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AFRIKA/176: Südafrika - Festen Boden unter den Füßen (ai journal)


amnesty journal 04/05/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Festen Boden unter den Füßen
Vor 20 Jahren wurde Nelson Mandela aus der Haft entlassen.
Seither hat das Land eine beispiellose Veränderung erlebt.

Von Ingo Jacobsen


Als Nelson Mandela vor 20 Jahren, am 11. Februar 1990, das Gefängnis verließ, waren die Tage der Apartheid gezählt. Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt zitierte Mandela seine eigene Verteidigungsrede von 1964: "Ich habe gegen die weiße Vorherrschaft gekämpft, und ich habe gegen die schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich halte am Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft fest, in der alle Menschen in Harmonie und mit gleichen Möglichkeiten zusammenleben." Er formulierte damit eine Vision von einem neuen Südafrika, die viele teilen konnten.

Mandelas besonnene Worte konnten nicht verhindern, dass die folgenden vier Jahre von blutigen Auseinandersetzungen geprägt waren. Starke Kräfte in Polizei, Militär und Geheimdienst schürten den Konflikt zwischen Mangosuthu Buthelezis Zulubewegung Inkhata und Mandelas Afrikanischem Nationalkongress (ANC). Anhänger der Inkhata fielen mit Unterstützung der weißen Polizei über ANC-Anhänger her. Es entbrannte ein blutiger Kampf, dem in drei Jahren mehr als 3.000 Menschen zum Opfer fielen. Die zwei Massaker von Boipatong und Bisho brachten den Verhandlungsprozess fast zum Erliegen. Aber auch der ANC musste sich schwere Vorwürfe gefallen lassen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Folter, Misshandlungen und Hinrichtungen in ANC-Flüchtlingslagern.

Trotz der Gewalt arbeiteten zur gleichen Zeit Vertreter des alten Regimes, des ANC und anderer Organisationen konstruktiv an einer neuen Verfassung, die als international wegweisend und vorbildhaft gilt. Ihr Grundrechtskatalog enthält neben den bürgerlichen und politischen auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Die Verfassung hat außerdem wichtige Schutzmechanismen geschaffen, wie eine Ombudsstelle und Kommissionen für Menschenrechte sowie ein starkes Verfassungsgericht, das weitgehend unabhängig von politischen Einflüssen besetzt wird. Das Verfassungsgericht hat mittlerweile wichtige Urteile gefällt. So lehnte es die Wiedereinführung der Todesstrafe ab und verpflichtete die Regierung, HIV-infizierte Schwangere mit Medikamenten zu versorgen.

Nur der Artikel 251 in der zunächst gültigen Übergangsverfassung, überschrieben mit "Nationale Einheit und Versöhnung", lag auch Amnesty schwer im Magen. Denn er gewährte eine Amnestie für politisch motivierte Verbrechen, um endlich die Morde und blutigen Kämpfe zu beenden. Es war ein Sieg der "politischen Logik" über die "ethische Logik", wie Alex Boraine - später stellvertretender Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommission - es ausdrückte.

Nach den beeindruckenden ersten freien Wahlen und dem Beginn der Präsidentschaft von Nelson Mandela nahm die Wahrheits- und Versöhnungskommission ihre Arbeit auf Immerhin gelang es ihr, die Straffreiheit an klare Bedingungen zu knüpfen: Voraussetzung war eine vollständige Aussage und ein Antrag innerhalb von 18 Monaten. Zu den wichtigsten Ergebnissen der Kommission zählt, dass sie die furchtbaren Details der Menschenrechtsverletzungen während der Apartheid aufdeckte. Dies geschah in öffentlichen Sitzungen des Komitees für Menschenrechte, über die alle wichtigen Medien ausführlich berichteten. Die Wahrheit erreichte nun auch die Weißen, die vorher der Apartheidregierung blind vertraut und keine Fragen gestellt hatten. Doch nur in den Reihen der Polizei führten erste Geständnisse dazu, dass sich mehr und mehr Täter meldeten, um in den Genuss der Amnestie zu kommen. Innerhalb des Militärs und bei der Inkhata blieb die Schweigefront weitgehend stabil.

Zwar wurden viele Anträge auf Amnestie abgewiesen und alle Vorstöße für eine Generalamnestie scheiterten. Aber durch Anweisungen der Regierung an die nationale Anklagebehörde wurde fast das gleiche Ergebnis erreicht: Eine juristische Aufarbeitung unterblieb weitgehend. Und auch in der Entschädigungsfrage wurden die Opfer enttäuscht. Die Regierung zahlte nur einen Bruchteil dessen, was die Kommission empfohlen hatte.

Auch viele weitere Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Der Anspruch, den die Verfassung formuliert, wird in vielen Fällen nicht eingelöst, etwa bei den Rechten von HIV-Infizierten oder Migranten. Erschreckend hoch ist auch noch immer die Zahl derjenigen, die in Haft oder Polizeigewahrsam getötet werden. Wir mussten lernen, dass mit dem Ende eines Schreckensregimes die Folter nicht verschwindet, weil die Polizei sich daran gewöhnt hatte, sie als Mittel zur Geständniserzwingung zu verwenden.

Dennoch: Die Apartheid, das Unrechtsregime, gegen das die Mehrheit der Schwarzen und eine internationale Bewegung, zu der auch Amnesty gehörte, lange gekämpft hat, ist Geschichte. Die Fundamente, die für das neue Südafrika gelegt worden sind, haben sich als stabil erwiesen. Heute geht es in Südafrika, wie in vielen anderen Ländern, darum, die in der Verfassung garantierten Rechte zu verteidigen und in die Praxis umzusetzen.


Der Autor ist seit 1979 in der Südafrika-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International aktiv.


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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2010, S. 38
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2010