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NAHOST/097: Situation irakischer Flüchtlinge in Syrien (ai journal)


amnesty journal 9/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Flucht vor dem Terror
Eine Delegation von amnesty international informierte sich über die schwierige Situation irakischer Flüchtlinge in Syrien.

Von Ruth Jüttner


"Immer wenn die Bilder meiner Entführung in mir hoch steigen, wünsche ich mir, ich wäre tot." Jussufs * Stimme stockt, er beginnt zu weinen, legt den Kopf auf den Tisch. Der 20-Jährige arbeitete in Bagdad als Polizeioffizier. Seine Aufgabe war es, Kirchen und Einrichtungen religiöser Minderheiten zu schützen. Dies wurde ihm zum Verhängnis. Im November 2006 erhielt er Morddrohungen. Kurze Zeit später wurde er von drei maskierten und bewaffneten Männern entführt. In der Geiselhaft wurde Jussuf geschlagen, gefoltert und vergewaltigt.

Fast jede irakische Familie, mit der Vertreter von ai während einer dreiwöchigen Forschungsreise im Juni in Syrien sprach, berichtete von ähnlich grausamen Erlebnissen, die sie zur Flucht gezwungen hatte. Seit den Anschlägen auf das schiitische Heiligtum in der Goldenen Moschee von Samarra im Februar 2006 haben Terror und Gewalt stark zugenommen. Knapp zwei Millionen Iraker wurden bislang aus ihren Häusern vertrieben und leben nun als Flüchtlinge im eigenen Land. Weitere zwei Millionen Iraker haben Zuflucht in den Nachbarstaaten gesucht. Jeder siebte Iraker ist auf der Flucht.

Die meisten Nachbarstaaten haben ihre Grenzen für irakische Flüchtlinge geschlossen oder restriktive Visa-Bestimmungen eingeführt. Syrien ist das einzige Land in der Region, dessen Grenzen für Iraker weiterhin offen stehen. Jeden Tag überqueren etwa 2.000 Iraker die Grenze, etwa die Hälfte bleibt dauerhaft in Syrien. Rund 1,4 Millionen Iraker leben gegenwärtig in Syrien. Die Flüchtlingskrise hat sich nahezu unbemerkt von der internationalen Öffentlichkeit entwickelt. Es gibt keine Wüstenlager, in denen die Flüchtlinge in Zelten ein trostloses Dasein fristen. Vielmehr handelt es sich um ein urbanes Problem.

Die Flüchtlinge stammen zumeist aus der städtischen Mittelschicht. Die Mehrheit von ihnen, etwa 80 Prozent, haben sich in Damaskus und Umgebung angesiedelt. Die Neuankömmlinge verbringen die ersten Tage bei Angehörigen oder Freunden, bis sie eine eigene Wohnung gefunden haben. Vor allem die beiden Damaszener Stadtteile Sayyida Zeinab und Jaramana sind von irakischen Flüchtlingen geprägt. Restaurants tragen Namen wie "Bagdad Kebab" oder "Café Fallujah". Die Hauptstraße in Jaramana ist gesäumt von Reisebüros, die Fahrten nach Bagdad anbieten.

Adel * ist einer dieser urbanen Flüchtlinge. Der 46-jährige Vater von fünf Kindern stammt aus Kerbala und lehrte dort als Dozent an der Technischen Hochschule. Nach dem Sturz Saddam Husseins schloss er sich einer Menschenrechtsgruppe an, die versuchte, das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären und die 42 Massengräber in Kerbala dokumentierte. Adel nahm an einer Ausbildung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Wahlbeobachter teil und wurde im Herbst 2005 nach Deutschland eingeladen. Zurück in Kerbala schulte er selbst Ausbilder. "Ich habe in meinen Kursen vermittelt, dass die Menschenrechte auch in unserer Tradition und im schiitischen Islam verwurzelt sind und dass es keinen Widerspruch zwischen Islam und Menschenrechten gibt", erklärte er.

