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REZENSION/743: Paul Johnstone - From MAD to Madness (Atomkrieg) (SB)


Paul H. Johnstone


From MAD to Madness



Inside Pentagon Nuclear War Planning

In Stanley Kubricks schwarzkomödiantischem Meisterwerk "Doktor Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben" von 1964 gelingt es einem einzelnen, völlig durchgedrehten US-Luftwaffengeneral, die Auslöschung der Menschheit herbeizuführen, indem er unter Vortäuschung eines Befehlsnotstands eine ihm unterstehende Staffel von nuklear bewaffneten B52-Bombern zum Atomangriff auf die Sowjetunion veranlaßt, was wiederum einen automatischen und gigantischen Vergeltungsmechanismus der kommunistischen Gegenseite, eine sogenannte Tote Hand, unwiderruflich in Gang setzt. Damals gewährten Kubrick und sein Drehbuchautor Terry Southern mit dem im dokumentarischen Schwarz-weiß-Stil gedrehten Streifen Millionen von Menschen weltweit einen beängstigenden Einblick in die streng geheime Welt der Atomkriegsplaner auf der politischen Ebene und ihrer potentiellen Vollstrecker beim Militär. Auch wenn viele Zuschauer das geschilderte Szenario des Kinofilms selbstverständlich als satirisch überzeichnet empfanden, war es tatsächlich viel näher an der Wirklichkeit als die allermeisten Menschen Mitte der sechziger Jahren auch nur erahnt hätten.


Ein dunkelgrauer B-52-Bomber fliegt über eine karge arktische Landschaft aus Wasser und Eis - Foto: US Air Force from USA, Public domain, via Wikimedia Commons

Eine B-52 Stratofortress, eventuell mit Atombomben beladen, 2016 bei einem Manöver nahe des Nordpols
Foto: US Air Force from USA, Public domain, via Wikimedia Commons

Bekanntlich ist während der Kubakrise im Oktober 1962 die Menschheit an der nuklearen Ausrottung gerade noch vorbeigeschrammt. Einzig die Entscheidung des sowjetischen Marineoffiziers Wassili Archipow, nicht mit dem Abschuß eines nuklear bewaffneten Torpedos auf Wasserbomben zu reagieren, mit denen US-Kriegsschiffe sein U-Boot in internationalen Gewässern der Karibik angriffen, hat den Ausbruch des Dritten Weltkriegs verhindert. Darum gilt Archipow bei Militärhistorikern als "der Mann, der die Welt rettete". Doch möglicherweise gebührt dem sowjetischen Flottenkommandeur nicht allein diese Ehre. Wie die renommierte Fachzeitschrift Bulletin of Atomic Scientists am 25. Oktober 2015 unter der Überschrift "The Okinawa Missiles of October" berichtete, [1] ist es während der Kubakrise von seiten der US-Streitkräfte im Pazifik beinahe zu einem Nuklearangriff sowohl auf die Sowjetunion als auch auf die Volksrepublik China gekommen. Nur das beherzte Einschreiten von William Bassett, damals Hauptmann bei der US-Luftwaffe, hat quasi in letzter Sekunde die in Gang gesetzte Vernichtungsmaschinerie angehalten.

Quelle der schockierenden Enthüllung ist John Bordne, der damals wie Bassett bei der 498th Tactical Missile Group der US-Luftwaffe auf Okinawa diente. Nach mehr als einem halben Jahrhundert hat Bordne das Schweigen gebrochen und Aaron Tovish vom Bulletin of Atomic Scientists seine Erinnerungen an den dramatischen Vorfall mitgeteilt. Nach der Veröffentlichung der brisanten Geschichte im Bulletin of Atomic Scientists hat der damals 74jährige, in Pennsylvania lebende Bordne per Skype an einer Präsentation bei den Vereinten Nationen in New York teilgenommen, bei der ein Film über die Episode gezeigt wurde, und anschließend auf Fragen der anwesenden Journalisten, Diplomaten und Abrüstungsexperten geantwortet.

