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REZENSION/709: Moddi - Verbotene Lieder (SB)


Moddi


Verbotene Lieder

10 Geschichten von 5 Kontinenten



"Unpersons" wurden Menschen in George Orwells Roman "1984" genannt, deren Erinnerungsspuren in den Archiven und Annalen seines dystopischen Gesellschaftsentwurfes so gründlich getilgt worden waren, daß es war, als hätten sie nie existiert. Orwells Kritik an der Praxis des nicht nur physischen, sondern auch kognitiven Auslöschens ganzer Existenzen in totalitären Staaten hat der norwegische Musiker Moddi aufgegriffen, um der Unterdrückung politisch mißliebiger Lieder dadurch entgegenzutreten, daß er eine Auswahl aus dem großen Repertoire zensierter Musik neu einspielte. 12 dieser Songs hat er auf dem 2016 veröffentlichten Album "Unsongs" versammelt, um aus der Absicht, ihre Worte und Klänge unhörbar zu machen, neues Interesse erstehen zu lassen.

Damit nicht genug, besuchte der engagierte SingerSongwriter die UrheberInnen dieser Musik und ZeitzeugInnen, die an ihrer Entstehung teilhatten, in aller Welt. Was er dabei erlebte und über die Umstände der Zensur herausfand, schrieb er für ein Buchprojekt auf, das 2017 auf norwegisch unter dem Titel "Forbudte Sanger" veröffentlicht wurde. Seit März 2019 in der Edition Nautilus auf deutsch erhältlich und im Rahmen einer Konzerttournee durch die Bundesrepublik vorgestellt, kann nicht nur das an politischer Musik interessierte Publikum in "Verbotene Lieder" in Erfahrung bringen, wie schlecht es um die Freiheit der Kunst gerade dann bestellt ist, wenn Wort und Schrift, Ton und Bild Menschen in bedrängter Lage dabei helfen sollten, laut vernehmlich und gut sichtbar über ihre Lage zu berichten und auf diese Weise solidarische Unterstützung zu mobilisieren.

Bei der Auswahl aus der großen Menge verbotener Musik stand Moddi vor dem Problem, nicht nur die politischen Umstände der Zensur berücksichtigen zu müssen, sondern auch die Übersetzbarkeit der jeweiligen Texte ins Englische zu gewährleisten. Dabei stellte er fest, daß Lieder mit gesellschaftskritischer Absicht sich häufig dadurch auszeichnen, im Unterschied zu kryptisch versponnener Popmusik sehr direkt zur Sache zu gehen und den Anlaß des Protestes ebensowenig im Dunkeln zu lassen wie die Notwendigkeit, die beklagten Mißstände zu überwinden. Wäre es nicht so, dann hätten diese Songs vermutlich nicht die Aufmerksamkeit derjenigen geweckt, die über genügend politische Macht und institutionellen Einfluß verfügen, mehr oder minder offen ausgesprochene Aufführungs- und Sendeverbote zu erwirken.

Kein Fürsprecher einer bestimmten politischen Richtung oder Ideologie, um so mehr jedoch Gegner jeglicher Form von Unterdrückung, macht Moddi das Kriterium des Verbotes zur verbindenden Achse der von ihm ausgewählten Beispiele für zensierte Lieder. Dabei ist es nicht von vordringlicher Wichtigkeit, ob das jeweilige Verbot mit körperlicher Gewalt, der Androhung von Haftstrafen oder nur beruflichen Nachteilen erwirkt wurde. Die unterschiedlichen Härtegrade der Repression resultieren in allen Fällen im gleichen Ergebnis - die inkriminierte Musik darf nicht gesendet und häufig auch nicht in Konzerten vorgetragen werden. Die liberale, im Arsenal neoliberaler Sozialkontrolle auch "Nugding" genannte Form einer Verhaltenssteuerung, die stets den falschen Eindruck zu erwecken versucht, der Mensch habe selbst entschieden, dies zu tun und jenes zu lassen, ist zwar weniger brutal als offene Gewalt, kann aber bei denjenigen, die die freundliche Fassade dieser hochentwickelten Form paternalistischen Konsensmanagements durchschauen, vergleichbare Ohnmachtsempfindungen auslösen.

Wenn die britische BBC im Irakkrieg 1991 eine Liste mit 67 Musiktiteln an ihre Redaktionen schickt und nahelegt, diese Songs eher nicht zu spielen, solange der Krieg andauert, dann handelt es sich nicht um ein offizielles Verbot, wie der Sender bekräftigte, als der Vorgang publik wurde. Die Liste "solle lediglich dazu dienen, den Angestellten ihre Arbeit zu erleichtern, damit von vornherein klar war, welche Songs unter gewissen Umständen auf unnötige Widerstände und Wut bei der Hörerschaft stoßen könnten" (S. 184). Natürlich fungierte diese Maßnahme wie ein Verbot, stellt der Autor fest und berichtet, wie die Musikindustrie sich beeilte, den neuen Anforderungen gerecht zu werden, um weiterhin von der BBC gespielt zu werden.

