Überforderungen, welche zum Beispiel die aus den Vereinigten Staaten bekannte Massen-Imkerei, die Millionen von Bienen in Lastzügen in die Obst- oder Mandelplantagen schafft, mit sich bringt. Fast ein wenig unvermittelt wirkt daher die Mahnung des Autors auf der vorletzten Seite,

ein bienenstummer Frühling ist eine richtige Schreckensvorstellung [...]. Eine nachhaltige Fürsorge für die Bienen [und ihre vielfältigen Funktionen für die Lebensqualität des Menschen, Anm. d. SB-Red.] muß auf einer genauen Kenntnis ihrer Bedürfnisse, aber auch ihrer Probleme und Bedrohungen basieren. [Seite 79]

Und damit weist der Autor schon auf die Notwendigkeit künftiger Forschungsansätze mit unerläßlich neuer Daten- und Wissensproduktion hin, die mit dem Wissensstand in diesem Buch nicht geliefert werden konnten, schade ...

Es könnte aber - und das wäre vielleicht ein Fazit für den Leser dieses Buches - Menschen mit entsprechendem Interesse animieren, selbst einen Beitrag dazu zu leisten, solche Wissenslücken mit eigenen Beobachtungen zu schließen. [2]

Um die Faszination an der Bienenforschung zu nutzen, potentielle Forscher zu rekrutieren, scheint das jüngste Werk des Bienenexperten Tautz prädestiniert zu sein. Sachlich, aber mit unverhohlener Begeisterung werden vor allem alte Schulmeinungen mit dem durch die HOBOS-Meßstation gewonnenen, beständigen Datenfluß [2] neu unterfüttert, dazu früher weniger berücksichtigte oder verworfene Beobachtungen zum Bienenverhalten erneut unter die Lupe genommen und in vier Kapiteln zu korrigierten, aber auch kritisch kommentierten Schlußfolgerungen zusammengefaßt.

Beschrieben wird der von Menschen und Imkern ungestörte Lebenszyklus eines Honigbienenvolks von der Neuentstehung, dem Aufbruch der Schwarmtraube, über das Finden, Besetzen und Ausstaffieren eines neuen Heims, den Wabenbau, die Nestklimatisierung [3], bis hin schließlich zu der Aufgabenteilung und Zusammenarbeit bei der Nahrungsbeschaffung und der Aufzucht des Nachwuchses. Dies geschieht aber - und hierin unterscheidet sich das Konzept des durch Format, Papier (satiniert), Illustrationen und anschauliche Bebilderung in vielem an eine Schulfibel erinnernden Buchs von einer solchen - aus der konsequent neugierigen und völlig undogmatischen Sicht des Bienenforschers.

Statt bisherige Lehrmeinungen mit modernen zu ersetzen, zeigen die geschilderten Experimente und Überlegungen der daran beteiligten Wissenschaftler bis zum Erkenntnisgewinn vor allem auch die Unsicherheit solcher Forschungsansätze auf, die mit aktuelleren Daten oder durch das Setzen anderer Schwerpunkte leicht wieder umgeworfen werden können. Deshalb hält sich der Autor auch mit Kritik zurück, sondern würdigt jede wissenschaftliche Arbeit als ein Puzzleteil, das zur Bienenforschung beigetragen hat, angefangen mit den Altvorderen wie Martin Lindauer und Kal von Frisch. Letzterer war vor allem über Verhaltenstheorien wie den Schwänzeltanz berühmt geworden, der jahrelang als Musterbeispiel der Bienenverständigung galt, bei genauerer Betrachtung und unter experimenteller Überprüfung an der Biene aber buchstäblich "ins Leere" führt. Er darf aber weiterhin, in entzauberter Form, als einer von vielen Bestandteilen der Bienenkommunikation gelten.

