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REZENSION/752: Paul Kennedy - The Rise & Fall of the Great Powers (SB)


Paul Kennedy


The Rise & Fall of the Great Powers

Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000



Nur selten gelingt einem Historiker ein so großer Erfolg wie Paul Kennedy mit "The Rise & Fall of the Great Powers - Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000". Im Erscheinungsjahr 1987 stand das 667seitige Werk monatelang ganz oben auf den Bestsellerlisten für Sachbücher in den USA, Japan und Großbritannien und wurde insgesamt in 21 Sprachen übersetzt. In Deutschland erschien das Buch unter dem Titel "Aufstieg und Fall der großen Mächte". Damals sorgte der britische Professor mit seiner These von der "imperialen Überdehnung", die quasi als Warnung an die Adresse der USA gerichtet war, weltweit für lebhafte Diskussionen in Medien und Politik. Mehr als 30 Jahre später lohnt es sich, der Frage nachzugehen, inwieweit Kennedy mit seiner großartigen Tour d'Horizon tatsächlich stichhaltige Hinweise auf die nachfolgende Entwicklung herausgearbeitet und dem geneigten Leser zur Verfügung gestellt hat.

Dem Autor ging es in seinem Opus Magnum zunächst darum zu erklären, wie die europäischen Mächte - im Weltmaßstab des 15. Jahrhunderts von minderer Bedeutung - aus ihrer kleinen Ecke am Nordatlantik ausbrechen, weite Teile des Globus erobern und erfolgreich kolonisieren konnten. Für Kennedy war rückblickend eine solche Transformation der Verhältnisse nicht ohne weiteres zwangsläufig. Er sieht Versäumnisse seitens der damals wichtigsten Rivalen um globale Macht als entscheidend an. Das chinesische Reich der Ming-Dynastie, welches bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts weite Teile des Pazifiks und des Indischen Ozeans von der großen Schatzflotte des Admirals Cheng He erkunden ließ, schottete sich gerade wegen der eigenen militärischen und ökonomischen Überlegenheit ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zunehmend von der Außenwelt ab. An Stelle der Chinesen sind es die Europäer, die auf der Suche nach einem Seeweg nach Asien mit Christoph Kolumbus 1498 die "Neue Welt", die späteren Amerikas, entdecken. Im selben Jahr haben die Portugiesen unter Vasco da Gama bereits die Ostküste Afrikas kartografiert und die Seehandelsroute mit Indien eingerichtet.


Farbiger Kupferstich der historisch ersten Begegnung zwischen spanischen Conquistadoren und den Azteken in deren Hauptstadt - Abbildung: Unknown; published by en:Kurz and Allison, Public domain, via Wikimedia Commons

Konquistador Hernan Cortes begegnet im November 1519 erstmals dem aztekischen Herrscher Moctezuma II in Tenochtitlan, dem heutigen Mexiko-Stadt
Abbildung: Unknown; published by en:Kurz and Allison, Public domain, via Wikimedia Commons

Etwas mehr als 20 respektive 30 Jahre danach haben sich spanische Truppen unter Führung von Hernan Cortes bzw. Francisco Pizarro mit ihren Schußwaffen, Pferden und mitgebrachten Krankheiten die größten Reiche der gerade entdeckten westlichen Hemisphäre, die der Azteken und der Maya im heutigen Mexiko und der Inka auf dem Gebiet der heutigen Staaten Ecuador, Peru und Chile untertan gemacht. Die beispiellose Ausbeutungsorgie um Gold und Silber kann beginnen. Die beiden Konquistadoren waren im Auftrag des Habsburgers Karl V., Kaisers des Heiligen Römischen Reichs, unterwegs. Die nächsten mehr als 100 Jahre, faktisch bis 1650, sind vom Bemühen der Habsburger geprägt, von Madrid und Wien aus die Alleinherrschaft über Europa zu erringen. Doch sie scheitern letztlich am Widerstand der Engländer - siehe exemplarisch der Kampf Königin Elizabeths gegen die Spanische Armada -, der Niederländer, der Franzosen und an der religiösen Spaltung in Katholiken und Protestanten, welche die Reformation Luthers und Calvins bewirkt und ihren blutigen Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg findet.