Wie ihre amerikanischen Landsleute daheim hatten die Verantwortlichen für die auf Okinawa stationierten US-Atomraketen die Fernsehrede Präsident John F. Kennedys am 22. Oktober 1962 über die Entdeckung ballistischer Mittelstreckenraketen der Sowjetunion auf Kuba verfolgt und wußten daher, daß sich die ungeheuren Spannungen zwischen Washington und Moskau jeden Moment in einem noch nie dagewesenen Kriegsinferno entladen könnten. Auf Okinawa befanden sich damals 32 nuklear bewaffnete Marschflugkörper vom Typ TM-76 Mace in der Obhut der US-Luftwaffe. Jede dieser 13 Meter langen Mace-Raketen konnte einen acht Tonnen schweren 1,1-Megatonnen Nuklearsprengkopf mit der 75fachen Sprengwirkung jener Bombe, die 1945 über Hiroshima explodierte, rund 2.000 Kilometer weit ans Ziel befördern. Die 32 Mace-Raketen auf Okinawa waren auf vier Staffeln verteilt.


Eine mehr als drei Meter lange B-53-Atombombe auf einem Trolley wird vor den Werkstoren der Nuklearwaffenfabrik Pantex in Texas per Gabelstapler verlegt - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Eine US-Wasserstoffbombe vom Typ B-53 mit einer Explosionsstärke von neun Megatonnen
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Normalerweise erhielt jede Atombombenstaffel auf Okinawa zu Schichtbeginn eine Mitteilung vom nahegelegenen Operationszentrum Kadena mit dem Datum, der Wettervorhersage und einer kodierten Ziffernfolge. Unterschied sich der erste Teil der Ziffernfolge des Operationszentrums von dem der jeweiligen Staffel an diesem Tag, ging der reguläre Stationsbetrieb einfach weiter. Glichen sich jedoch beide Codes, dann bedeutete das, daß die restliche Ziffernfolge weitere Sonderanweisungen enthielt und geöffnet werden mußte. Am 28. Oktober 1962 trat genau dieser Fall ein. War auch noch der zweite Teile der Codes identisch - was an diesem Tag ebenfalls zutraf - war der Kommandeur der jeweiligen Staffel gehalten, den dritten und letzten Teil der Codes zu vergleichen. Stimmte auch er überein, war das der Befehl, die Raketen abzufeuern. (Ein solcher Code-Empfangs- und Vergleichsprozeß wird in Kubricks Doktor Seltsam, dort unter der Besatzung des B-52-Bombers "Leper Colony", nachgezeichnet.) Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Kubakrise, nur wenige Stunden nachdem die sowjetische Luftabwehr auf Kuba ein US-Spionageflugzeug vom Typ U-2 abgeschossen und seinen Piloten getötet hatte, trat ein solcher Ernstfall ein.

Als Hauptmann Bassett die Zielkoordinaten für die Raketen seiner Staffel las, stellte er mit Verwunderung fest, daß sich drei der anzugreifenden Positionen nicht auf dem Territorium der Sowjetunion, sondern auf dem der Volksrepublik China befanden. Kurz darauf meldete ihm der Leiter einer anderen Staffel, daß auch bei ihm zwei von vier angegebenen Zielen nicht in der Sowjetunion lagen. Um einen Fehler auszuschließen, übermittelte das Operationszentrum auf Bitten Bassetts, der das Oberkommando für alle vier Staffeln innehatte, die Codes noch einmal. Es waren jedoch dieselben Codes; nichts hatte sich verändert. Währenddessen beharrte der Leiter einer weiteren Staffel, ein Leutnant, dessen Ziele allesamt in der Sowjetunion lagen, darauf, seine Mace-Raketen abzufeuern. Schließlich bestand die Möglichkeit, daß der Dritte Weltkrieg inzwischen ausgebrochen war und sowjetische Raketen bereits auf Okinawa zurasten. Trotz oder vielleicht gerade wegen der hochextremen Gefahrenlage entsandte Bassett mehrere Untergebene zur fraglichen Staffel mit dem Befehl, den Abschuß der Raketen zu verhindern und notfalls den befehlshabenden Leutnant zu erschießen.

