Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

ASIEN/257: Myanmar - Hintergrundinformationen zu Wahlen in Myanmar am 7.11.


Pressemitteilung vom 2. November 2010

Myanmar im Vorfeld der Wahlen: Überblick über die Menschenrechtslage


Myanmar bleibt auch im Jahr 2010 eines der Länder mit der problematischsten Menschenrechtssituation weltweit. Schwere Menschenrechtsverletzungen an ethnischen Minderheiten wie Zwangsarbeit, Rekrutierung von Kindersoldaten und Vertreibung, aber auch landesweite Zensur sowie Repressionen gegen Regierungsgegner sind an der Tagesordnung. Die Zahl der politischen Gefangenen, die meist unter katastrophalen Bedingungen inhaftiert sind, hat sich in den vergangenen drei Jahren mehr als verdoppelt. Es sind heute mehr als 2.200. Auch die Oppositionsführerin und Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi steht weiter unter Hausarrest, wo sie bereits mehr als 14 der letzten 20 Jahre verbringen musste.

Am 7. November 2010 wird das erste Mal seit 20 Jahren gewählt. Amnesty beobachtete im Vorfeld dieser Wahlen zahlreiche gravierende Menschenrechtsverstöße, u.a. durch die im März 2010 erlassenen stark diskriminierenden Wahlgesetze, die vielen Menschen das Wahlrecht aberkennen. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung sowie auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind nicht gewährleistet. Politisch missliebige Menschen werden verfolgt und eingeschüchtert. Nach den Wahlen wird nach dem Willen der Junta eine neue Verfassung in Kraft treten, die die Straflosigkeit für vergangene Menschenrechtsverletzungen festschreibt und den Präsidenten über das Gesetz stellt.


WAHLEN 2010 UND WAHLGESETZE

Am 7. November 2010 finden in Myanmar die ersten Wahlen seit 20 Jahren statt. Bei den letzten Wahlen 1990 hatte die oppositionelle "Nationale Liga für Demokratie" (NLD) einen Erdrutschsieg errungen, der von der Militärregierung nie anerkannt wurde. Vor einigen Monaten annullierte die Junta den Wahlsieg der NLD offiziell. Bereits seit einiger Zeit hat das Militärregime gesetzliche Vorbereitungen für diese Wahlen getroffen, die Teil ihrer sogenannten "Roadmap to Democracy" sind. Ein vorangegangener Schritt war die Verfassungsänderung von 2008, die unmittelbar nach den Wahlen in Kraft treten soll. Der Verfassungstext ist aus menschenrechtlicher Sicht hochproblematisch, er zementiert die Macht des Militärs und garantiert Straffreiheit für alle Regierungsbeamte. Grundrechte, wie das Recht auf Schutz vor Folter, werden von der Verfassung ignoriert; die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Die Abstimmung über die Verfassung im Jahr 2008, die nur kurz nach den Zerstörungen des Zyklon Nargis abgehalten wurde, war gekennzeichnet von Zwangsabstimmungen und anderweitigem Wahlbetrug.

Daneben wurden im März 2010 mehrere Wahlgesetze verabschiedet. Diese sind vielfach diskriminierend und schließen große Bevölkerungsgruppen, v.a. oppositionspolitische Kräfte, effektiv von der Wahl aus. Die Wahlgesetze entziehen z.B. all jenen das Wahlrecht, die nach Definition der Regierung "unzurechnungsfähig" oder nicht zahlungsfähig sind. Was das genau bedeutet, wird der Willkür der Behörden überlassen. So dürfen keine Gefangenen an den Wahlen teilnehmen oder sich zur Wahl stellen. Vor diesem Hintergrund hat die NLD erklärt, die Wahlen zu boykottieren.

Die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden durch diese Gesetze noch weiter als ohnehin eingeschränkt. Darüber hinaus führte die Junta im Juni verschärfte Zensurbestimmungen ein. Die Wahlkommission erklärte im selben Monat, dass keine Partei antreten dürfe, die nach ihrer Auffassung "die Sicherheit, die Rechtsstaatlichkeit oder den sozialen Frieden" gefährde. Die Militärregierung droht außerdem mit Gesetzen, die fünf bis 20 Jahre Haft für diejenigen vorsehen, die z.B. in Wort oder Schrift die Stabilität des Landes oder Recht und Ordnung gefährden. Vor diesem Hintergrund befürchtet Amnesty, dass es anlässlich der Wahlen zu zahlreichen Verhaftungen friedlicher politischer Aktivisten und möglicherweise auch zu einer Eskalation der Gewalt kommt.