Klassisches, großformatiges Ölgemälde von 1878 aus der Sammlung der Hamburger Kunsthalle - Abbildung: Hans Makart, Public Domain via Wikimedia Commons

Hans Makarts Gemälde des feierlichen Einzugs des Heiligen Römischen Kaisers Karl V. in Antwerpen im Jahr 1520
Abbildung: Hans Makart, Public Domain via Wikimedia Commons

Doch es ist nicht nur die Ming-Dynastie, sondern auch das türkisch-geprägte Osmanische Reich, das nach mehreren Unternehmungen und zum Schrecken des gesamten Christentums 1453 Konstantinopel endlich einnehmen und damit das byzantinische, oströmische Reich beenden konnte, jedoch im 16. Jahrhundert und danach immer mehr hinter die aufstrebenden europäischen Mächte zurückfallen sollte. Mit dem Scheitern der Einnahme Maltas 1565 und der Niederlage bei der Seeschlacht von Lepanto 1571 haben die Nachfolger Osmans I. praktisch ihren Zenit überschritten, auch wenn die letzte Belagerung von Wien 1683 und der endgültige Abzug vom Balkan 1913 noch in der Zukunft liegen sollten, und den Aufstieg zur alles dominierenden Weltmacht verspielt. Dazu Paul Kennedy:

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wies das Reich die Anzeichen einer strategischen Überdehnung auf, mit einer großen Armee in Zentraleuropa stationiert, einer teueren Kriegsmarine im Mittelmeer unterwegs, Truppen in Nordafrika, der Ägäis, auf Zypern, im Roten Meer eingesetzt und auf Verstärkung angewiesen, um die Krim gegen die Macht eines aufstrebenden Rußlands zu halten.
(S. 68,7/eBook - SB-Übersetzung)


Flämisches Ölgemälde aus dem Jahr 1590 von der großen Seeschlacht im Ärmelkanal zwei Jahre zuvor - Abbildung: Royal Museums Greenwich, Public domain, via Wikimedia Commons

Königin Elizabeth von Englands Kriegsmarine setzt im Ärmelkanal am 28. Juli 1588 brennende Feuerschiffe gegen die spanische Armada ein
Abbildung: Royal Museums Greenwich, Public domain, via Wikimedia Commons

In beiden Fällen, dem osmanischen Reich und der Ming-Dynastie, sind es für Kennedy vor allem strukturelle Gründe, die für den fehlenden Fortschritt sorgen. Ihm zufolge hat zum Beispiel die enorme Stärke der hauptsächlich auf eine gut ausgebildete Infanterie setzende Janitscharenarmee als Institution im osmanischen Reich die Entwicklung im Bereich der Rüstungstechnologie im allgemeinen und der Artillerie im besonderen mit fatalen langfristigen Folgen gebremst. In China steht die traditionsgebundene Staatsverwaltung der Mandarine mit all ihren über mehr als eintausend Jahre gewachsenen Beharrungskräften der Übernahme moderner Ideen im Weg.


Schwarzweiße, cartoonartige Landkarte gezeichnet 1921 vom niederländisch-amerikanischen Historiker Hendrik Willem Van Loon - Abbildung: Hendrik Willem Van Loon, Public domain, via Wikimedia Commons

Der dreißigjährige Krieg - grob gezeichnet
Abbildung: Hendrik Willem Van Loon, Public domain, via Wikimedia Commons

