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NAHOST/129: Der lange Atem der Revolution (ai journal)


amnesty journal 10/11/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Der lange Atem der Revolution

von Ralf Rebmann


Ägypten und Tunesien nehmen die juristische Aufarbeitung der jüngsten Umstürze selbst in die Hand. Es ist eine historische Chance, um mit der bisherigen Straflosigkeit zu brechen. Die Protestbewegung bleibt misstrauisch.


In einigen Stationen der Kairoer Metro bekommt man ihn noch zu Gesicht: Hosni Mubarak. In den achtziger Jahren wurde eine Haltestelle der Linie 1 nach dem ehemaligen ägyptischen Präsidenten benannt. Mittlerweile heißt sie "Al Shohadaa", was soviel wie Märtyrer bedeutet und an die Demonstranten erinnern soll, die während der Unruhen im Frühjahr getötet wurden. Nicht an jeder Haltestelle wurde der alte Name bereits überklebt oder eigenhändig abgekratzt.

Die juristische Aufarbeitung soll indessen schnellere Fortschritte machen: In einer Polizeischule am Rande Kairos wird derzeit Hosni Mubarak, seinem ehemaligen Innenminister Habib El Adly, Mubaraks Söhnen Alaa und Gamal sowie sechs Polizisten der Prozess gemacht. Jedoch nicht wegen jahrzehntelanger Repression von Regierungsgegnern oder der willkürlichen Verhaftung von mutmaßlichen Terroristen. Hosni Mubarak ist angeklagt wegen Korruption, Machtmissbrauch sowie der Mittäterschaft an der Tötung von Hunderten Demonstranten. 840 Personen sollen es nach offiziellen Angaben gewesen sein.

"Der Prozess ist eine historische Möglichkeit, den ehemaligen Präsidenten und seine engsten Vertrauten für ihre jüngsten Verbrechen verantwortlich zu machen", sagt Malcolm Smart, Direktor der Abteilung Naher und Mittlerer Osten und Nordafrika bei Amnesty International. Am 3. August, dem ersten Prozesstag, konnten Millionen Menschen live auf ihren Fernsehgeräten verfolgen, wie der ehemals mächtigste Mann Ägyptens im Krankenbett liegend in den Gerichtssaal gerollt wurde - gesundheitlich angeschlagen, aber offensichtlich verhandlungsfähig. Er plädierte auf "nicht schuldig".

Das Verfahren gegen Mubarak sei eine "Lehrstunde für die gesamte arabische Welt", so Abdullah Siraj. Der gebürtige Jemenit wohnt schon seit mehreren Jahren in Kairo. Er hat auf dem Tahrir-Platz gegen Mubarak demonstriert und mit den Ägyptern gefeiert, als dieser gestürzt wurde. "Wenn er nicht schuldig gesprochen wird, dann wird sich das Volk wieder erheben und protestieren", glaubt der 36-Jährige. Bei einer Verurteilung droht dem ehemaligen ägyptischen Präsidenten die Todesstrafe. Abdullah Siraj ist sich sicher, dass die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung dies befürwortet. Amnesty International lehnt die Todesstrafe kategorisch ab. "Fair und transparent" müsse Mubaraks Prozess stattdessen ablaufen, um mit dem bisherigen Klima der Straflosigkeit zu brechen, so Smart.

Auch die Hinterbliebenen der Opfer verlangen einen fairen und transparenten Prozess. Jedoch konnten einige Familien aus Platzgründen nicht an den Verfahren im Gerichtssaal teilnehmen. Weitere Unregelmäßigkeiten und Verzögerungen im Prozessablauf verstärken das Misstrauen gegenüber der Justiz: Medienberichten zufolge änderten mehrere Zeugen im Prozess gegen Mubarak ihre Aussage. Darunter befand sich auch Mohammed Abdel-Hakim, einer der Hauptbelastungszeugen. Für weitere Kritik sorgt, dass zentrale Forderungen an die Militärregierung immer noch nicht erfüllt sind: Zivilisten werden weiterhin vor Militärgerichten angeklagt, Demonstrationen kriminalisiert. Der seit Jahrzehnten geltende Ausnahmezustand ist bis heute nicht aufgehoben.

Das Ende des ehemaligen tunesischen Präsidenten Ben Ali wurde am 14. Januar eingeleitet. Die Protestbewegung zwang ihn und seine Frau zur Flucht nach Saudi-Arabien, wo sie sich bis heute befinden. Im Juni wurden beide von einem tunesischen Gericht in Abwesenheit zu 35 Jahren Haft und einer Geldstrafe in Millionenhöhe verurteilt. Für die brutale Niederschlagung der Proteste, die mehr als 200 Menschen das Leben kostete, und die Unterdrückung von Regierungsgegnern während seiner Amtszeit, musste sich Ben Ali bisher nicht verantworten.

Die Protestbewegung in Tunesien befürchtet, dass Vertraute Ben Alis von der Übergangsregierung geschützt werden. Sie verweisen auf zwei ehemalige Minister, die wegen Korruption angeklagt waren, aber schließlich freigesprochen wurden. "Die Menschen wollen eine unabhängige Justiz", war deshalb eine Forderung, die auf Plakaten von Demonstranten am 8. August in Tunis zu lesen war. Hunderte Menschen nahmen an diesem Protest teil. "Es ist ein gutes Zeichen, dass die Tunesier auf die Unehrlichkeit der Übergangsregierung reagieren", schrieb die prominente Bloggerin Lina Ben Mhenni im August in ihrem Blog "A Tunisian Girl". "Sie wissen, dass die Revolution gerade erst begonnen hat und dass sie immer wieder kämpfen müssen, um das Tunesien ihrer Träume zu erschaffen."

Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2011, S. 37
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2011