Diese Ideen stießen nicht nur auf Zustimmung. Ein Zuhörer warf Adel vor, er sei kein echter Muslim und würde von den amerikanischen Besatzern bezahlt. Im Sommer 2006 entging Adel nur knapp einem Mordanschlag. Als er den Anschlag meldete, gaben ihm die Polizisten zu verstehen, dass sie ihn nicht schützen könnten. Der einzige Ausweg war die Flucht. Adel wurde vom UNHCR in Syrien als Flüchtling anerkannt, seine Familie folgte ihm Anfang dieses Jahres.

Keines seiner Kinder geht gegenwärtig zur Schule. Obwohl in Syrien alle irakischen Kinder Grund- und Mittelschulen kostenfrei besuchen können, waren zum Ende des vergangenen Schuljahres nur 32.0000 irakische Kinder in den öffentlichen Schulen registriert. Das entspricht wahrscheinlich einem Anteil von nur zehn Prozent der schulpflichtigen Flüchtlingskinder. Die Gründe dafür sind vor allem in den hohen Kosten für Schuluniformen und Schreibwaren zu suchen. Oft müssen die Kinder arbeiten, um das Familieneinkommen aufzustocken. Viele Flüchtlinge berichten, dass sie ihre Kinder bereits im Irak aus Angst um ihre Sicherheit nicht mehr regelmäßig zur Schule geschickt hatten.

Die syrische Regierung und auch die Bevölkerung haben die irakischen Flüchtlinge großzügig aufgenommen. Aber je länger die gewaltsamen Konflikte im Irak andauern, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass die Iraker langfristigen Schutz brauchen. Die Belastungen, die die Versorgung einer so großen Anzahl von Flüchtlingen für die syrische Gesellschaft mit sich bringt, sind unübersehbar.

Die Immobilienpreise sind nach offiziellen Angaben um 40 Prozent, die Mieten um 150 Prozent gestiegen. Die Stromversorgung ist wegen des gestiegenen Bedarfs überlastet. Obwohl die irakischen Flüchtlinge offiziell nicht arbeiten dürfen, suchen viele auf dem informellen Arbeitsmarkt einen zumeist schlecht bezahlten Job. Sie arbeiten als Kellner, Hilfsarbeiter, auf dem Bau oder im Kleingewerbe. Immer öfter ist zu hören, dass die Iraker die Löhne drücken und syrische Arbeitssuchende verdrängen. Für irakische Frauen, die allein eine Familie versorgen müssen, ist die Lage besonders schwierig. Für sie bestehen traditionell wenig Einkommensmöglichkeiten. Viele arbeiten als Dienstmädchen oder Putzfrauen. Sie sind in diesen informellen Arbeitsverhältnissen sexuellen Übergriffen schutzlos ausgeliefert.

Dabei könnte die größte humanitäre Krise erst noch bevorstehen. Viele irakische Flüchtlinge haben ihre Ersparnisse völlig aufgebraucht. Die Zahl derjenigen Iraker, die auf regelmäßige Unterstützung angewiesen sind, steigt. Gegenwärtig verteilen internationale Hilfsorganisationen wie das UNHCR und das UN-Welternährungsprogramm mit Hilfe des "Syrischen Halbmonds" Lebensmittelrationen an etwa 30. irakische Flüchtlinge, die aus Trockenprodukten wie Reis und Linsen sowie Speiseöl bestehen. Sie decken bei weitem nicht den täglichen Bedarf für eine gesunde und ausgewogene Ernährung.

Den Flüchtlingen fehlt es auch an Perspektiven. Sie hoffen darauf, mit Hilfe des UNHCR Aufnahme außerhalb der Region zu finden. Eine trügerische Hoffnung, denn in den vergangenen drei Jahren konnten durchschnittlich nur knapp 600 irakische Flüchtlinge an aufnahmebereite Staaten vermittelt werden.

Die Autorin ist Nahost-Expertin von ai.

* Namen geändert


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Quelle:
amnesty journal, September 2007, S. 28-29
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2007