In der Zwischenzeit wandte er sich an das Operationszentrum, um dem Problem auf den Grund zu gehen. Was Bassett, der zum Glück einen kühlen Kopf behielt, während des ganzen Durcheinanders stutzig machte, war der Umstand, daß sich die Streitkräfte der USA zum fraglichen Zeitpunkt weltweit nur im zweithöchsten Alarmzustand - DEFCON 2 - befanden. Formell war aber vorgeschrieben, daß die US-Atomstreitkräfte erst bei DEFCON 1 ihre Bomben und Raketen auf gegnerische Ziele abfeuern bzw. abwerfen sollten. Unter Hinweis auf diesen Widerspruch konnte Bassett die Leitung im Operationszentrum in Kadena zur Rücknahme des Feuerbefehls bewegen. Zur Erleichterung aller wurde Entwarnung gegeben. Später stellte sich heraus, daß ähnlich wie bei Doktor Seltsam ein einzelner Offizier im Operationszentrum auf Okinawa den nuklearen Angriffsbefehl nach eigenem Gutdünken erteilt hatte. Was diesen Militär zu dem ungeheuerlichen Schritt verleitet hat, ist niemals bekannt geworden. Der Mann kam vor ein Kriegsgericht und da er ohnehin kurz vor dem Abschied aus dem aktiven Dienst stand, wurde er still und leise pensioniert. Alle Beteiligten an dem fraglichen Vorfall wurden zum absoluten Stillschweigen verpflichtet. Bassett starb 2011, ohne die Anerkennung seiner Mitmenschen für die große Heldentat zu erfahren.


Grelle Explosion und Pilzwolke der Trinity-Bombe verdunkeln den dahinterliegenden Himmel - Foto: Jack W. Aeby, July 16, 1945, Civilian worker at Los Alamos laboratory, working under the aegis of the Manhattan Project., Public domain, via Wikimedia Commons

Explosion der Trinity-Bombe am 16. Juli 1945 - Auftakt des nuklearen Zeitalters
Foto: Jack W. Aeby, July 16, 1945, Civilian worker at Los Alamos laboratory, working under the aegis of the Manhattan Project., Public domain, via Wikimedia Commons

Es sind derlei gravierende Vorfälle, welche die Bedeutung des Buchs "From MAD to Madness - Inside Pentagon Nuclear War Planning" von Paul H. Johnstone, der lange Jahre ein führender Akteur der amerikanischen Sicherheitsarchitektur im Bereich Atomwaffen war, erkennen lassen. Im Jahr 1981 hat der Agrarökonom und Französischdozent aus Minnesota gewissermaßen auf dem Sterbebett seiner Tochter, der linken, in Paris lebenden Journalistin und Friedensaktivistin Diana Johnstone, das Versprechen abverlangt, für die Veröffentlichung seiner aufschlußreichen und zugleich beunruhigenden Memoiren zu sorgen. Erst 2016, unter Mitwirkung von Clarity Press aus Atlanta, konnte Diana Johnstone ihr Versprechen einlösen. Das vorliegende Buch enthält auch ein Vor- und Nachwort von ihr, worin die gefährliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte mit dem Aufbau zweier Raketenabwehrsysteme der USA in Osteuropa gegen Rußland und in Ostasien gegen China, dem Rückzug Washingtons aus mehreren wichtigen strategischen Rüstungsabkommen mit Moskau, der eine Billion Dollar teueren Modernisierung des amerikanischen Atomwaffenarsenals u. v. m. erläutert wird. Wie die meisten Kenner der Materie führt Diana Johnstone die zunehmenden Eigenmächtigkeiten Washingtons auf dem Feld der Kernwaffen auf das Streben der Militaristen zurück, im Konfliktfall vergleichsweise unbeschadet einen nuklearen Erstschlag gegen die Russen oder Chinesen durchführen zu können. Solche haarsträubenden Überlegungen, welche die Kriegsfalken in Washington seit der Zündung der ersten Atombombe im Juli 1945 umtreiben, stand Paul Johnstone, obwohl selbst ein Pentagon-Insider, ablehnend gegenüber. Für einen Mann, der sich zeitlebens als Humanist verstand, waren sie töricht, wirklichkeitsfremd und absolut lebensfeindlich. Seine Tochter schreibt im Vorwort:

Die Memoiren von Dr. Johnstone lichten den Nebel der Kriegsplanung.

Die wichtigsten Entscheidungsträger wollen einfache Fakten und Zahlen haben, um ihre Beschlüsse treffen zu können, und die Experten und Analytiker müssen diese liefern. Das vorliegende Buch zeigt, wie das funktioniert und wie weit entfernt von der Realität der gesamte Prozeß ist. Die politische Führung wünscht eine Informationssicherheit, die unmöglich zu erzielen ist. Die hellsten Köpfe und die kenntnisreichsten Experten werden damit beauftragt, das Unvorhersagbare vorherzusagen, und lediglich eine vereinfachte Zusammenfassung davon kommt auf der höchsten exekutiven Ebene an. Einige der Schlußfolgerungen sind atemberaubend: "Der allgemeine Konsens lautete, daß die USA, wenngleich ein atomarer Schlagabtausch das Land schwer beschädigt mit vielen Millionen Toten und nur begrenzten Fähigkeiten zur Unterstützung der weiteren Kriegsanstrengung zurückließe, als organisierte und lebensfähige Gesellschaft weiterbestünden, während die UdSSR dazu nicht mehr in der Lage wäre."

An dieser Grundsituation hat sich nichts verändert. Atomwaffen existieren weiterhin und die Analysten analysieren, wie man sie einsetzen kann. Die vorliegende Lektüre schildert den Versuch, unbeantwortbare Fragen zu beantworten. Sie zeigt deutlich, warum sorgfältig geplante Kriege niemals wie geplant ablaufen.

Dr. Johnstone war sich über diese Unsicherheiten nur allzu im Klaren.

Als Historiker und Literaturwissenschaftler bedauerte er die unter bestimmten Sozialwissenschaftlern herrschende Illusion, daß alles, was sie benötigten, um das menschliche Verhalten - selbst während einer solchen nie dagewesenen Katastrophe wie eines Atomkrieges - vorherzusagen, ausreichende Daten seien. Nach seinen Erfahrungen teilten vor allem die Physiker und Mathematiker diese Skepsis. Er bemühte sich, die Auswertung früherer Krisen in seine Arbeit mit einfließen zu lassen, gerade um den Entscheidungsträgern klarmachen zu können, was alles schief gehen könne. Seine vorliegenden Studien der Krisen in Laos und Berlin lassen erkennen, wie leicht die Dinge aus dem Ruder laufen können. Die letzte und umfassendeste solcher Krisenstudien war die von [US-Verteidigungsminister Robert] McNamara angeordnete Auswertung des amerikanischen Einsatzes in Vietnam, die nach der Weitergabe an die New York Times durch Daniel Ellsberg den Titel "Die Pentagon-Papiere" erhielt. Dr. Johnstone war einer der Autoren der Pentagon-Papiere.
(eBook S. 21f. - SB-Übersetzung)


Das berühmte fünfseitige Verteidigungsministerium der USA in Arlington, Virginia - Foto: Chief Photographer's Mate Johnny Bivera, Public domain, via Wikimedia Commons

Luftaufnahme des Pentagons
Foto: Chief Photographer's Mate Johnny Bivera, Public domain, via Wikimedia Commons

