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REZENSION/722: Chaos - Charles Manson, the CIA, and the Secret History of the Sixties (SB)


Tom O'Neill


Chaos

Charles Manson, the CIA, and the Secret History of the Sixties



Im Frühjahr 1999 erhielt Tom O'Neill den Auftrag, rechtzeitig zum dreißigsten Jahrestag im August über die bestialische Mordserie der Manson-Familie in Los Angeles, die seinerzeit nicht nur die USA, sondern die ganze westliche Welt zutiefst schockiert hatte, einen ausführlichen Artikel für die Film- und Kulturzeitschrift Premiere zu schreiben. O'Neill hatte sich bis dahin nicht sonderlich für das damalige Treiben des vermeintlichen Sektenführers Charles Manson und seiner Anhänger interessiert. Doch je intensiver der Journalist die Hintergründe des neben dem Attentat auf Präsident John F. Kennedy 1963 spektakulärsten Mordfalls des 20. Jahrhunderts in den USA recherchierte, um so mehr stieß er auf klaffende Lücken und unerklärliche Widersprüche in der gängigen Version des blutigen Geschehens.

Von Neugier gepackt, ging O'Neill den Ereignissen so ausgiebig auf den Grund, daß er die Deadline für seinen ursprünglichen Artikel nicht einhalten konnte. 20 Jahre später, in denen O'Neill akribisch jeder Spur nachgegangen war, zahlreiche Interviews mit den Opfern und Tätern, deren Umfeld, einstigen Verdächtigten, damals mit dem Fall befaßten Reportern sowie mit unzähligen Polizisten und Justizbeamten geführt, größere Mengen bis dahin unbekannten Beweismaterials zutage gefördert und sich dabei um eine halbe Million Dollar verschuldet hatte, liegt mit dem 521seitigen "Chaos - Charles Manson, the CIA, and the Secret History of the Sixties" ein journalistisches Meisterwerk vor, das beiderseits des Atlantiks von den Kritikern zu Recht über den grünen Klee gelobt wird, das gleichzeitig aber auch alles, was die Öffentlichkeit über die Ermordung der hochschwangeren Hollywood-Schauspielerin Sharon Tate und ihrer drei Freunde in den späten Abendstunden des 8. August 1969 bisher zu wissen glaubte, über den Haufen wirft.

O'Neills erster Interviewpartner war der frühere Staatsanwalt von Los Angeles Vincent Bugliosi, der zwischen Juni 1970 und Januar 1971 im Rahmen eines enorm aufwendigen, von der internationalen Presse begleiteten Strafprozesses Manson und drei Mitglieder seiner "Familie" des mehrfachen Mordes überführen konnte. 1974 wurde Bugliosi mit dem Buch "Helter Skelter" über die Mordserie von Manson und Konsorten zum Bestseller-Autor. Allein in Deutschland verkaufte sich sein Buch zehnmillionenmal, Teile davon wurden sogar im Spiegel abgedruckt. 1976 wurde unter demselben Titel die Spielfilmversion der Selbstbeweihräucherung Bugliosis und der Dämonisierung Mansons an den Kinos zum Kassenschlager. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Film "Helter Skelter" des öfteren im Fernsehen gezeigt - nicht zuletzt wegen des vermeintlich pädagogischen Werts, sozusagen um zu unterstreichen, was alles schiefgehen kann, wenn man in jungen Jahren auf die schiefe Bahn gerät und sich allzu exzessiv Drogen und sexuellen Eskapaden hingibt.

