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NAHOST/111: Frauen im Irak - Ohne Schutz und ohne Rechte (ai journal)


amnesty journal 06/07/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Ohne Schutz und ohne Rechte

Auch sieben Jahre nach dem Sturz von Saddam Hussein gibt es im Irak kein Ende der Gewalt. Darunter leiden vor allem Frauen und Angehörige religiöser Minderheiten.

Von Daniel Kreuz


Das 17-jährige Mädchen hatte keine Chance. Angefeuert von der umstehenden Menschenmenge prügelten und traten acht bis neun Männer auf offener Straße eine halbe Stunde lang auf Du'a Khalil Asward ein, beschimpften sie, zogen ihr den Rock aus und steinigten sie. Als einer der Täter, darunter auch Verwandte des Opfers, das Mädchen mit einem Betonklotz erschlug, jubelte der Mob. In seinen Augen hatte Du'a Khalil Asward die Familienehre beschmutzt, weil sie als Angehörige der kurdischsprachigen Minderheit der Jesiden eine Liebesbeziehung mit einem jungen sunnitischen Muslim eingegangen war. Die Täter filmten die Steinigung im nordirakischen Bashika mit einem Handy und stellten die verwackelten Bilder später ins Internet. Darauf sind auch Sicherheitskräfte zu erkennen, die jedoch nicht eingreifen.

Der Mord an Du'a Khalil Asward am 7. April 2007 war selbst für irakische Verhältnisse ein besonders grausames Verbrechen. Doch das Verhalten der Sicherheitskräfte ist symptomatisch. Trotz verbesserter Gesetze im kurdischen Norden erhalten Frauen im Irak nur in seltenen Fällen Schutz, wenn sie Opfer von häuslicher Gewalt, Verbrechen im Namen der "Ehre" oder Zwangsheiraten werden. All zu häufig haben Polizisten Verständnis für die Täter. Die Gesetze bestätigen sie noch in dieser Ansicht: Im Zentral- und Südirak kann ein Mörder, der erklärt, "aus Gründen der Ehre" gehandelt zu haben, mit sechs Monaten Gefängnis davonkommen. Ehemänner haben nichts zu befürchten, wenn sie ihre Ehefrauen schlagen. Die Gesetze schließen bei einer solchen "Disziplinierung" eine Strafverfolgung aus.


"Die Iraker leben in einem Klima ständiger Angst"

Frauen und Mädchen droht jedoch nicht nur in den eigenen vier Wänden Gefahr. Auch auf den Straßen sind sie nicht sicher. Denn obwohl die Gewalt in den vergangenen zwei Jahren zurückgegangen ist, werden noch immer jeden Monat Hunderte Zivilisten bei militärischen Operationen und Anschlägen getötet oder verstümmelt. Die Täter stammen aus den Reihen der irakischen Sicherheitskräfte, der US-Armee oder privater Sicherheitsfirmen. Doch für die meisten Morde sind bewaffnete Gruppen verantwortlich, wie schiitische Milizen oder der "Islamische Staat Irak", ein Ableger des sunnitisch dominierten Terrornetzwerks Al-Qaida. Angeheizt durch Anschläge von Osama Bin Ladens Gefolgsleuten drohte der Irak 2006 und 2007 an der Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten zu zerbrechen. Zumindest diese Gefahr scheint heute gebannt.

Doch nach wie vor versuchen bewaffnete Gruppen mit Anschlägen wahllos möglichst viele Zivilisten zu töten, um das Vertrauen in den Staat zu erschüttern. Sie nehmen aber auch gezielt einzelne Gruppen ins Visier. Besonders gefährdet sind Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Angehörige religiöser Minderheiten, Frauen, Homosexuelle und Flüchtlinge. Dies dokumentiert ein im April veröffentlichter Bericht von Amnesty International.

