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REZENSION/645: Gregor Kritidis - Griechenland - auf dem Weg in den Maßnahmestaat? (SB)


Gregor Kritidis


Griechenland - auf dem Weg in den Maßnahmestaat?

Autoritäre Krisenpolitik und demokratischer Widerstand



Läßt man die Ereignisse der Jahre 2011 und 2012 Revue passieren, als der Widerstand auf den Straßen Griechenlands gegen die Memorandumspolitik der Troika hohe Wogen schlug, die Lohnabhängigenklasse mit einer ganzen Serie von Generalstreiks die Machtprobe wagte und die Besetzung der Plätze frische Blüten basisdemokratischen Aufbegehrens trieb, dann könnte die Tristesse des Herbstes 2015 kaum trüber sein. Das dritte Memorandum der Gläubigerinstitutionen wurde gegen das Nein einer Bevölkerung durchgesetzt, die ihre Hoffnung in eine Regierung setzte, die nach dem spektakulären Wahlsieg vom 25. Januar 2015 Stück für Stück demontiert wurde respektive sich den angeblichen Sachzwängen des Schuldendiktats unterwarf. Die Wiederwahl der Koalitionsregierung aus Syriza und Anel am 20. September 2015 erfolgte denn auch unter gänzlich anderem Vorzeichen.

Wo die Euphorie des Aufbruchs die Linke in ganz Europa erfaßt und Hoffnung auf ein EU-weites Erstarken der gegen neoliberale Austeritätspolitik und imperialistische Staatsräson gerichteten Bewegung geschürt hatte, geben notgedrungene Realpolitik und bescheidene Schadensminderung den Ton des Regierens und seiner parlamentarischen Bestätigung an. Daß die repräsentative Demokratie in Athen all das bestätigt hat, was die herrschaftskritische Parlamentarismuskritik seit jeher vom Widerspruch zwischen der materialistischen Konstitution kapitalistischer Gesellschaften und ihrem liberalen Freiheitsethos mitzuteilen wußte, ist nicht einmal ein schwacher Trost. Genaugenommen verweist die Mißachtung dieser hundertfach bestätigten Lektion im Vorwege des gescheiterten Versuchs, der faktischen Verwaltung des Landes durch die Gläubigerinstitutionen eigene Handlungsfreiheit abzugewinnen, auf das kurze Gedächtnis einer Linken, die der Radikalität ihrer historischen Vordenker mehr mißtraut als dem Versprechen der Herrschenden auf einen gütlichen Ausgang der Misere.

Es lohnt sich mithin auch und gerade heute noch, den Verlauf des Krisenzyklus in Griechenland kritisch zu untersuchen, um im besten Fall aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Als eine der dazu empfehlenswerten Lektüren ist die 2014 erschienene Aufsatzsammlung "Griechenland - auf dem Weg in den Maßnahmestaat?" des Politikwissenschaftlers und Soziologen Gregor Kritidis zu nennen. Den neun zwischen 2007 und 2014 veröffentlichten Artikeln lassen sich Informationen zu den sozialökonomischen wie kulturellen Grundlagen des Kampfes der griechischen Bevölkerung gegen das Diktat der Troika entnehmen, die in den Veröffentlichungen der bürgerlichen Presse meist fehlen und in linken Kreisen je nach politischer Doktrin verabsolutiert oder ignoriert werden.

Das betrifft insbesondere das angespannte Verhältnis zwischen anarchistischen und autonomen Bewegungen auf der einen und der marxistischen und parteikommunistischen Linken auf der anderen Seite. Den großen Zulauf, den sozialrevolutionäre Gruppen anarchistischen Zuschnitts in den letzten Jahren hatten, erklärt Kritidis mit dem klientelistischen Charakter griechischer Staatlichkeit, von der auch die sozialistische Pasok im wortwörtlichen Sinne profitierte. Je mehr sich deren Hegemonie aus den Pfründen staatlicher Ausgabenpolitik und bürokratischer Existenzsicherung speiste, desto stärker radikalisierte sich eine zusehends perspektivlos gewordene Jugend gegen eine sozialdemokratische Elite, die längst in die Positionen jener herrschenden Klasse aufgestiegen war, die sie zur Zeit des Obristenregimes entschieden bekämpfte. Doch auch die revolutionären Kommunisten der KKE stellten für die anarchistische Jugend Teil des Establishments dar, was bis zu erbitterten Straßenkämpfen zwischen diesen beiden Fraktionen der radikalen Linken eskalierte.