Zwischen 1660 und 1815 ist es vor allem Frankreich, welches die Rolle des europäischen Hegemons einnehmen will. Dagegen sperrt sich vor allem England bzw. nach der Union 1707 mit Schottland Großbritannien. Im Siebenjährigen Krieg (1756-63) kämpfen Großbritannien/Kurhannover mit Preußen gegen Frankreich, das österreichische Habsburger-Reich und Rußland. Dieser Konflikt gilt als erster weltumspannender Krieg, denn die Schauplätze der militärischen Auseinandersetzung beschränken sich nicht auf Europa, sondern befinden sich - vor allem zwischen Briten und Franzosen - auch in Nordamerika, der Karibik und Indien. Der Siebenjährige Krieg endet für Frankreich mit einer schweren Niederlage, doch kann sich die französische Monarchie wenige Jahre später durch ihre umfangreiche finanzielle und militärische Unterstützung für die nordamerikanischen Rebellen im Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) gegen Großbritannien rächen. Doch Londons herber Verlust der Kontrolle über die dreizehn Kolonien an der Ostküste der heutigen USA sollte sich für die Bourbonen-Dynastie in Versailles als Pyrrhussieg erweisen. Nur sechs Jahre später erleidet Frankreich nicht zuletzt aufgrund der angehäuften Kriegsschulden Staatsbankrott. 1789 kommt es zur französischen Revolution.


Vogelperspektive der Belagerung Wiens mit dem osmanischen Heer im Süden am Bildrand, die Stadt an der Donau in der Mitte, im oberen Bildteil das Hinterland - Abbildung: Romeyn de Hooghe, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Belagerung Wiens 1683 durch die osmanische Armee - farbiger Kupferstich des niederländischen Künstlers und Zeitzeugen Romeyn de Hooghe
Abbildung: Romeyn de Hooghe, Public domain, via Wikimedia Commons

Das seismische Ereignis in Frankreich hat gewaltige Kräfte freigesetzt, die Napoleon Bonaparte unter anderem durch die Einführung der Wehrpflicht, der sogenannten Levee en masse, geschickt nutzt. Mit seinen Hunderttausenden gut trainierten Soldaten kann Napoleon fast ganz Europa erobern und überall dort die revolutionären, antifeudalen Ideen verbreiten. Nur das britische Inselreich bleibt fern seiner Kontrolle. Kennedy beschreibt das "strategische Dilemma" der beiden Erzfeinde Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts wie folgt:

Wie der Wal und der Elefant waren beide mit Abstand die größten Kreaturen in ihrer Domäne. Weder konnte die britische Kontrolle der Seerouten allein die französische Hegemonie in Europa zerstören, noch Napoleons militärische Herrschaft die Inselbewohner zur Aufgabe zwingen.
(390,6/eBook - SB-Übersetzung)

Zweifellos war der Rußland-Feldzug der gravierende Fehler des korsischen Imperators. Im Spätherbst 1812 dezimierte die eisige Kälte der europäisch-russischen Ebene die Grande Armee und riß Abertausende Männer und Pferde in den Tod. Doch wie Kennedy richtig festhält, war es Englands Fähigkeit, aufgrund seines modernen Bankenwesens und effektiven Steuersystems die Kriegsbeteiligung der anderen drei Großmächte, Preußen, Habsburg Österreich und Rußland, zu finanzieren, die letztlich den Ausschlag geben und Napoleon sein Waterloo bereiten sollte.


Der Imperator von Korsika auf weißem Pferd und seine Truppen durchqueren eine eisige Schneelandschaft; erstarrte Leichen liegen am Wegesrand - Abbildung: Adolph Northen, Public domain, via Wikimedia Commons

Rückzug der Grande Armee 1812, gemalt vom deutschen Künstler Adolph Northen 1866
Abbildung: Adolph Northen, Public domain, via Wikimedia Commons

Im 19. Jahrhundert beflügeln die industrielle Revolution und die großen Kohlevorkommen in Nordengland und Wales den Aufstieg des British Empire, in dem angesichts seiner schieren Größe bekanntlich die Sonne nie unterging. Mit Kühnheit und Kanonenbootdiplomatie unterwerfen die Briten den gesamten indischen Subkontinent, Teile Arabiens und Indochinas, besetzen und bevölkern Australien und verpassen mittels zweier Opiumkriege (1839-1842 und 1856-1860) dem chinesischen Kaiserreich der mandschurischen Qing-Dynastie den langsamen, aber sicheren Todesstoß. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schaffen Meiji-Japan und das von Preußen dominierte Deutschland den Aufstieg zur Großmacht. Gleichzeitig entsteht unter den europäischen Kolonialmächten ein furioser Wettbewerb um den Ressourcenabbau in Afrika, dessen Spannungen mit zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914-1918) beitragen sollten.