Paul Johnstone war ein früher Anhänger des New Deals von Franklin D. Roosevelt. Nach dem Einzug des Demokraten 1933 ins Weiße Haus hängt Johnstone das Akademikerleben in Minnesota an den Nagel und heuert im Washingtoner Landwirtschaftsministerium an, um an der Seite von Henry Wallace eine progressive Reform des Farmwesens und der Lebensmittelproduktion in den USA umzusetzen. Diese Mammutaufgabe ist nur zum Teil bewältigt, als die USA nach dem japanischen "Überraschungsangriff" auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintreten. Zusammen mit Wallace, inzwischen Vizepräsident Roosevelts, wechselt Johnstone 1942 in das Board of Economic Warfare. Dort besteht seine Arbeit darin, Wege zu finden, die Achsenmächte wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Im Rahmen des Pazifikkriegs verbringt Johnstone 1944 und 1945 beim Alliierten Oberkommando für den südostasiatischen Raum in Indien und auf Ceylon, wo er im Stab des Briten Lord Louis Mountbatten hauptsächlich die Luftangriffe auf das Kaiserliche Japan auswertet und optimiert. Johnstone empfindet den erstmaligen Einsatz der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki als überflüssig und gefährlich. Mit diesem umstrittenen Schritt hat die Regierung Harry Trumans - die konservativen Kräfte bei den Demokraten hatten diesen bereits 1944 gegen den allzu progressiven Wallace als Vizepräsident des sterbenskranken Roosevelt ausgetauscht - gegen den ausdrücklichen Willen führender Wissenschaftler wie Albert Einstein und Militärs wie dem siegreichen Oberkommandierenden der Alliierten Streitkräfte in Europa, Dwight D. Eisenhower, die nukleare Büchse der Pandora mutwillig geöffnet.

Nach einem kurzem Intermezzo als Infrastrukturexperte in Kalifornien geht Johnstone 1948 nach China, um im staatlichen Auftrag der USA der nationalistischen, pro-amerikanischen Regierung Chiang Kai-Tscheks als Berater beizustehen. Dadurch erlebt er die Schlußphase des chinesischen Bürgerkrieges, den Sieg vom Mao Zedongs Kommunisten über Chiangs Nationalisten, die Ausrufung der Volksrepublik 1949 und die gleichzeitige Flucht der Nationalisten auf die Inselfestung Taiwan mit. Noch im selben Jahr nimmt er eine leitende Stelle im Pentagon beim Nachrichtendienst der Luftwaffe an. Dort tobt zu jenem Zeitpunkt noch der Streit über die richtige Lehre aus dem alliierten Luftkrieg gegen Hitler-Deutschland und Hirohito-Japan, während man gleichzeitig versucht, die Erkenntnisse für künftige, mögliche Waffengänge gegen die Sowjetunion und das kommunistische China zu verwerten, deren Überlegenheit an Bodenstreitkräften erdrückend ist. Als deswegen US-General Douglas MacArthur im Koreakrieg 1951 lautstark den Einsatz der Atombombe fordert, wird er von Truman als Oberbefehlshaber der alliierten Expeditionsarmee auf der koreanischen Halbinsel kurzerhand entlassen. Für Trumans Vorsicht gab es einen guten Grund. Seit 1949 waren die Sowjets im Besitz einer eigenen Atombombe, mit der sie zwei Jahre später bereits in die Serienproduktion gingen.


Weiße Fassade des modernistisch gehaltenen Hauptquartiers der RAND Corporation - Foto: Cbl62 at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Hauptquartier der US-luftwaffennahen Denkfabrik RAND im kalifornischen Santa Monica
Foto: Cbl62 at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0
[https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

