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NAHOST/135: Ägypten - Macht der Militärs (ai journal)


amnesty journal 02/03/2012 - Das Magazin für die Menschenrechte

Macht der Militärs

von Henning Franzmeier und Jan Busse


Ägypten hat mit den Parlamentswahlen einen ersten Schritt in Richtung eines zivilen, demokratischen Staates gemacht. Ob der Übergangsprozess tatsächlich gelingt, ist allerdings ungewiss: Das ägyptische Militär hat wenig Interesse daran, seinen Ein in Politik und Wirtschaft aufzugeben.


In diesen Wochen jährt sich zum ersten Mal der Sturz von Ägyptens Präsident Mubarak. Die Parlamentswahlen nähern sich ihrem Ende. Diese können - trotz kleinerer Unregelmäßigkeiten und eines sehr komplizierten Wahlrechts - als die freiesten bezeichnet werden, die das Land je erlebt hat. Dutzende neuer Parteien wurden gegründet und treten bei der Wahl an. Vordergründig hat sich die Lage in Ägypten sehr verändert. Und dennoch befindet sich das Land weiterhin in einem Prozess des Übergangs, dessen Ausgang ungewiss ist. Noch immer werden alle wichtigen politischen Entscheidungen vom Hohen Militärrat getroffen, dessen Vorsitzender, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, bereits seit 1991 Verteidigungsminister unter Husni Mubarak war.

Kontinuität ist auch im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen zu beobachten: Der Ausnahmezustand ist seit mehr als 30 Jahren ununterbrochen in Kraft. Trotz mehrfacher Ankündigung wurde er bis heute nicht aufgehoben. Im Gegenteil: Die Ausnahmegesetzgebung wurde noch ausgeweitet - so wurde zum Beispiel das Streikrecht massiv eingeschränkt. Gegen Proteste geht die Militärführung weiterhin mit unverhältnismäßiger Gewalt vor. Vor dem Beginn und während der Wahlen wurden Ende 2011 bei Demonstrationen Dutzende Menschen von Sicherheitskräften getötet. Bei diesen Demonstrationen wurden auch Frauen gezielt angegriffen. Ein Video, das zeigt, wie eine Frau halbnackt von Soldaten über den Asphalt geschleift und misshandelt wird, verbreitete sich in Windeseile weltweit. Acht weitere Frauen wurden von Soldaten in ein Gebäude des Parlamentes verschleppt und dort verprügelt und sexuell belästigt. Mindestens zwei von ihnen mussten anschließend stationär behandelt werden.

Nach wie vor finden Prozesse gegen Zivilisten vor Militärgerichten statt - was einen Verstoß gegen internationale Standards für faire Gerichtsverfahren darstellt. Mehr als 12.000 Zivilisten wurden seit Februar 2011 von Militärgerichten zu teilweise langjährigen Haftstrafen und in mindestens neun Fällen zum Tode verurteilt. Die Verfahren dienen unter anderem dazu, kritische Blogger und Demonstrierende zum Schweigen zu bringen. Einer von ihnen ist Amr al-Beheiri. Er wurde nach einer Demonstration im Frühjahr 2011 festgenommen, von einem Militärgericht in einem kurzen Prozess zu fünf Jahren Haft verurteilt und sitzt nun im Gefängnis von Wadi al-Gedid im Süden Ägyptens, etwa 700 Kilometer von Kairo entfernt.

Positiv ist hingegen ein Gerichtsurteil aus dem Dezember 2011 zu bewerten. Die 25-jährige Samira Ibrahim, die im März nach einer Festnahme in der Nähe des Tahrir-Platzes einem sogenannten Jungfräulichkeitstest unterzogen worden war, hatte gegen diese erniedrigende Praxis geklagt. Ein Verwaltungsgericht in Kairo stellte nun fest, dass es sich bei den "Jungfräulichkeitstests" um einen Rechtsbruch gehandelt habe.