Zeichnung des berühmten Karikaturisten Jean-Jacques Grandvilles aus der damals führenden französischen Satirezeitschift Le Charivari -  Abbildung: Jean-Jacques Grandville, Public domain, via Wikimedia Commons

Französische Satirezeichnung zum Ersten Opiumkrieg 1840 zeigt wie ein arroganter britischer Offizier einem verdutzten chinesischen Mandarin den Kauf von Opium aufzwingt
Abbildung: Jean-Jacques Grandville, Public domain, via Wikimedia Commons

Im Mittelpunkt sowohl des Ersten als auch des Zweiten Weltkriegs (1939- 1945) steht Deutschland mit seinem Anspruch auf die Führungsposition in Europa, den zu akzeptieren Großbritannien partout nicht bereit ist. Laut Kennedy war es im Ersten Weltkrieg das geographische Unglück des Deutschen Reichs und des mit ihm verbündeten Österreich-Ungarn, von so vielen gegnerischen Staaten umgeben zu sein. Dieser Umstand machte nach seiner Einschätzung von vornherein für Berlin, ungeachtet aller logistischen und militärischen Glanzleistungen des deutschen Heers, einen Sieg zu einem Ding der Unmöglichkeit. Im Zweiten Weltkrieg stellt Kennedy auf deutscher Seite eine niemals zu überbrückende Kluft zwischen Mittel und Ziel fest. Der deutsche Blitzkrieg, der im infrastrukturreichen Westeuropa so hervorragend funktionierte, konnte in der gigantischen Region zwischen Weichsel und Ural bzw. Kaukasus rein physisch nicht dieselbe Wucht entfalten. Zum Donnerhammer der Nazis fehlte im europäischen Teil der Sowjetunion schlicht der passende Amboß.


Nach 23 Jahren sind in Afrika keine 'leeren' Flächen oder kleine Königreiche mehr, sondern fast nur noch einige gigantische Kolonialterritorien zu erkennen - Abbildung: davidjl123 / Somebody500, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Vergleichende Karten von 1880 und 1913 lassen die willkürliche Aufteilung Afrikas unter den europäischen Großmächten erkennen
Abbildung: davidjl123 / Somebody500, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Hinzu kam die sträflich-arrogante Unterschätzung der organisatorischen und technologischen Fähigkeiten der sowjetischen Bürger durch die vermeintliche Herrenrasse. Im Juni 1942 - genau ein Jahr nach Beginn von Operation Barbarossa - hat Reichskanzler Adolf Hitler beim Besuch des finnischen Verbündeten Großmarschall Carl Gustav Emil Mannerheim in dessen Heimatland selber eingeräumt, daß er niemals der Wehrmacht den Befehl zum Einmarsch in die Sowjetunion erteilt hätte, hätte er vorher gewußt, daß diese in der Lage wäre, ohne Ende Abertausende Kampfpanzer zu produzieren und in die Schlacht zu werfen. Die Fähigkeit hierzu hatten die Sowjets dadurch erhalten, daß sie in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 2600 Industriebetriebe vor der anrückenden deutschen Offensive retten und zusammen mit 12 Millionen Menschen weit ins Landesinnere hinter den Ural verlegen konnten.


Historisches Schwarz-Weiß-Foto von der frühen Ölförderung in Oklahoma, neben Kalifornien der ölreichste Bundesstaat der USA - Foto: National Archives at College Park, Public domain, via Wikimedia Commons

"Cleveland - Stadt der Öltürme" - Panoramabild aus Oklahoma von 1905, ein Jahr nach der dortigen Entdeckung des Öls
Foto: National Archives at College Park, Public domain, via Wikimedia Commons

