Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH


REZENSION/700: Dr. Karsten Müller, Claus Dieter Meyer - Magie der Schachtaktik (SB)


Dr. Karsten Müller/Claus Dieter Meyer


Magie der Schachtaktik

Intuition, Fantasie & Präzision



Das Grundmotiv einer Schachpartie ist der Abtausch. Nur so lassen sich überhaupt positionelle Vorteile, seien sie statischer oder dynamischer Art, für die eigene Seite und gegen den Kontrahenten erzielen. Was nach einer simplen Selbstverständlichkeit klingt, die des Aufhebens von Worten, Gedanken und Reflexionen nicht zu bedürfen scheint, wird, in den Zement einer Fragestellung gegossen, zu einer ernsten Auseinandersetzung um Denkprozesse, die weit über die allgemeinen Auffassungen von Spiel und Logik hinausreichen. Strategie und Taktik, Grenzgänge von kombinatorischer Genialität, die das Schachherz höher schlagen lassen, oder die leidenschaftlich verfolgte, zumeist jedoch unerfüllt bleibende Partie aus einem Guß sind den operativen Abtauschvorgängen auf dem Brett stets nachgeordnet. Hingegen stellen Pläne, Manöver und die in letzter Konsequenz auf Perspektive beruhende, zudem durch Turnierbedingungen und Zeitkontrollen stark eingeschränkte Fähigkeit zur Vorausberechnung von Zugfolgen den Versuch dar, die Unendlichkeit mathematischer Fiktionen wieder auf ein greifbares Maß einzugrenzen. Unabhängig von der Komplexität strategischer Methoden zur Vorteilsgewinnung wird Schach in erster Linie durch Abtausch gespielt. Der russische Großmeister und Weltmeister von 1948-1957, 1958-1960 und 1961-1963 Michail Botwinnik hat dazu in seinem Werk "Algorithmus im Schach" ein ernüchterndes Resümee gezogen: "Meiner Meinung nach besteht das Wesen einer Schachpartie ganz allgemein aus Abtausch. Dieser allgemeine Abtausch bezweckt einen relativen Gewinn von materiellen oder positionellen Werten. Andere Ziele gibt es nicht, kann es nicht geben." (S. 210)

In der Schachliteratur hat es sich eingebürgert, von Transformationen bzw. kritischen Momenten zu sprechen, wenn sich eine Stellung derart einschneidend verändert, daß der "Charakter des Kampfes, der Pläne und Ideen eine neue Richtung" (S.210) erhält, also die Taktik das Brettgeschehen maßgeblich bestimmt. Doch wie erkennt man als Schachspieler dieses besondere Moment, wo doch im Dickicht entufernder Möglichkeiten praktisch jeder Zug mit taktischen Elementen oder Motiven verknüpfbar ist? Wie erwirbt man sich taktisches Wissen, das mehr ist als ein Repertoire auswendig gelernter Schlüsselkombinationen?

Claus Dieter Meyer und Karsten Müller haben mit "Magie der Schachtaktik" ein Studienbuch herausgegeben, das sich an fortgeschrittene Spieler richtet, die ihre Fertigkeiten im Turnierschach verbessern und auf diesem Feld Erfolge feiern wollen. So soll anhand ausgewählter Beispiele und Übungen und vor allem durch, wie der Untertitel verrät, "Intuition, Fantasie & Präzision" das Terrain zum Erkennen transformativer Momente begehbar gemacht werden. Gleichwohl machen die Autoren keinen Hehl daraus, keineswegs als Vermittler eines fundamentalen Taktikwissens aufzutreten. Wozu dann ein Buch mit einem didaktischen Anliegen verfassen? fragt man sich unwillkürlich und glaubt sich im ersten Augenblick verschaukelt.