Für Kritidis stellt diese Spaltung den größten Triumph des autoritären Maßnahmestaates dar, der sich wie alle Regierungen der westlichen Welt des Terrorismusverdachtes bedient, um die linksradikale Opposition mundtot und handlungsunfähig zu machen. Ein wichtiger Impuls für das Anwachsen sozialrevolutionärer Militanz fand am 6. Dezember 2008 statt, als der 15jährige Schüler Alexandros Grigoropoulos von einem Polizisten niedergestreckt wurde. "Der politische, soziale und kulturelle Bankrott der griechischen Gesellschaft wurde in all seinen Dimensionen sichtbar" (S. 70), kommentiert der Autor die Wirkung der daraufhin einsetzenden aufstandsartigen Bewegung. Sie mündet "in die Geburt einer neuen Ordnung, deren Durchsetzung noch ungewiss ist", als am 25. Mai 2011 "Hunderttausende auf den zentralen Plätzen der griechischen Städte zusammenströmten und forderten, die gesamte politische Klasse solle verschwinden" (S. 70).

Die zwischen diesen Daten liegende Offenlegung des Standes der griechischen Staatsverschuldung und die Unterzeichnung des ersten Kreditvertrags mit den Ländern der Eurozone und dem IWF im Mai 2010 hatte ein Ausmaß an Souveränitätsverlusten für Staat und Bevölkerung zur Folge, das eine neue Qualität quasikolonialistischer Machtübernahme innerhalb der EU in Erscheinung treten ließ. Kritidis schildert die Bedingungen dieser legalistischen Okkupation anhand vieler wissenswerter staats- und vertragsrechtlicher Details, wobei er die aus der neoliberalen Wachstumsdoktrin resultierenden Leistungsbilanzüberschüsse zentraleuropäischer Staaten und die exorbitanten Investitionen öffentlicher Mittel in die Infrastruktur und militärische Rüstung des Landes als ökonomischen Kern der Krise ausmacht.

Das Scheitern Syrizas im Sinne des Anspruchs, an den Schalthebeln der Macht emanzipatorische Politik umfassend umzusetzen, hat der Debatte um die eigene Positionierung zur EU in der bundesrepublikanischen Linken neuen Auftrieb verschafft. Kritidis gesteht 2012 zwar den riskanten Charakter eines Austritts Griechenlands aus der Eurozone zu, gibt aber zu bedenken:

"Die wesentlichen Argumente - Zusammenbruch der staatlichen Infrastruktur, des staatlichen Sektors und der Rentenkassen, weitere Lohnsenkungen, Verteuerung der Importe, Kapitalflucht etc. - verlieren jedoch an Gewicht, je mehr dieser Zustand in Folge der Politik der Troika eintritt. (...) Ein Sturz der Regierung ist dabei die Voraussetzung für ein Ausscheiden aus der Eurozone sowie der EU, um den notwendigen politischen Bewegungspielraum für eine andere Wirtschafts-, Lohn- und Sozialpolitik zu bekommen. Da dies kaum bei den gegebenen Kräfteverhältnissen in der EU möglich ist, gehen die Überlegungen dahin, Bündnispartner in den anderen Staaten der europäischen Peripherie zu gewinnen." (S. 96)  

Diese Strategie ist bisher nicht aufgegangen, obwohl die prekarisierten Bevölkerungen rund um das Mittelmeer 2011 den Aufstand wagten. Der Rollback war fürchterlich - die pogromartige Restauration der militärisch dominierten Staatsgewalt in Ägypten, die bis heute andauernde Zerschlagung der Gesellschaft Libyens unter aktiver Beteiligung der NATO, die Korrumpierung der syrischen Demokratiebewegung durch reaktionäre, von NATO-Staaten teilweise unterstützte Gewaltakteure, die wiedererstarkte Hegemonie bürgerlicher Kräfte in den südeuropäischen Krisenstaaten, Xenophobie, Nationalismus und Neofaschismus auf breiter Front im Vormarsch.