Der eindeutige Sieger beider Weltkriege waren die USA. Aus dem ersten Konflikt ging die ölreiche Nation mit der damals mit Abstand führenden Autoindustrie als stärkste Wirtschaftsmacht und größter Gläubigerstaat hervor. Ab 1918 waren nicht mehr die Londoner City und das Pfund Sterling, sondern die Wall Street und der Dollar im internationalen Handels- und Währungsgeschäft das Maß aller Dinge. Als praktisch einziges Land haben die USA den Zweiten Weltkrieg unbeschadet - bis auf die Verwüstungen infolge des "Überraschungsangriffs" der kaiserlich japanischen Armee auf die Marineanlage Pearl Harbour auf Hawaii im Dezember 1941 - überstanden. Der Anteil der USA an der weltweiten Waren- und Lebensmittelproduktion in den ersten Nachkriegsjahren war so überragend - um die 50 Prozent -, daß Washington die Ökonomien Westeuropas und Japans wiederaufbauen mußte, um überhaupt mit ihnen Handel im größeren Maßstab treiben zu können.


Dichte Rauchschwaden verdunkeln den Himmel, während sowjetische Infantristen sich beim Vormarsch hinter ihren Panzern vor Schüssen ducken - Foto: Mil.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Sowjetische Soldaten und zwei T-34-Panzer rücken auf deutsche Positionen am Voronezh-Frontabschnitt während der Kursk-Schlacht im Juli 1943 vor
Foto: Mil.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Zudem befanden sich die USA 1945 als einziger Staat im Besitz der Atombombe. Dies sollte sich jedoch nur vier Jahre später mit dem ersten sowjetischen Kernwaffentest schlagartig ändern. Der Kalte Krieg war geboren, der die Welt quasi in zwei Lager teilte. Bis auf einige Stellvertreterkriege in den Ländern des nicht-industriellen Südens wie beispielsweise in Vietnam traten beide Seiten niemals direkt gegeneinander an. Schließlich gewannen die USA das große Ringen zwischen Kapitalismus und Kommunismus, indem sie erfolgreich die Sowjetunion in einen gigantischen Rüstungswettlauf verwickelten, den letztere aufgrund ihrer kleineren Ressourcenbasis niemals gewinnen konnte. 1987 sah Kennedy bereits das baldige Ende des Kalten Kriegs gekommen. In "Aufstieg und Fall" weist er auf die fortschreitende Annäherung von BRD und DDR sowie den angelaufenen "demokratischen Reformprozeß" im Ostblock, speziell in Moskau, hin.

Kennedy erkannte den Niedergang der Sowjetunion und befürchtete, daß die Auflösung des Warschauer Paktes verheerende Erschütterungen im kontinentalen Ausmaß nach sich ziehen könnte. Was er befürchtet hat, ist jedoch, von regional begrenzten Kriegen in Jugoslawien und Tschetschenien einmal abgesehen, nicht eingetreten. Nur wenige Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 war Deutschland wiedervereinigt, der Warschauer Pakt und die Sowjetunion hatten aufgehört zu existieren.

Im letzten Teil seines Buchs weist Kennedy auch auf die vielen Anzeichen hin, die bereits damals für ein Schwächeln der USA sprachen. Wie bei allen früheren untergegangenen Imperien handelte es sich auch hier um den wachsenden Abstand zwischen nachlassender Wirtschaftspotenz und ausufernden militärischen Verpflichtungen. Doch weil der Gegner des Kalten Kriegs auf dem Ringboden lag und die USA à la Rocky zwar taumelnd immer noch die Faust in die Höhe recken konnten, glaubten die neokonservativen Militaristen in Washington tatsächlich, das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) sei eingetreten, das "unipolare Moment", das heißt die ewige Alleinherrschaft Amerikas über die restliche Staatengemeinschaft gekommen. Für die Kassandra-Rufe Kennedys oder die Warnungen des Meisterdiplomaten George Kennan vor der Osterweiterung der NATO zeigten sich die USA vollkommen taub und gingen im Rahmen verschiedener "Koalitionen der Willigen" zur Expansion über.