In den USA ist inzwischen die Stunde der Nuklearpäpste, von Leuten wie Hermann Kahn, Alfred Wohlstetter, Henry Kissinger und Walt Rostow, angebrochen, die sich häufig, aber nicht nur, im Auftrag der kalifornischen, mit der US-Luftwaffe eng verbundenen Denkfabrik RAND Gedanken über die möglichen Strategien und Gegenstrategien im nuklearen Zeitalter machen. Johnstone lernt diese Clique kennen, hat aber keine hohe Meinung von ihr. Während er und seine Mitarbeiter Berechnungen über alle erdenklichen Aspekte eines Atomkriegs wie Detonationsarten, Wettereinflüsse, Festigkeit sowjetischer Baumaterialien, topographische Gegebenheiten und kulturelle Eigenheiten anzustellen versuchen, verbringen die Kissingers und Wohlstetters einen Großteil ihrer Zeit mit der Spieltheorie an der Frage, wie man die gegnerischen Entscheidungsprozesse richtig prognostizieren und vielleicht sogar beeinflussen kann. Zu diesem Zweck entwickeln und veranstalten sie Kriegsspiele nach dem Prinzip des Phantomschachs, das bei der preussischen Generalität in der Ära vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges recht beliebt gewesen sein soll. In beiden Fällen geht es darum, daß keiner der beiden Spieler weiß, welche Züge der Gegner überhaupt macht. Rückschlüsse darüber erhält er nur dann, wenn er eine seine Figuren bzw. einen seiner Aktivposten verliert. Lediglich der Schiedsrichter als dritte Instanz hat den vollen Überblick. Er ist auch derjenige, der erklärt, wann das Spiel vorbei ist und wer gewonnen bzw. verloren hat. Vor diesem Hintergrund sind Johnstones ausführliche Gedanken und Einsichten bezüglich der Begrenztheit der wissenschaftlichen Methode ernüchternd und äußerst erhellend. Folgendes Zitat vermittelt einen gewissen Eindruck davon:

Ich glaube, daß der militärische Nachrichtendienst für jeden, der dort tief eingetaucht ist und anschließend das Privileg gehabt hat, ihn aus einer gewissen Distanz zu betrachten, wie eine Welt flackernden Lichts, dunkler Schatten, launischer Musik und geflüsterter Gerüchte, die nur halb gehört werden, vor dem Hintergrund einer trompetenhaften Begleitung akuter Bedrohungen, welche die äußere Gefährdung kundtun, erscheinen mag. Formen werden bestenfalls zum Teil wahrgenommen, häufig gar nicht gesehen, und oft ist das, was man zu sehen meint, überhaupt nicht vorhanden. Es gibt immer gewisse Dinge, von denen man weiß, daß man sie weiß, doch weiß man niemals, wie viele Dinge es gibt, deren Existenz man nicht einmal vermutet. Zudem weiß man nicht, wieviel von dem, was man sieht, eine Inszenierung ist, um einen in die Irre zu führen.

Was selten begriffen wird ist der Umstand, daß es immer einen herrschenden Konsens gibt, der viel mehr als die schärfsten Sinne oder die durchdachteste Vernunft bestimmt, was man meint, da draußen zu erkennen, und was tatsächlich geschieht. Wie auch sonst auf der Welt und bei jeder Erfahrung erfolgt alles wie im Kaleidoskop; die Figuren und Entwürfe, die man aus den Splitterstücken, die einem vor den Augen erscheinen, zu erkennen meint, sind hauptsächlich die, die man vor dem Hinschauen sowieso erwartet hat.

Wie immer gibt es natürlich die wahren Gläubigen. Die Bilder vor deren Augen stellen die göttliche Wahrheit dar. Für sie geht es um richtig oder falsch, helles Sonnenlicht oder finstere Dunkelheit. Und dann gibt es diejenigen, die entweder nicht völlig überzeugt oder zu wenig involviert sind und die es stört, das sehen zu müssen, was andere zu sehen behaupten. Wie ein Schaf in der Herde geben sie hin und wieder ein "Mäh" von sich, und wenngleich sie der Richtung, in die sie getrieben werden, mißtrauen mögen, fühlen sie sich durch den Druck der Artgenossen neben ihnen beruhigt und folgen weiter dem vorgegebenen Kurs.