Der Begriff "Helter Skelter" bedeutet soviel wie Holterdiepolter und ist der Titel eines Liedes auf dem 1968 von den Beatles veröffentlichten White Album. Beim Prozeß machte Bugliosi den Geschworenen weis, daß Manson aus dem Liedtext der Fab Four die Vorboten eines Rassenkrieges in den USA herausgehört habe, den er durch die Ermordung von Tate und ihren Freunden sowie des Ehepaars LaBianca in der darauffolgenden Nacht provozieren wollte. Angeblich sollte die weiße Bevölkerung Amerikas in der Mordserie die Handschrift der linksradikalen Black-Panther-Bewegung erkennen und deshalb flächendeckend Lynchjustiz an den Schwarzen üben. Aus dem gigantischen Rassengemetzel sollten jedoch die Schwarzen als Sieger hervorgehen, zu deren neuen Herrschern sich Manson und seine Gruppe, die sich solange im Death Valley Nationalpark in der Mojave-Wüste Kaliforniens versteckt halten wollten, aufgrund ihrer intellektuellen Überlegenheit aufschwingen würden.

Im Verlauf seiner Untersuchungen kam O'Neill zu dem Schluß, daß das Helter-Skelter-Narrativ kompletter Unsinn ist. Er erfuhr, daß Bugliosi von Anfang an wußte, daß Manson diesen teuflischen Plan niemals gehegt hatte. Doch der Staatsanwalt benötigte die von ihm selbst ausgedachte Verschwörungstheorie, um Manson, der an keiner der Mordtaten direkt beteiligt war, als Initiator und Auftraggeber lebenslänglich hinter Gitter zu bringen. O'Neill entdeckte zudem zahlreiche Verstöße Bugliosis gegen die Prozeßordnung, darunter Zeugenbeeinflussung und Unterschlagung wichtiger Beweismittel. Mit seinen früheren Machenschaften konfrontiert, drohte der berühmte Vorzeigejurist 2006 dem mittellosen Journalisten mit einer Verleumdungsklage in Millionenhöhe.

Unerklärlich und höchst skandalös erscheint O'Neill der Umstand, daß es genau eine Woche nach dem Blutbad in der Luxusvilla, die Tate mit ihrem Ehemann, dem berühmten polnischen Regisseur Roman Polanski, teilte, auf der heruntergekommenen Spahn Ranch, wo die Manson Family umsonst wohnte, zu der bis dahin größten Polizeirazzia in der Geschichte Kaliforniens kam. In einer sorgfältig geplanten Aktion drangen damals aus fünf Richtungen mehr als 100 schwerbewaffnete Beamte in 35 Streifenwagen und begleitet von zwei Hubschraubern auf das 50 Hektar große Gelände vor, nahmen 27 Erwachsene und sieben Minderjährige fest und stellten sieben gestohlene Autos, ein riesiges, illegales Waffenarsenal sowie jede Menge Drogen sicher. Innerhalb von 24 Stunden kamen jedoch alle Festgenommenen wieder auf freiem Fuß - darunter sogar Manson, obgleich dieser unter Bewährung stand.

Aus Interviews, die O'Neill mit damaligen Ermittlungsbeamten des LAPD führte, geht hervor, daß von höherer Stelle - möglicherweise in Washington - eine schützende Hand über Manson gehalten wurde. Damals herrschte in Los Angeles eine hysterische Stimmung. Besonders die Angehörigen der Film- und Musikindustrie, die bis dahin mit der jugendlichen Gegenkultur sympathisiert hatten, gingen aus Angst auf Distanz. Erst im November wurden Manson und seine Crew verhaftet, nachdem Susan Atkins im Gefängnis gegenüber anderen Festgenommenen mit ihrer Teilnahme an den Tate-LaBianca-Morden geprahlt hatte. O'Neill stieß auf zahlreiche Indizien, die nahelegen, daß die auffallend schonende Behandlung, die dem Kleinkriminellen Manson während seiner Zeit in Los Angeles sowohl vor als auch nach der Mordserie zuteil wurde, mit einer Beteiligung - ob wissentlich oder unwissentlich sei dahingestellt - am berüchtigten FBI-Programm COINTELPRO zur Unterwanderung und Zerschlagung der jugendlichen Gegenkultur, der Friedensbewegung und der außerparlamentarischen Linksopposition zusammenhing. Das würde Sinn machen. Schließlich hatte Manson zuletzt gegen Bundesgesetze verstoßen und war gewissermaßen unter Aufsicht der Bundesbehörden zur Bewährung auf freiem Fuß.