Davon kann in keinster Weise die Rede sein. Der Sachverhalt ist ein anderer. Meyer und Müller sind sich durchaus der Schwierigkeit bewußt, für Novizen als auch Fortgeschrittene in der Kunst in Buchform zu binden, was im Grunde jahrelanges Studium erfordert. Meisterschaft fällt nicht vom Himmel, sie ist weder eine Gabe noch ein Geschenk der Musen, sondern wird erstritten und erkämpft auf dem steinigen Pfad mühsamer Fehlerkorrektur. Papageien plappern nach, um die Arbeit kommt man nicht herum. Daher wäre es fahrlässig und in der Sache nicht zielführend, lediglich eine Art taktisches Grundwissen mit dem Anspruch der Abrufbarkeit vermitteln zu wollen. Denn dazu müßte man notwendigerweise mit Faustregeln und Lehrsätzen operieren, deren hoher Grad an Abstraktion, eben weil sich der spezifische Charakter kombinatorischer Positionen nicht auf die allgemeingültigen Maße einer Merkformel herunterbrechen läßt, niemals 1:1 auf die Komplexität taktisch-affiner Stellungen zu übertragen ist. Die Folge wäre ein Lernschritt ins Leere, Verwirrung statt Verständnis würde die Oberhand gewinnen, als ob man jemandem einen Pinsel in die Hand drückt und sagt, nun hast du alles, was du brauchst, um eine Mona Lisa zu malen. Der Reinfall wäre vorprogrammiert.

In Meisterpartien schlummert die Quintessenz taktischer Überlegungen, doch die einzelnen Züge selber geben keine Anleitung dazu her. Was ein Meister denkt, was er verwirft und für tauglich erachtet, bleibt in der reinen Notation verborgen. Um diese Hürde zu nehmen und zugleich für eine größtmögliche Annäherung zu sorgen, die es dem Leser und Liebhaber der Schachkunst erlaubt, aus beispielhaften Proben taktischer Versiertheit einen Gewinn für sich selber zu ziehen, ist daher ein Kompromiß vonnöten. Dieses probate Mittel, dem Lernen aufs engste verwandt, ist die Analyse. Wird sie gewissenhaft und in einer systematischen Spurenlese vorgenommen, kann der Zaun andachtsvoller Bewunderung gegenüber den Königen der Taktik heruntergerissen und aus dem Staunen des Publikums ein Nutzwert generiert werden.

Den Autoren ist es auf bemerkenswert plausible und zugängliche Weise gelungen, die Entscheidungen der Großmeister auf dem Brett analytisch fundiert darzustellen und weit über das Dokumentieren von Lösungswegen hinaus näherzubringen, was sie dazu veranlaßt hat und ihrer Intuition Nahrung gab. Gerade dieser Punkt ist wichtig, denn oftmals gestaltet sich der Kampf am Brett nicht in den kalkulierbaren Bahnen eines Anfangs und Endes. Viele Seitenwege und Alternativen müssen mitberücksichtigt werden, wozu die Zeit unter dem Turnierreglement in der Regel fehlt. Intuition ist daher mehr als ein bloßes Gefühl oder mutig ins Dunkel zu schreiten, sondern basiert auf der Summe von Erfahrungen und den logischen Voraussetzungen, die einem bestimmten Stellungstyp eigen sind.

Der Blick für taktische Feinheiten wird in der Heimanalyse erworben und am Turnierbrett dann vollzogen. Von daher ist es fundamental wichtig und lehrreich, daß die Autoren insbesondere dem analytischen Teil in ihrem Buch einen hohen Stellenwert einräumen und quasi assistierend und begleitend auch ausgedehnte Exkursionen zu den Nebenvarianten einer Kombination unternehmen. So erschließt sich dem Leser ein taktischer Gesamteindruck, und er begreift, daß Pointen und Schlüsselzüge nicht selten erst nach dem Ausbruch der Kampfhandlungen gefunden werden. Zehn Züge vorauszudenken ist angesichts der verwirrenden Fülle an Verwicklungen kaum möglich, aber den jeweils nächsten besten Zug zu finden, der einer taktischen Idee zugrunde liegt, schon. Den Leser auf dem Wege der Analyse dahin zu führen, daß sein Blick sich sowohl für konkrete Details schärft als auch die Umrisse transformativer Verdichtungen erkennt, macht die eigentümliche Magie dieses Buches aus.

Dabei spielt auch die Reihenfolge der Kapitel eine wichtige Rolle. Daß mit Dame und Springer im Angriff, gefolgt vom Springer im Angriff begonnen wird, sodann der Angriff mit ungleichfarbigen Läufern und Fesselungsvariationen zur Anwendung kommen, macht durchaus Sinn, zumal Dame und Springer ein schlagfertiges Duo bilden und Königsangriffen oft die nötige Sprengkraft verleihen. Überhaupt ist der Springer aufgrund seiner speziellen Gangart bestens dafür geeignet, auf engem Raum überraschende taktische Pointen zu kreieren. Bei ungleichen Läufern wiederum kann die Dominanz einer Läuferfarbe in Verbindung mit Felderschwächen im gegnerischen Lager taktischen Wendungen Vorschub leisten. Auch das Motiv der Fesselung dient häufig als Drehscheibe kombinatorischer Überfälle.