So war es früher in den fünfziger und sechziger Jahren, und ich habe keinen Grund zur Annahme, daß es sich in der nachrichtendienstlichen Welt der achtziger wesentlich anders verhält. Lediglich die Details des militärischen Nachrichtendiensts haben sich zweifelsohne gewandelt.

Doch der grundlegende Prozeß, der beinhaltet, Schlüsse aus einer Beweislage zu ziehen, die stets unvollständig und vom Wesen her mehrdeutig ist, bleibt derselbe. Daher ist es das menschliche Element - das unausweichliche Element der Hypothese -, das den entscheidenden Faktor darstellt. In Wirklichkeit kann es nicht anders sein. (Obwohl die Kleingeister, die es mit dem, was sie wissen, bestreiten würden, trifft diese allgemeine Regel auch auf die Naturwissenschaften zu, was meines Erachtens die Wissenschaftslogiker bestätigen würden). Doch es ist wichtig zu sehen, wie dieser Prozeß funktioniert, denn nur dann kann man das Ausmaß des Glückspiels ermessen, wenn Entscheidungen auf der Basis der Auswertung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse getroffen werden sollen.
(S. 63f. - SB-Übersetzung)

Walt Rostow, obwohl heute fast vergessen, war damals als strategischer Vordenker enorm einflußreich. Doch wie viele Kommunistenfresser hatte ihn der Manichäismus blind gemacht, so Paul Johnstone. Während der Berlin-Krise 1961 schlug Rostow als Stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater John F. Kennedy allen Ernstes vor, NATO-Truppen sollten in Magdeburg einmarschieren und es besetzen, um Moskau im Streit um die geteilte deutsche Hauptstadt zu Zugeständnissen zu zwingen. Als er sich ein Jahr später in der Kuba-Krise für den ungeheuerlichen Vorschlag des Stabschefs der US-Luftwaffe, General Curtis "Bombs Away" LeMay, der einen nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion forderte, stark machte, hat ihm JFK das nicht verziehen. Gleich nach der Beilegung der Krise verbannte Kennedy Rostow als Staatssekretär ins Außenministerium.


Walt Rostow, im Anzug, nimmt 1968 an einer lebhaften Strategiedebatte teil - Foto: U. S. Federal Government, Public domain, via Wikimedia Commons

Walt Rostow, Lyndon B. Johnsons Nationaler Sicherheitsberater
Foto: U. S. Federal Government, Public domain, via Wikimedia Commons

Doch nach der Ermordung von JFK in Dallas im November 1963 kehrte Rostow als Nationaler Sicherheitsberater Lyndon B. Johnsons ins Weiße Haus zurück. Dort setzte er sich für ein großangelegtes Engagement der USA im Vietnamkrieg ein. Als sich jedoch trotz immer mehr Soldaten und Material die Wende zum Besseren für die USA nicht herbeiführen ließ, plädierte Rostow im Frühjahr 1968 für den Einsatz von Atomwaffen, um die bedrängten US-Streitkräfte bei der Schlacht von Khe Sanh im südvietnamesischen Nordwesten, am Grenzdreieck zu Laos und Nordvietnam, vor der Niederlage zu bewahren. Doch LBJ lehnte die hoch riskante Maßnahme wegen der bereits gegen US-Stützpunkte in Saigon und Hue laufenden Tet-Offensive der Vietkong als zwecklos ab und kündigte nur wenige Wochen später angesichts zunehmender Antikriegsproteste in den USA seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur für die US-Präsidentschaft an.

Paul Johnstone geht 1969 in Rente. Die letzten Jahre im Dienst des US-Militärgeheimdiensts hat er mit der Ausarbeitung einer Serie umfassender Krisenstudien verbracht, von denen vor allem die Pentagon-Papiere über den Vietnamkrieg deshalb berühmt wurden, weil die hysterische Reaktion der republikanischen Regierung Richard Nixons auf die Veröffentlichung in der New York Times - Einbrüche beim Psychiater des Whistleblowers Daniel Ellsberg sowie ins Büro der oppositionellen Demokraten im Watergate-Gebäudekomplex, um belastendes Material zu ergattern - zu einer beispiellosen innenpolitischen Krise führte.