Dreißig Jahre danach sieht die Lage der USA alles andere als rosig aus. Gegen das milliardenverschlingende Raketenabwehrsystem des Pentagons haben Rußland und China nicht abzufangende Hyperschallraketen entwickelt. Das teuerste Rüstungsprojekt der Geschichte, der Bau des F-35 Joint Strike Fighter, hat sich als totaler Flop erwiesen. Der einmotorige Kampfjet ist nach Ansicht unvoreingenommener Experten eine technologische Fehlkonstruktion, wird dennoch auf Jahrzehnte hinaus für 100 Millionen Dollar pro Stück weitergebaut. Mit Kriegen und CIA-Interventionen in Afghanistan, dem Irak, Syrien, Somalia, dem Jemen und Libyen haben die USA in der Region zwischen Atlasgebirge und Hindukusch ein gesellschaftliches und religiöses Chaos angerichtet. Die daraus resultierenden Flüchtlingsströme haben längst die EU destabilisiert. Durch das kostspielige militärische Abenteurertum im Ausland haben sich die USA hoch verschuldet und die eigene wirtschaftliche Basis - Stichwort Infrastruktur - stark vernachlässigt. Die Massenarmut und die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft haben ein erschreckendes Ausmaß erreicht.


Karte der umfangreichen Schnellbahntrassen der Volksrepublik China, Südkoreas, Japans, Taiwans, Vietnams und der Mongolei - Abbildung: FlyAkwa (old png file : WouterH), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Ostasiens Hochgeschwindigkeitsbahnnetz im Jahr 2018
Abbildung: FlyAkwa (old png file : WouterH), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Währenddessen hat sich die Volksrepublik China, Nachfolgestaat des Reichs der Mitte, weit schneller als von Kennedy prognostiziert zum größten Wirtschaftsraum der Welt entwickelt. Mit einer Mischung aus Neokonfuzianismus und wirtschaftlichem Staatsdirigismus hat man die zahlenmäßig größte Bevölkerung der Erde extrem produktiv gemacht. Mit rund 800 Millionen Menschen hat die kommunistische Partei innerhalb von 50 Jahren mehr Menschen aus der Armut geholt als jede andere Institution in der Geschichte. Die Chinesen schließen immer mehr Staaten an die Belt and Road Initiative (BRI), auch Neue Seidenstraße genannt, an, deren Aushängeschild das umfangreichste Schnellbahnnetz der Welt ist. Im Rahmen des Programms Made in China 2025 will die Volksrepublik zur führenden Nation in den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI), 5G, Raumfahrt, Halbleiterproduktion, E-Mobilität und Biotechnologie werden und ist längst auf dem besten Weg dahin.

Einzig noch militärisch sowie in der Unterhaltungsindustrie überlegen, suchen die USA nach Wegen, den Aufstieg Chinas zu verhindern, und steuern geradewegs auf einen Krieg mit der Volksrepublik um die Insel Taiwan zu, welche die Festlandschinesen mit großer Mehrheit für einen unveräußerlichen Teil des chinesischen Staatsgebiets halten. Die USA mit ihren Industrieruinenlandschaften im eigenen Land und ihrem weltweiten Netzwerk militärischer Stützpunkte in Übersee weisen alle Symptome einer "imperialen Überdehnung" auf, wie sie Paul Kennedy nicht besser hätte beschreiben können. Sollte es demnächst, wie nicht nur von führenden Friedensaktivisten, sondern auch von namhaften Historikern wie John Mearsheimer erwartet, zum Krieg - eventuell unter Einsatz von Atombomben - zwischen China und den USA kommen, dann wird der alte Hegel Recht gehabt haben: "Aus der Geschichte der Völker können wir lernen, daß die Völker aus der Geschichte nichts gelernt haben."


Blick auf das Deck der Abraham Lincoln, wo mehrere Flugzeuge eingereiht stehen, dahinter die Wüstenlandschaft Ägyptens bei Sonnenuntergang - Foto: Navy Seaman Dan Snow, Public domain, via Wikimedia Commons

Der US-Flugzeugträger Abraham Lincoln passiert 2019 den Suezkanal
Foto: Navy Seaman Dan Snow, Public domain, via Wikimedia Commons


1. Dezember 2021


Paul Kennedy
The Rise & Fall of the Great Powers
Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000
Random House, New York, 1987
667 Seiten / eBook: 2,1 MB
ISBN-10: 0679720197
ISBN: 978-0679720196

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 170 vom 4. Dezember 2021


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