Indem der Leser praktisch in den Fußstapfen der Bienenforscher auch die krummen Forschungs- oder Holzwege nachvollzieht, die durch eine bevorzugte Sichtweise, Erwartungshaltung oder interpretative Übersetzungen eingeleitet wurden [4], bleibt auch Raum für eigene Gedanken: Inwieweit stellten vielleicht die früheren Vorstellungen von Staat und Gesellschaft die Scheuklappen der Forscher dar, mit denen sie einen einzigen Befehls- oder Kommunikations-Codex à la Schwänzeltanz für unabdingbar in der hierarchischen Struktur hielten? Und inwieweit gibt nicht auch das mit vielen Details, zum Beispiel den ständigen Abgleich von akustischen, mechanischen oder anderen Reizen (wie "Piep"töne, Brauseflüge, Duftspuren, Wärme, Vibration) überarbeitete Bild der Bienenkommunikation, teilweise aus dem bien-nären Code der HOBOS-Meßstation mit Rechneraufwand generiert, nur eine Projektion unserer eigenen vernetzten Gesellschaft wieder? Ob sich das Konzept des Bienenvolks als Superorganismus [5], der mehr ist als die Summe seiner einzelnen lebendigen Teile, auch noch in künftigen Gesellschaftsformen halten kann, wird die Zukunft ebenso zeigen, wie mögliche Hindernisse, die den Blick des heutigen Bienenforschers verstellen. Manche scheinbar sinnlose Beobachtungen oder noch offene Fragen könnten dann vielleicht zu neuen Interpretationen führen: Was beispielsweise veranlaßt den Superorganismus dazu, sich spontan aufzuheizen, um "ungeschlechtlich" einen Nachkommen (die Schwarmtraube) zu erzeugen oder nur mit einzelnen Bienenkörpern über Stunden scheinbar unbewegte Netze zu bilden? Warum verliert der Bienenstock viel mehr Gewicht, als die Summe der Bienen, die ihn beim Schwarmausbruch verlassen haben? Oder könnte der Mensch manche nachhaltigen Konzepte des Bienenalltags, etwa das Temperaturmangement [5], auf den eigenen Umgang mit Energie übertragen?

Damit seien nur einige der vielen Fragen genannt, die direkt oder indirekt im Buch von Jürgen Tautz aufgeworfen werden und die seiner Ansicht nach offensichtlich nur durch den bereits von HOBOS eingeschlagenen, technologischen Weg der Datenerfassung zu beantworten sind.

In seinem Ausblick für die Bienenforschung wünscht er sich vor allem die Weiterentwicklung "wertvoller Werkzeuge" wie die Radar-Verfolgung fliegender Bienen und zwar mehrerer Tiere gleichzeitig. Um der erdrückenden Komplexität kompletter Bienenvölker (der Biens) gerecht zu werden, müßten neue Methoden entwickelt werden, die es erlauben, noch tiefer in die biologischen Details einer Bienenkolonie einzudringen und dort gleichzeitig Tausende von Bienen zu erfassen. Dazu fehlten noch Instrumente oder apparative Möglichkeiten, die - wie analoge Verfahren aus der Medizin (Computer Tomographie (CT) oder Positronen-Emissions-Tomographie (PET)) am menschlichen oder tierischen Organismus - auch den Superorganismus durchleuchteten.

Doch wie sähe das in der Praxis aus? Denn die äußerlich an Science fiction erinnernden "Borgimplantate" [6] bzw. elektronischen Instrumentchen, die Bienen auf den Rücken appliziert werden (siehe S. 64 und S.71 des Buches), um ein Tier mittels Harmonischen Radars zu verfolgen oder elektronisch "lesen" zu können, scheinen den unfallfreien, natürlichen Flug doch extrem in Frage zu stellen und ebenso die Daten, die damit gewonnen werden. Denn teilweise überragen zum Beispiel diese antennenartigen Transponder das Tier. Zudem weiß schon die Medizin, daß auch die genaueste Analyse oder Diagnose der Körperzusammenhänge noch keine Heilung gewährt, wenn ein Organismus zum Beispiel an Krebs erkrankt ist.

"Welche Methoden wir auch immer weiterentwickeln, auf welchem Weg wir auch immer neue Daten generieren - die Bienenforschung ist ein zutiefst spannendes und für uns wichtiges Feld.", schließt Jürgen Tautz sein Buch und ergänzt: "Jedes neue Wissen hilft uns, mehr über ein Wesen zu erfahren, von dem wir in hohem Maße abhängig sind - die Biene."

Indirekt und im positivsten Sinne werden dadurch vielleicht noch die fraglichen technologischen Ambitionen weit weniger übergriffigen Methoden geöffnet, die allerdings erst noch entworfen und mit Leben gefüllt werden müßten. Etwa wenn sich die Leser dieses Buches analog zum Bienenleben weitläufig zu etwas anderem als Forscherindividuen entwickeln würden, und zu etwas, das dann vielleicht mehr wäre, als nur viele aufmerksame, auf Natur- und Umwelt Achtende zusammengenommen: "Wir sind Bien-enforscher!"