Nixon und Kissinger auf dem Höhepunkt ihrer Macht im Zwiegespräch - Foto: White House Photo Office Collection (Nixon Administration), Public domain, via Wikimedia Commons

Nixon und Kissinger im Oval Office im Jahre 1969
Foto: White House Photo Office Collection (Nixon Administration), Public domain, via Wikimedia Commons

Johnstones ideologische Konkurrenten, die Militaristenfraktion beim Committee on Present Danger (CPD) in ihren verschiedenen Manifestationen wie Team B und Project for the New American Century, sind diejenigen, die in den achtziger Jahren den gigantischen Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion herbeiführen, nach dem Ende des Kalten Krieges eine globale Pax Amerikana fordern und aktuell auf eine Konfrontation mit China drängen, um die Volksrepublik militärisch in die Schranken weisen zu können. Sie sind bis heute die Befürworter der abwegigen These vom "gewinnbaren Atomkrieg", weshalb Diana Johnstone die Memoiren ihres Vaters mit dem Titel "From MAD to Madness" versehen hat, der soviel wie "Vom Gleichgewicht des Schreckens zum Wahnsinn" heißt. (Hermann Kahn hatte 1962 die nukleare Doktrin der Mutually Assured Destruction (MAD), was in der englischen Direktübersetzung nicht Gleichgewicht des Schreckens, sondern gegenseitig zugesicherte Zerstörung bedeutet, formuliert).

Mit diesem etwas reißerischen Buchtitel wollte Diana Johnstone ganz klar auf die gefährliche Abkehr Washington vom früheren Atompatt hin zum Glauben an die Einsatzbarkeit von Atombomben nicht nur im taktischen Bereich, sondern auch als strategische Erstschlagswaffe warnen. Die Warnung ist mehr als berechtigt. Gerade im vergangenen Mai hat Daniel Ellsberg bewußt widerrechtlich bislang geheimgehaltene Teile der Pentagon-Papiere über die New York Times veröffentlichen lassen, die sich auf Operationspläne des US-Militärs zum Nuklearangriff auf die chinesischen Streitkräfte während der Quemoy-Krise 1958 in der Taiwan-Straße zwischen Peking und Taipeh bezogen. Anlaß für die spektakuläre Aktion waren für den inzwischen 90jährigen Ellsberg nach dessen eigener Aussage die aktuellen, von Washington künstlich angeheizten Spannungen um Taiwan und das Südchinesische Meer, was wiederum auf die Aktualität der Memoiren seines früheren Vorgesetzten Paul Johnstone verweist.


Fußnote:

1. Aaron Tovish, The Okinawa missiles of October, Bulletin of Atomic Scientists, October 25, 2015 - 22:34

http://thebulletin.org/okinawa-missiles-october8826


Detonation einer der größten jemals von den USA gezündeten Atombomben nur ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs - Foto: Original: United States Department of Defense (either the U.S. Army or the U.S. Navy) This is a retouched picture, which means that it has been digitally altered from its original version. Modifications: picture manager bright. Modifications made by F1jmm., Public domain,via Wikimedia Commons

Unterwasserexplosion einer Plutoniumbombe in der Lagune des Bikini- Atolls am 25. Juli 1946
Foto: Original: United States Department of Defense (either the U.S. Army or the U.S. Navy) This is a retouched picture, which means that it has been digitally altered from its original version. Modifications: picture manager bright. Modifications made by F1jmm., Public domain, via Wikimedia Commons

26. Juli 2021


Paul H. Johnstone
From MAD to Madness
Inside Pentagon Nuclear War Planning
Clarity Press, Atlanta, 2017
11,0 MB
ISBN: 978-0-9978965-3-4 (eBook)

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 165 vom 31. Juli 2021


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