Für Griechenland diagnostiziert Kritidis im jüngsten Beitrag des Sammelbandes aus dem Jahr 2014, der sich mit der Entwicklung des Landes zum "postdemokratischen Maßnahmestaat" auseinandersetzt, einen gesellschaftlichen Abwärtstrend in Richtung auf eine negative, den sozialdarwinistischen Überlebenskampf an die Stelle einer solidarischen Überwindung kapitalistischer Herrschaft setzende Partizipation. Die Politik der "inneren Abwertung", also der drastischen Senkung der Masseneinkommen durch diverse fiskalische und administrative Maßnahmen, wäre ohne das Bündnis "zwischen den Gläubigern und ihren Vertretern einerseits und der griechischen Oberschicht sowie ihren politischen Repräsentanten andererseits" (S. 131f.) nicht durchsetzbar. Da keine griechische Regierung Interesse daran habe, "die soziopolitischen Netzwerke, auf denen ihre Macht beruht, ernsthaft zu gefährden", seien keine Reformen umsetzbar, "die zentrale Interessen der griechischen Oberschicht berühren". Das bedeute jedoch, "dass die traditionellen Formen der politischen Herrschaft, insbesondere der ausgeprägte Klientelismus, nicht beseitigt sondern im Gegenteil noch befestigt werden. Denn mit zunehmender Verarmung nimmt die soziale Abhängigkeit der ums Überleben kämpfenden Bevölkerung zu, sodass Formen der Vorteilsgewährung und -nahme einen besonders guten Nährboden finden" (S. 132).

Kritidis spricht einen zentralen Mechanismus systematischer Herrschaftsicherung an, an dessen Wirkmächtigkeit die erste Amtszeit Syrizas nichts geändert zu haben scheint. Ob die Partei nun erpreßt und im Sinne eines Putsches überwältigt wurde, wie Syriza wohlgesonnene Kommentatoren meinen, oder sich ohne wirkliche Not unterworfen hat, wie die Vertreter ihres ausgeschiedenen linken Flügels meinen, so fördert diese Bilanz eine Schwäche der Linken aller westlichen Metropolengesellschaften zutage.

Die massenhafte soziale Verelendung der Bevölkerung ist kein bloßer Kollateralschaden neoliberalen Krisenmanagements, sondern entspricht der repressiven Logik des Teilens und Herrschens, die der administrativen Mangelverwaltung ebensosehr immanent ist, wie sie von ihr produziert wird. Daß der furiose Aufbruch Syrizas diesen Herrschaftsmechanismus trotz aller damit erstarkten Formen solidarischer Selbstorganisation und kollektiver Bewältigung nicht außer Kraft setzte und ihn nicht einmal offen als Bedrohung der eigenen Agenda diskutierte, kann aus heutiger Sicht wohl als Ergebnis reformistischer Zaghaftigkeit und elitären Partizipationsinteresses verstanden werden. Unterhalb des Bruches mit der Verfügungsgewalt der EU und der Gläubiger dürfte auch in Zukunft kein Neuanfang möglich sein, der bei aller Wertschätzung der von Kritidis geschilderten Projekte kommunaler und lokaler Selbsthilfe nicht durch ein Herrschaftsinteresse umkehrbar wäre, das der Teilbarkeit der Menschen ebenso bedarf wie des geldförmigen Tauschwertes, der ihre Arbeit, ihre natürlichen Ressourcen und sogar ihre Wünsche und Hoffnungen kommodifizierbar macht.

8. Oktober 2015


Gregor Kritidis
Griechenland - auf dem Weg in den Maßnahmestaat?
Autoritäre Krisenpolitik und demokratischer Widerstand
Offizin-Verlag, Hannover
148 Seiten, 15 Euro
ISBN: 9783945447024


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