Anmerkungen:

[1] Ein kostenloses Exemplar läßt sich über diese Internet-Adresse bestellen:
http://www.audi-umweltstiftung.de/auws/brand/de/projektuebersicht/Die_Erforschung_der_Bienenwelt.html

[2] HOBOS ist eine Plattform, die jeden Nutzer zu einem Bienenforscher machen soll. Seit 2006 baut Jürgen Tautz das Non-Profit-Projekt HOBOS (HOneyBee Online Studies) als ein interaktives Forschungs- und Schulkonzept auf: Weltweit können nicht nur Wissenschaftler, sondern jeder am Bienenleben interessierte Mensch über das Internet das Innenleben eines Bienenstocks sowie zahlreiche Umwelt-Meßwerte und Wetterdaten aus der Umgebung live über die Lernplattform www.hobos.de verfolgen. Ein speziell konstruierter Bienenstock mit Kameras, Sensoren und Meßgeräten ermöglicht die Beobachtung eines Bienenvolkes und den Onlinezugriff auf Daten.
Siehe auch:
http://www.hobos.de/de/studenten-wissenschaftler.html

Weitere Einzelheiten über die Forschungsstationen in Bad Schwartau und Würzburg siehe auch:
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0092.html

[3] Die "Zentralheizung" des Bienennestes basiert beispielsweise im Wesentlichen auf der Fähigkeit jeder einzelnen Biene, durch Zittern mit der Flugmuskulatur Wärme bis zu 44 Grad Celsius zu erzeugen. Die wird jedoch nicht nur zum Aufrechterhalten der Temperatur im Nest genutzt. Sie wird benötigt, um Waben zu bauen, Honig einzudicken oder auch Eindringlinge zu töten. Dem Wärmen der eigenen Puppen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Eine Biene kann durch ausgefeilte "Technik" bis zu 35 Puppen wärmen.

[4] Hier gefiel dem Referenten der gelungene Kniff des Pragmatikers, die Anmerkungen des Verfassers statt in Fußnoten, die ja gewöhnlich keiner liest, kurzerhand einfach in eckige Klammern in die Originalzitate zu setzen. Beispielsweise kritisiert Jürgen Tautz auf Seite 74, daß in der jüngeren Literatur zum Bienentanz nur eine Angabe der Arbeit von Maurice Maeterlinck in der Doktorarbeit von James L. Gould (Gould 1975), und dann unrichtig, wiedergegeben wird, was das eigentliche Ergebnis ins Gegenteil verkehrt, so:

Gould schreibt auf Seite 4 seiner Dissertation: "Maeterlinck (1901) tested this explanation [es geht dabei um die Vorstellung von Aristoteles, dass Neulinge den erfahrenen Bienen vom Stock zum Ziel einfach nur hinterherfliegen, der Verf.] by letting a forager find the food and return to the hive [es war nicht nur eine, sondern es waren zwanzig verschiedene Bienen, die alle als markierte Sammelbienen eingesetzt wurden, der Verf.]. Then he caught the forager on its way back out of the hive. Even though recruited bees had no forager to follow, some of them [Es waren nicht einige, es war eine Biene, die in der Summe sämtlicher Versuche am Futterplatz im Zimmer von Herrn Maeterlinck ankam, der Verf.] nevertheless found the food."
(Jürgen Tautz, Die Erforschung der Bienenwelt, Klett MINT 2015, S.74)

Die stillschweigende Voraussetzung entsprechender Englischkenntnisse erschwert jedoch manchen Lesern möglicherweise den Nachvollzug des Problems.

[5] Richtunggebend für den aktuellen Stand der Bienenforschung und grundlegend für das vorliegende Buch ist das Konzept eines Superorganismus, in dem viele kleine Organismen (Bienen) zu komplexen Funktionseinheiten und schließlich zu einem lebenden Ganzen vernetzt sind: der Bien!
Weitere Erläuterung dazu finden Sie z.B. in einem Schattenblick-Interview mit Prof. Jürgen Tautz, anläßlich der neu eingerichteten HOBOS-Station in Bad Schwartau:
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0168.html

[6] Die "Borg" sind ein fiktives Volk aus der Science fiction-Serie "Star Trek", das in einigen Details Anlehnung an den Bienenstaat nimmt. Die drahtlose Datenvermittlung bzw. Vernetzung der einzelnen assimilierten Borg-Drohnen und das dadurch gewonnene, kollektive "Hive-Bewußtsein" gehen hier allerdings auf mechanische Implantate und Nano- bzw. Computertechnologie zurück.

6. März 2015


Prof. Dr. Jürgen Tautz, HOBOS-Team, Universität Würzburg
Die Erforschung der Bienenwelt
Neue Daten - neues Wissen
Eine Zusammenarbeit der Audi Stiftung für Umwelt GmbH, Ingolstadt
und der Klett MINT Verlags-GmbH, Stuttgart, 1. Auflage 2015
80 Seiten / kostenfrei
Ohne ISBN
Bestellung [1] nur per E-Mail:
bestellung@audi-stiftung-fuer-umwelt.de


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