Natürlich hatten Zuwiderhandlungen gegen Sendeauflagen in den unter britischer Beteiligung geführten Irakkriegen 1991 und 2003 zur Folge, daß beherzte JournalistInnen, die den vielbeschworenen Primat der Pressefreiheit beim Worte nahmen und etwa wagten, den manipulativen Charakter der Informationspolitik der britischen Regierung öffentlich zu machen, entlassen wurden. Dafür können viele Gründe geltend gemacht werden, so daß es für den Vorwurf der Zensur keinen faktischen Beweis gibt. Zugleich warb die BBC für die vermeintlich gerechte Sache dieser Kriege, was Moddi zutreffend in dem Satz zusammenfaßt: "Das Signal der BBC war eindeutig: Gegen den Krieg zu protestieren war eine verbotene politische Handlung, während es als neutral einzustufen war, den Krieg zu unterstützen" (S. 183).

So vermittelt die Schilderung dessen, was der Autor beim Ortstermin in London erlebt, als er von der BBC zur Veröffentlichung des Albums "Unsongs" interviewt wird, eine Ahnung davon, daß Orwell seine Inspiration für "1984" nicht nur aus der Sowjetunion unter Stalin bezogen haben dürfte, sondern auch im eigenen Land mit subtilen, nichtsdestotrotz wirksamen Formen von politisch manipulativer Gesinnungskontrolle konfrontiert war. Wenn Moddi berichtet, welche Bedenken ihn daran hindern, im Interview mit der BBC die Zensurpraktiken dieses Senders am Beispiel des von ihm vertonten, während des Irakkrieges 1991 nicht gespielten Songs "Army Dreamers" von Kate Bush anzusprechen, dann macht er die Auswirkungen indirekt erteilter Verbotsauflagen auf ganz persönliche Weise nachvollziehbar.

Der über die Geschichte sozialer Widerstandsbewegungen aufklärende wie die individuellen Umstände des Musikmachens unter repressiven Bedingungen dokumentierende Gehalt seiner Reiseberichte wird gerade dadurch zu einem Lesegenuß, daß der Autor die ihm aus den politischen Verstrickungen seines Projektes erwachsenden Probleme und entstehenden Ängste nicht zum eigenen Vorteil beschönigt. Vielleicht dem eher zurückhaltenden Charakter seiner Auftritte als Liedermacher gemäß ist die Subjektivität seines Erlebens mit allen Schwächen und Brüchen stets präsent, ohne daß er sich so in den Vordergrund spielt, daß er die Menschen, denen er begegnet, zur Staffage seiner Erzählung degradiert.

Ganz im Gegenteil, gerade durch die ausführliche Schilderung der jeweiligen Kontakte, ihrer Vorgeschichte und Konsequenzen, gewinnen die UrheberInnen der verbotenen Lieder wie die MusikerInnen, die von bereits verstorbenen KollegInnen berichten, an Authentizität und Eigenständigkeit. So nähert sich Moddi dem Vermächtnis des chilenischen Liedermachers Victor Jara mit großem, fast ehrfurchtsvollen Respekt angesichts dessen, wofür dieser revolutionäre Sänger stand. Von der Militärjunta unter General Pinochet ermordet wie so viele andere Oppositionelle hat er in Chile und Lateinamerika bis heute einen legendären Ruf. Indem Moddi die Sporthalle besucht, in der chilenische Oppositionelle nach dem Putsch am 11. September 1973 eingesperrt, gefoltert und ermordet wurden und wo Victor Jara das letzte Mal lebend gesehen wurde, läßt er ein bedeutsames Kapitel linker Geschichte, dessen Auswirkungen in Lateinamerika bis heute virulent sind, aus ganz subjektiver Sicht wiederauferstehen.

Zu den dramatischen Höhepunkten des Buches gehören Moddis Reisen nach Israel und in den Libanon, auf denen er ein ideologisches Minenfeld betritt, das kaum schadlos zu durchqueren ist. Diese Herausforderung, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, das mit dem Streit um eine Einladung zu einem Konzert in Israel und seine Absage durch den norwegischen Musiker eröffnet wird, meistert Moddi letztendlich dadurch, daß er unmißverständlich Position gegen die israelische Besatzungspolitik bezieht und sich darin bei MusikerInnen rückversichert, die mit entsprechender Kritik in Liedform an der Zensur scheiterten. Ein Besuch bei Yehuda Shaul von der besatzungskritischen SoldatInnenorganisation Breaking The Silence, ein Ausflug ins besetzte Hebron und ein Besuch bei dem libanesischen Sänger Marcel Khalife, der unter anderem deshalb zwischen alle Fronten geriet, weil er den palästinensischen Nationaldichter Mahmoud Darwisch vertonte, komplettiert den gelungenen Versuch, diesen komplexen Konflikt mit Hilfe verschiedener Zugänge greifbar zu machen, ohne sich durch den Verzicht auf jegliche Positionierung aus der Affäre zu stehlen.