"Die Iraker leben in einem Klima ständiger Angst", sagt Amnesty-Experte Carsten Jürgensen. "Regierung, Polizei und Justiz tun zu wenig, um potenzielle Opfer zu schützen und um die Täter zur Rechenschaft zuziehen." Jürgensen fordert, alle Milizen zu entwaffnen und die gesetzlichen Ausnahmeregelungen wegen "ehrenhafter Motive" abzuschaffen. Zudem sollten Ausweise keine Angaben mehr über die religiöse Zugehörigkeit enthalten.

Eben diese Praxis wurde 23 Jesiden im April 2007 zum Verhängnis. Nach der Steinigung von Du'a Khalil Asward waren Gerüchte laut geworden, dass das Mädchen vor seinem Tod zum Islam konvertiert sei. Sunnitische Extremisten schworen Rache. Zwei Wochen nach der Steinigung stoppten sie auf der Straße zwischen Mosul und Bashika einen Bus. Anhand der Pässe identifizierten sie die jesidischen Passagiere, zwangen sie auszusteigen und erschossen sie.


"Ein Irak ohne Christen wird wie Afghanistan unter den Taliban sein"

Auch die irakischen Christen sind Opfer religiös motivierter Gewalt. Der Amnesty-Bericht verzeichnet für den Zeitraum zwischen Mitte 2004 und Ende 2009 mindestens 65 Anschläge auf Kirchen mit Dutzenden Toten. Allein im Februar 2010 wurden in Mosul acht Christen ermordet. Eine 58-jährige Christin berichtete gegenüber Amnesty von einem Übergriff in der Stadt vom Februar 2007. Vier maskierte Männer waren in ihr Haus eingedrungen, hatten sie mit einer Pistole bedroht und ihren Ehemann geschlagen und getreten. Das Ehepaar bekam 24 Stunden Zeit, entweder zum Islam zu konvertieren oder sein Haus zu verlassen. "Direkt am nächsten Tag nahmen wir früh morgens ein Taxi und fuhren nach Syrien. Wir ließen einfach alles stehen und liegen."

Der chaldäisch-katholische Erzbischof von Kirkuk, Louis Sako, warnte im Januar 2010: "Ich habe große Sorge um unsere Zukunft. Ein Irak ohne Christen wird wie Afghanistan unter den Taliban sein." Schon seit langem tragen viele nicht-muslimische Frauen aus Angst vor militanten Islamisten ein Kopftuch oder einen Ganzkörperschleier. Dass diese Angst berechtigt ist, zeigt die südirakische Stadt Basra. Hier wurden in den vergangenen Jahren Dutzende Frauen ermordet. Neben einigen Leichen hatten die Killer Zettel hinterlassen: die Frauen seien wegen angeblich "unislamischen" Verhaltens getötet worden.

Am 19. April 2010 verkündete Premier Nuri Al-Maliki persönlich, dass zumindest der Terror von Osama bin Ladens Netzwerk im Irak bald ein Ende haben werde. Auf einer Pressekonferenz hielt er Fotos der Leichen der beiden irakischen Al-Qaida-Führer in die Kameras. Abu Ajjub al-Masri und Abu Omar al-Baghdadi waren bei einem Anti-Terror-Einsatz von irakischen und US-amerikanischen Soldaten getötet worden. Ob dies wirklich der Untergang Al-Qaidas im Irak ist oder ob sich die Organisation von diesem Schlag erholen wird, muss sich erst noch zeigen. Der Verlust ihrer Doppelspitze dürfte sie zumindest geschwächt haben.

Doch die brutale Antwort auf den Tod ihrer Anführer ließ nicht lange auf sich warten. Vier Tage nach der Pressekonferenz erschütterten sechs Explosionen die Hauptstadt Bagdad und töteten mindestens 63 Menschen. Die meisten von ihnen waren Schiiten, die sich zum Freitagsgebet versammelt hatten. Damit waren wieder einmal hauptsächlich Zivilisten die Opfer. Wie so oft im Irak.


Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.

Den vollständigen englischsprachigen Amnesty-Bericht finden Sie auf www.amnesty.de


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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2010, S. 52-53
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2010