POLITISCHE GEFANGENE

Die Zahl politischer Gefangener liegt bei über 2.200 und hat sich damit seit der sogenannten Safranrevolution im Jahr 2007 mehr als verdoppelt. Die überwältigende Mehrheit sitzt allein deshalb in Haft, weil sie friedlich von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hat. Zwei große Wellen von Freilassungen gab es im Februar und September 2009, unter diesen über 13.000 freigelassenen Häftlingen waren jedoch nur 158 politische Gefangene. Es ist daher fraglich, ob bei der Amnestie, die im Rahmen der Wahlen angekündigt ist, tatsächlich eine größere Zahl politischer Häftlinge freikommen wird.

Mindestens 700 der weiterhin in Haft sitzenden politischen Gefangenen wurden allein auf Grund ihrer Teilnahme an der friedlichen Demonstration von 2007 inhaftiert. Andere erhielten in Zusammenhang mit dem Zyklon Nargis 2009 hohe Haftstrafen, weil sie Überlebenden Hilfe brachten, über das Maß der Zerstörung berichteten oder einfach nur, weil sie Opfer bestattet hatten. Viele sitzen nach unfairen Schnellverfahren drakonische Haftstrafen von 20, 30 oder mehr Jahren ab. Die Prozesse in Myanmar genügen nicht den internationalen Standards, es kommt zu Festnahmen ohne Haftbefehle und viele Inhaftierte werden über längere Zeiträume hinweg ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten.

Auch die Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi befindet sich weiterhin unter Hausarrest. In einem offensichtlich politisch motivierten Verfahren im vergangenen Jahr wegen Verstoßes gegen ihren Hausarrest wurde der Arrest um weitere 18 Monate verlängert - u.a. aus diesem Grund darf sie auch nicht bei den anstehenden Wahlen kandidieren. Suu Kyi hat mittlerweile mehr als 14 der letzten 20 Jahre unter Arrest gestanden. Es bleibt abzuwarten, ob die Junta sie, wie angekündigt, tatsächlich nach den Wahlen freilassen wird. In der Vergangenheit wurde sie nach einer Freilassung oft nach kurzer Zeit erneut inhaftiert oder unter Arrest gestellt.


Beispiel eines gewaltlosen politischen Gefangenen: U Win Htein

Der friedliche Aktivist U Win Htein, ehemaliger Privatsekretär Aung San Suu Kyis, wurde 1996 verhaftet und zu 14 Jahren Haft verurteilt, allein weil er sein Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit in Anspruch genommen hatte. Im Rahmen einer Amnestie ließ ihn die Regierung am 23. September 2008 frei. Er wurde jedoch nur wenige Stunden später erneut verhaftet. Seither sitzt er offenbar in Einzelhaft. Die Behörden nannten keine Gründe dafür und es ist völlig unklar, wie lange er noch in Haft bleiben soll.


HAFTBEDINGUNGEN

Die Haftbedingungen in Myanmar sind desolat. Sie führen bei vielen Inhaftierten zu teilweise schwerwiegenden Erkrankungen. Den Gefangenen werden Medikamente, ausreichende Nahrungsversorgung oder ärztliche Untersuchungen verweigert. Politische Gefangene werden außerdem häufig missbraucht oder gefoltert. Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) hat seit Ende 2005 keinen Zutritt mehr zu den Gefängnissen in Myanmar. Um gegen ihre Behandlung und die schlechten Haftbedingungen zu protestieren, treten politische Gefangene immer wieder in Hungerstreik. Die Gefängnisbehörden reagieren auf Häftlingsproteste mit Folter oder grausamer, erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung. Zu den Strafmaßnahmen gehören Kürzungen der Essenssration, das Anketten, die Verlegung in Dunkelzellen oder in Zwinger für Militärhunde über längere Zeiträume hinweg.