Für Moddi als norwegischer Staatsbürger besonders bedeutsam ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte der im eigenen Land lebenden Sami, von deren Kultur er zuvor, wie er eingesteht, fast keine Kenntnis hatte. Das Lied "The Shaman and the Thief", das er zusammen mit der samischen Sängerin Mari Boine aufnimmt, dient als Vergrößerungsglas für den Blick auf ein innereuropäisches Kolonialgeschehen, dessen Unterdrückungsgeschichte aufzuarbeiten bis heute in den skandinavischen Ländern, in denen die Siedlungsgebiete der Sami liegen, auf Widerstand stößt.

Als politisch höchst explosiv erwies sich der Versuch, das für das Album "Unsongs" eingespielte Stück "Punk Prayer" in Norwegen mit einem russischen Streichorchester zur Aufführung zu bringen. Was das russische KünstlerInnenkollektiv Pussy Riot 2012 im Rahmen einer Protestaktion in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale absang und drei Aktivistinnen je zwei Jahre Haft einbrachte, hätte die russischen MusikerInnen, wenn es zur Aufführung gekommen wäre, eine Verurteilung durch die Justiz ihres Landes mit einem Strafmaß von bis zu sechs Jahren Haft kosten können. Anstatt dieses Risiko einzugehen, zog es Moddi vor, das Punkgebet vor einer Kirche in Nordnorwegen in Sichtweite der russischen Grenze zu singen und für ein spektakuläres Video aufzuzeichnen.

Die letzte Erzählung, die eines der zehn für das Buch in ihre zeitgeschichtlichen Umstände zurückversetzten Lieder zum Gegenstand hat, dreht sich um einen Protestsong, über den ein eigenes Buch geschrieben werden könnte. Der 1937 von dem weißen jüdischen Lehrer Abel Meeropol verfaßte Text von "Strange Fruit" setzt den häufig an der schwarzen US-Bevölkerung begangenen Lynchmorden ein musikalisches Denkmal von solcher Eindringlichkeit, daß der von Billie Holiday in ihr Bühnenrepertoire aufgenommene Song immer wieder heftige Reaktionen im Publikum provozierte. Als sich wieder einmal das Bild der seltsamen Frucht, die dort im Wind an einem Ast baumelt, als Leiche eines aufgehängten Schwarzen entpuppt, springt eine weiße Frau auf die Bühne, schlägt auf die Sängerin ein und zerreißt ihr Kleid. Sie war als Kind in den Südstaaten ungewollt Zeugin geworden, als ein Schwarzer an einem Baum erhängt wurde, und wollte nicht mehr daran erinnert werden.

Der zum Zeitpunkt ihrer Begegnung 72jährige Musiker, Lehrer und Aktivist Danny Cox, den Moddi in Kansas City besucht, ist mit "Strange Fruit" aufgewachsen und berichtet davon, wie einige dieser Lynchmorde als regelrechte Volksfeste, die wie ein großes Picknick wirkten und bei denen auch Kinder anwesend waren, zelebriert wurden. Er berichtet über das Martyrium des 14jährigen Emmett Till, von dem behauptet wurde, er hätte einer weißen Verkäuferin hinterhergepfiffen. Emmett wurde zusammengeschlagen, kastriert und schließlich in den Kopf geschossen. Keiner der beiden weißen Täter wurde je für den gemeinsam begangenen Mord verurteilt, denn sie genossen den unbedingten Schutz einer rein weißen Jury, die sie trotz erdrückender Beweislast freisprach. Die Mörder prahlten später sogar öffentlich mit ihrer Tat, denn das Verfahren war abgeschlossen und konnte nicht mehr wiedereröffnet werden. Danny war 12 Jahre alt, als Emmett Till ermordet wurde, und dieser Fall bewegt die nach wie vor unterdrückte schwarze Minderheit in den USA, die nur zu 8 Prozent Donald Trump wählte, bis heute. Daß der amtierende US-Präsident eine britische Sängerin zu seiner Inaugurationsfeier einlud, die zur Bedingung machte, dort "Strange Fruit" zu singen, was ihren Auftritt allem Anschein nach verhinderte, kann als so bitterer wie im negativen Sinne zukunftsweisender Ausklang dieses lesenswerten Buches verstanden werden.

25. April 2019


Moddi
Verbotene Lieder
10 Geschichten von 5 Kontinenten
Edition Nautilus, Hamburg 2019
240 Seiten, 20,00 Euro
ISBN: 978-3-96054-188-2


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