Dennoch spielen die Rechte von Frauen im Übergangsprozess nur eine untergeordnete Rolle. Zwar standen und stehen Frauen während der Proteste mit in der ersten Reihe, doch in den politischen Gremien sind sie kaum vertreten. So gehörte der Gruppe, die im Frühjahr 2011 erste Veränderungen an der Verfassung vorgenommen hatte, keine einzige Frau an. Und das Wahlgesetz für die Parlamentswahlen bestimmt zwar, dass auf der Liste jeder Partei mindestens eine Frau vertreten sein muss, doch stehen diese Kandidatinnen nun zumeist chancenlos auf den hinteren Listenplätzen.

Darüber hinaus bergen soziale und ökonomische Spannungen weiterhin ein hohes Konfliktpotenzial. Noch immer leben 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der von den Vereinten Nationen festgelegten Armutsgrenze von zwei US-Dollar am Tag. Für diese 32 Millionen Menschen hat sich seit dem Umsturz wenig zum Positiven verändert. Im Gegenteil - die Inflation hat sich sogar noch verschärft. Dass ausländische Touristen wegbleiben, hat der ägyptischen Wirtschaft erhebliche finanzielle Einbußen beschert.

Auch für die Bewohner der informellen Siedlungen in Ägypten hat sich wenig verändert. Die Zwangsräumungen wurden fortgesetzt, so wurden zum Beispiel im Juli in Zerzara, einem Vorort von Port Said, 70 Familien obdachlos zurückgelassen. Die Räumung wurde von Militärangehörigen durchgeführt.

Mit all diesen Problemen wird eine zukünftige Regierung zu kämpfen haben, ganz gleich welcher Partei ihre Mitglieder angehören. Für den politischen Übergang Ägyptens wird die Rolle des Militärs von zentraler Bedeutung bleiben. Es ist davon auszugehen, dass das Militär insbesondere in zwei Bereichen keinerlei Änderungen des Status quo akzeptieren wird. Zum einen wird das Militär nur schwerlich dazu bereit sein, seine wirtschaftlichen Verflechtungen zu reduzieren. Unternehmen des Militärs erbringen Schätzungen zufolge bis zu 20 Prozent der ägyptischen Wirtschaftsleistung. Nicht zuletzt aufgrund der Intransparenz seines Wirtschaftsimperiums wird das Militär alles daran setzen, sich einer parlamentarischen Kontrolle zu entziehen. Bereits im November 2011 versuchte das Militär durchzusetzen, dass die neue Verfassung die Kontrolle des Armeebudgets durch das Parlament verbietet.

Nach den Parlamentswahlen stehen weitere entscheidende Weichenstellungen an: Zum einen soll eine neue Verfassung erarbeitet werden. Hier sind Konflikte zwischen den gewählten Parteien und dem Militär zu erwarten. Auch dürfte es in einigen Bereichen zu heftigen Debatten über das Verhältnis von Staat und Religion kommen. Der erwartete Wahlerfolg der Moslembrüder und das unerwartet starke Abschneiden der fundamentalistischen Salafisten-Partei "Al-Nour" (Das Licht) werden diese Diskussionen befeuern. Zum anderen ist für den Sommer die Wahl eines neuen Präsidenten geplant. Zwar hat das Militär offiziell erklärt, es wolle nicht eingreifen und auch keine eigenen Kandidaten aufstellen. Doch ist mit Auseinandersetzungen bezüglich der präsidialen Kompetenzen zu rechnen.

Dennoch ist mit den Parlamentswahlen und den anstehenden Prozessen eine Bewegung in Gang gesetzt, die zu einem wirklichen Systemwechsel und einem weitergehenden Bruch mit den bestehenden autoritären Strukturen führen kann. Eine nachhaltige Stabilisierung des Landes kann aber nur gelingen, wenn die Menschenrechte fester Bestandteil des Übergangsprozesses werden.


Die Autoren sind Mitglieder der Amnesty international Koordinationsgruppe Ägypten. Weitere Informationen unter www.amnesty-aegypten.de und into@amnesty-aegypten.de


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Quelle:
amnesty journal, Februar/März 2012, S. 48-49
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2012