Beispiel Haftbedingungen:

Der prominenteste unter den gewaltlosen politischen Gefangenen ist der 49-jährige Komiker und Schauspieler Zarganar, der 2008 für seine öffentliche Kritik an der Junta wegen unzulänglicher Reaktionen und Hilfeleistungen nach dem Zyklon Nargis zu insgesamt 59 Jahren Haft verurteilt wurde. Zarganar hatte in Interviews mit ausländischen Medien über die gewaltigen Zerstörungen berichtet. Er initiierte eine eigene Hilfsaktion und dokumentierte die desolate Situation der betroffenen Menschen, was schließlich zu seiner Verhaftung und mindestens 21 weiteren freiwilligen Helfern und Helferinnen führte. Im März 2009 reduzierte ein Gericht das Strafmaß dann auf 35 Jahre. Die Strafe erging aufgrund vage gefasster Bestimmungen eines Gesetzes, das die elektronische Kommunikation regelt ("Electronic Act") und in der Praxis gewaltfreie abweichende Meinungen kriminalisiert. Infolge der miserablen Haftbedingungen und schlechter Versorgung ist Zarganars Gesundheitszustand besorgniserregend. Ende 2008 wurde er in ein Gefängnis verlegt, das vier Tagesreisen von seiner Familie entfernt liegt, obwohl er auf die Versorgung seiner Familie mit Medikamenten und Nahrung angewiesen ist. Amnesty befürchtet, dass er in Haft gefoltert und misshandelt wird.


MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN AN ETHNISCHEN MINDERHEITEN / VERBRECHEN GEGEN DIE MENSCHLICHKEIT

Myanmar ist ein Vielvölkerstaat mit 135 Ethnien, die Minderheiten werden stark diskriminiert und z.B. in ihrer Religions- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Zahlreiche Rebellengruppen verschiedener Minderheiten kämpften oder kämpfen für Unabhängigkeit oder mehr Autonomie von der Zentralregierung. Seit 1989 hat die Militärregierung mit 17 ethnischen Gruppen Waffenstillstandsabkommen geschlossen. Gegen die Karen im Osten des Landes setzt die Armee jedoch ihre seit 2006 laufende Offensive fort. Auch Gebiete, in denen die ethnischen Minderheiten der Shan und Karenni leben, sind betroffen. Amnesty liegen Berichte über systematische Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte in einem solchen Ausmaß vor, dass sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.

Menschenrechtsverletzungen in Myanmar gegen ethnische Minderheiten sind u.a. willkürliche Festnahmen, Zwangsarbeit, Landkonfiszierungen und rechtswidrige Zwangsräumungen. Zwangsarbeit findet in der Regel für das Militär statt, z.B. im Straßenbau, beim Bau von Kasernen oder in der Räumung von Landminen. Es gibt zahlreiche Berichte von Vergewaltigungen, außergerichtlichen Tötungen und Folter. Kinder werden auf beiden Seiten als Soldaten eingesetzt, Menschen werden von den Militärs vertrieben und ihre Dörfer niedergebrannt. Die Zahl der Binnenflüchtlinge lag im letzten Jahr bei 500.000.

Eine weitere Volksgruppe, die systematisch unterdrückt wird, sind die muslimischen Rohingya im Westen des Landes. Ihr Schicksal wurde auf besonders tragische Weise deutlich, als Hunderte von ihnen im Januar 2009 auf ihrer Flucht über das Meer ertranken. In den letzten drei Jahrzehnten flohen hunderttausende Rohingya in die Nachbarländer.


AMNESTY INTERNATIONAL FORDERT ZU DEN WAHLEN

alle bestehenden Beschränkungen friedlicher politischer Aktivitäten aufzuheben sowie Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit zu gewährleisten.
den unbeschränkte Zugang zu Medien und anderen Formen der Information zu gewährleisten.
alle gewaltlosen politischen Gefangenen sofort und bedingungslos freizulassen und faire Verfahren für die übrigen politischen Gefangenen durchzuführen.

*


Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 2. November 2010
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
Telefon: 030/42 02 48-306
Fax: 030/42 02 48 - 330
E-Mail: presse@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010