O'Neill befaßte sich eingehend mit der Zeit, die Manson nach seiner Haftentlassung 1967 bis 1968 in San Francisco verbracht hatte. Während des sogenannten "Summer of Love" hielt sich der Sektenführer in spe im Stadtteil Haight-Ashbury auf, damals das Mekka der Hippy-Bewegung schlechthin. Dort war er ein regelmäßiger Besucher der Haight Ashbury Free Clinic, deren Ärzte die vielen angereisten Jugendlichen und Hausbesetzer kostenlos bei Geschlechtskrankheiten und Drogenproblemen therapierten, sie aber dabei gleichzeitig als Forschungsobjekte benutzten. Ausgerechnet Mansons Bewährungshelfer Roger Smith arbeitete als Kriminologe mit besonderem Interesse an den Auswirkungen psychedelischer Substanzen auf das menschliche Verhalten an dieser Klinik. In dessen Umfeld war auch der damals in Fachkreisen hochgeschätzte Psychiater Louis Jolyon West tätig, über den O'Neill herausfand, daß er neben Sidney Gottlieb jahrelang an dem streng geheimen CIA-Projekt MKULTRA beteiligt war, bei dem es um die Anwendung von Psychopharmaka zu militärischen Zwecken wie Folter, Rückgängigmachen von Gehirnwäsche und Bewußtseinskontrolle ging.

Im Zuge der Aufarbeitung der Watergate-Affäre durch einen Sonderausschuß des US-Senats unter der Leitung von Frank Church wurde Mitte der siebziger Jahre nicht nur die Existenz von COINTELPRO und MKULTRA aufgedeckt, sondern auch die CIA-Operation Chaos, bei der der US-Auslandsgeheimdienst mutmaßliche oder tatsächliche Regierungsgegner im Innern mit perfiden Mitteln wie Mord, Erpressung und Einschüchterung bekämpfte. Damals ordnete CIA-Chef Richard Helms die Vernichtung sämtlicher Akten zu MKULTRA an, damit sie Church und dessen Ermittlern nicht in die Hände fielen. Durch seine Nachforschungen über Jolyon West und David E. Smith, den Leiter der Haight Ashbury Free Clinic, entdeckte O'Neill in den Katakomben staatlicher Archive verschollene MKULTRA-Akten in großer Zahl und wertete sie aus. Am Ende stand er vor der Frage, ob es nicht die geheimen LSD-Labore der CIA waren, die Manson zum Killer machten, ob nicht die wirres Zeug redende, bärtige Personifizierung des Bösen mit den Hakenkreuzzeichen an der Stirn im weitesten Sinne ein Manchurian Candidate des Sicherheitsapparats war.

Ungeachtet der Herkules-Arbeit O'Neills bleibt bis heute unklar, was sich genau in der Tate-Polanksi-Villa am Cielo Drive in Beverly Hills zugetragen hat. Die verurteilten Täter, darunter Susan Atkins, haben sich beim Prozeß nicht nur gegenseitig widersprochen, sondern auch verschiedene Versionen der eigenen Beteiligung geltend gemacht. Dies überrascht wenig, da sie alle seit Monaten Unmengen an Drogen konsumiert hatten, die ihr Erfassungsvermögen, ihre emotionale Stabilität und ihre Gedächtnisleistung schwer beeinträchtigten. Die amerikanische Essayistin Joan Didion hat bekanntlich die Tate-LaBianca-Morde als Schlußstrich unter den sechziger Jahren und damit als Schiffbruch aller Träume von "love and peace" unter den Menschen identifiziert. Eine solche Entwicklung war von höherer Stelle gewollt und, wer weiß, möglicherweise auch gezielt herbeigeführt worden.

20. Dezember 2019


Tom O'Neill with Dan Piepenbring
Chaos
Charles Manson, the CIA, and the Secret History of the Sixties
Little Brown & Company, New York-Boston-London, 2019
521 Seiten
ISBN: 978-0-316-47755-0


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