Im Anschluß an die taktischen Finessen von Springer und Läufer ist das 5. Kapitel den Weltmeistern Alexander Aljechin, Michail Tal, Garri Kasparow, Viswanathan Anand und Magnus Carlsen gewidmet, die in puncto Angriffstechniken Maßstäbe setzten. Das Studium ihrer Partien ist für das Taktiktraining von besonderem Wert und geradezu unverzichtbar, wenn man die Kombinationskunst durchdringen will und Inspiration sucht. Das Schlußkapitel Transformationen & Abtäusche stellt sich der schwierigsten Aufgabe, nicht nur, weil es schwer zu greifen, sondern in der Fachliteratur bislang viel zu wenig behandelt worden ist. Hierzu haben die Autoren ein paar grundlegende Gedanken zur Thematik der Stellungstransformationen vorgelegt und ihre Bedeutung analytisch vertieft, auch mit Blick auf die zweckmäßige Abwicklung und das Streben nach statischer Kontrolle bzw. Dynamik. Jedem Kapitel sind Trainingsaufgaben zum behandelten Thema gewidmet, um die gewonnenen Erkentnisse und Einsichten sogleich einem Praxistest zu unterziehen. Der Lösungsteil findet sich am Ende des Buches.

Sicherlich ist es für einen Schachspieler, der die Züge auf dem Brett und die Konzeption einer Partie als Ausdruck von Aktion und Reaktion versteht, gewissermaßen auf der Suche nach einer richtigen Antwort auf sich wandelnde Prozesse ist, nicht leicht, den Boden vertrauter Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu verlassen. Stellungskomponenten wie Figurenspiel und die Beurteilung von Bauernstrukturen sind indes nur Aspekte einer wesentlich weiter greifenden Transformationsdynamik, deren beiläufiges Ergebnis durchaus auch taktische Manöver sein können. Die Taktik ist einer von vielen Schlüsseln dazu, die Gesamtkomposition strategischer Ziele und Abtäusche in ein Bild zu transformieren, das wir gewohnt sind, als Schachpartie zu begreifen. An den Rändern der strukturellen Auseinandersetzung, die Meyer und Müller in ihrem Werk pionierhaft betreiben, zeichnen sich indes die Aufwirbelungen von Fragen ab, die unserem Verständnis vom Schach möglicherweise eine neue Richtung geben. Schon dieser Spur zu folgen macht das Buch lesenswert, spornt und inspiriert den forschenden Geist und schärft den Blick für den weiten Horizont taktischer Möglichkeiten.

Die Autoren haben bei ihrer Arbeit zurückgegriffen auf "The Magic of Chess Tactics" (Russell Enterprises/2002), die ChessBase DVD "Magic of Chess Tactics - revised and enlarged" (2009) und "Magic of Chess Tactics 2", das in Buchform 2017 ebenfalls bei Russell Enterprises erschienen ist. Die gebundene Ausgabe von "Magie der Schachtaktik" in deutscher Sprache stellt jedoch eine wesentliche Erweiterung des Stoffes und der inhaltlichen Konzentrierung der Themen unter Einbeziehung eines reichhaltigen Fundus an Partien und Fragmenten dar, die den aktuellen Stand in der modernen Turnierpraxis sicherstellen.

Claus Dieter Meyer ist FIDE-Meister und ein bekannter Autor und Schachtrainer und steht seit vielen Jahren hauptamtlich in den Diensten des SV Werder Bremen. Großmeister Dr. Karsten Müller vertrat den Hamburger Schachklub von 1988 bis 2015 in der Schachbundesliga. Er gilt international als einer der führenden Endspielexperten und wurde 2007 vom Deutschen Schachbund als "Trainer des Jahres" ausgezeichnet. Mit diversen Schachbüchern hat er sich weit über die Grenzen der BRD hinaus den Ruf eines kompetenten Autors erworben.

5. September 2018


Dr. Karsten Müller/Claus Dieter Meyer
Magie der Schachtaktik
Intuition, Fantasie & Präzision
Joachim Beyer Verlag 2018
328 Seiten, 29,80 EUR
ISBN: 978-3-95920-072-1


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang