Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

NORDAMERIKA/084: US-Anwalt Baher Azmy über den Fall Murat Kurnaz (ai journal)


amnesty journal 3/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Auf der anderen Seite des Mondes"

Ein Gespräch mit dem US-Anwalt Baher Azmy über den Fall von Murat Kurnaz und die Zukunft des Gefangenenlagers Guantánamo


FRAGE: Wie wurden Sie Anwalt von Murat Kurnaz?

AZMY: Nachdem das oberste US-Gericht, der Supreme Court, Ende Juni 2004 entschieden hatte, dass sich die Gefangenen Anwälte nehmen dürfen, gab es viele Inhaftierte, die einen Verteidiger benötigten. Das "Center for Constitutional Rights", das die Klage vor dem Supreme Court eingereicht hatte, fragte mich, ob ich Murat Kurnaz vertreten wolle. Ich wusste nicht viel über ihn, aber ich habe natürlich eingewilligt.

FRAGE: Was war Ihre Motivation, sich für ihn einzusetzen?

AZMY: Ursprünglich waren es politische Gründe. Der Präsident glaubte, er könne jeden, den er für verdächtig hält, festnehmen und auf einer Gefängnisinsel wegsperren lassen - in einem rechtsfreien Raum. Diese Einstellung wollte ich anfechten. Aber nachdem ich Murat Kurnaz kennen gelernt hatte, bedeutete mir der Fall plötzlich viel mehr: Ich wollte ihm und seiner Familie helfen.

FRAGE: Wie war Ihr erster Besuch in Guantánamo Bay?

AZMY: Ich war der dritte zivile Anwalt, der Zutritt zu Guantánamo bekam. Wir mussten nach Florida reisen und dort in ein kleines Flugzeug steigen. Abends landeten wir vor Guantánamo Bay. Ein Treffen mit Kurnaz war für den nächsten Morgen vereinbart. Ich wurde eskortiert - das ist immer so - und konnte mich nicht frei in dem Lager bewegen. Die Sonne blendete - wegen der weißen Steine, die dort herumliegen, ist es sehr grell. Ich werde nie vergessen, wie ich vor diesen riesigen fünf Meter hohen Zäunen stand. In der Ferne hörte ich Maschinengewehrfeuer. Jeder hier war in Uniform. Ich hatte Angst.

Sie haben mich in ein Zimmer des Wachpersonals gebracht. Alle Gefangenen werden 24 Stunden am Tag mit einer Kamera bewacht. Auf einem Bildschirm zeigten sie mir Kurnaz und erklärten, dass sie mein Gespräch aus Sicherheitsgründen beobachten werden. Ich sah diesen Mann mit dem riesigen Bart - er sah aus wie ein prähistorischer Krieger. Ich muss zugeben, ich habe mich ein wenig gefürchtet. Uns hatte man ja erzählt, dass es sich bei den Gefangenen um gefährliche Killer handele, die dir im Bruchteil einer Sekunde das Genick brechen könnten.

Der Wächter öffnete die Tür, Kurnaz schüttelte mir die Hand und lud mich ein, mich mit ihm an einen wackligen Tisch zu setzen - als wollten wir eine Tasse Tee bei ihm zuhause trinken. Er war am Anfang sehr still. Ich bin mir sicher, dass er mir nicht vertraut hat.

FRAGE: Er war trotzdem höflich?

AZMY: Ja, er war sehr zuvorkommend. Ich habe ihm erklärt, wer ich bin, und erzählte ihm, dass sich seine Mutter seit Jahren für ihn einsetzt, dass er einen Anwalt in Deutschland hat, dass sich die Weltöffentlichkeit über Guantánamo empört, dass viele Menschen in den USA gegen Guantánamo sind. Von all dem hatte er keine Ahnung. Er wusste nicht einmal, ob überhaupt irgendjemand von seiner Existenz wusste, oder von der Existenz Guantánamos. Er dachte, er befinde sich auf der anderen Seite des Mondes.

Ich habe drei Tage mit ihm verbracht. Wir haben uns unterhalten, über seinen Fall, aber auch über Gott und die Welt. Mein ursprüngliches Bild von ihm war vollständig verschwunden. Sein Sinn für dunklen, sarkastischen Humor gefiel mir sehr. Wir haben oft zusammen gelacht. Ich habe ihn als einen extrem angenehmen Menschen erlebt.

FRAGE: Es gibt immer noch viele Häftlinge auf Guantánamo, die keinen Anwalt haben.

AZMY: Ja, manche Gefangenen konnten sich nicht vorstellen, dass sich ein Anwalt wirklich für sie einsetzt. Im Jemen gibt es beispielsweise keinen Anwalt, der von der Regierung unabhängig ist. Und später konnten sie ja beobachten, dass auch die Gefangenen, die einen Anwalt hatten, nicht frei kamen.

FRAGE: Wurde versucht, das Misstrauen der Gefangenen gegenüber den Anwälten zu schüren?

AZMY: Die Theorie von Guantánamo ist, durch ständige Befragungen ein Gefühl der Isolation und Hoffnungslosigkeit zu wecken. Anwälte unterbrechen diesen Prozess und geben den Gefangenen Hoffnung. Das passt den Behörden natürlich nicht. Die Vernehmer sagen den Häftlingen: Du wirst hier niemals herauskommen, weil Du einen Anwalt hast. Der einzige Weg nach draußen besteht darin, mit uns zu sprechen.

FRAGE: 2005 hatten Sie einen Erfolg vor Gericht. Die Richterin Joyce Hence Green kam zu dem Ergebnis, dass es keine Beweise gibt, die Kurnaz in Verbindung mit Terrorismus bringen. Warum hat das Militär ihn trotzdem weiter festgehalten?

AZMY: Ich weiß es nicht. Ich glaube heute, dass die US-Regierung seit 2002 wusste, dass er unschuldig war. Dennoch mussten sie ihn in dem Verwaltungsverfahren 2004 als "feindlicher Kämpfer" einstufen. Sie konnten nicht jemanden drei Jahre lang einsperren und dann erklären, er sei gar kein "feindlicher Kämpfer" gewesen. Sie können auch nicht sagen: Wir sperren Kurnaz ein, weil die Deutschen ihn nicht zurück haben wollen. Ich glaube, sie haben Gründe fabriziert, um ihn weiter inhaftieren zu können.

FRAGE: Er hätte doch auch an die Türkei ausgeliefert werden können.

AZMY: Das stimmt. Wie gesagt, die Frage, warum er weiterhin festgehalten wurde, bleibt ungeklärt. Ich hoffe, wir werden das eines Tages herausfinden.

FRAGE: Gab es Ihres Wissens nach ein Angebot von den USA, Kurnaz nach Deutschland auszuliefern?

AZMY: In den Akten, die ich einsehen durfte, ist davon nicht zu lesen. Aber das hat nichts zu bedeuten: Die Art von Unterlagen, in denen ein solches Angebot dokumentiert wäre, habe ich nicht zu Gesicht bekommen.

FRAGE: Ist sein Fall in gewisser Hinsicht eine Ausnahme?

AZMY: Ich dachte, er sei einzigartig. Denn von den ursprünglich 65 Fällen, die von Anwälten betreut wurden, gab es keinen, in dem es so starke Hinweise auf eine völlige Unschuld gab. Aber inzwischen haben wir von anderen Fällen in Guantánamo erfahren, die ebenfalls absurd sind. Kurnaz gehört zu einer Gruppe von vielleicht 25 bis 35 Häftlingen, deren Fälle von Beginn an absurd und empörend gewesen sind.

FRAGE: In einem Gesetz, dem "military commission act", hat der Kongress den Gefangenen 2006 rückwirkend das Recht wieder genommen, gegen ihre Inhaftierung zu klagen. Ist es wahrscheinlich, dass das Gesetz wieder geändert wird, jetzt, da es eine veränderte Mehrheit im Kongress gibt?

AZMY: Einige Demokraten würden das Gesetz gern wieder zurücknehmen. Es gibt starke Unterstützung dafür, den Gefangenen wenigstens das Recht auf Haftprüfung, habeas corpus, zurückzugeben. Jeder denkt, dass dies eine sehr problematische Entscheidung war. Aber die Demokraten haben auch Angst. Sie wollen nicht als Schwächlinge angesehen werden.

FRAGE: Wie die deutsche Regierung auch...

AZMY: Wie jede Regierung. Und Angst generiert eben auch Wählerstimmen. Ich bin nicht sehr optimistisch.

FRAGE: Gibt es Hoffnung, dass Guantánamo in der näheren Zukunft geschlossen wird?

AZMY: Ich glaube nicht. Sie haben angefangen, Menschen in das Gefangenenlager "Camp 6" zu bringen, dort gibt es etwa 250 Betten. Deshalb fürchte ich, dass in Guantánamo noch für lange Zeit mehrere hundert Gefangene eingesperrt sein werden. Ich glaube, sie werden von Militärkommissionen 60 bis 100 Gefangene verurteilen lassen und im Gefängnis behalten.

Auf der anderen Seite glaube ich, dass die US-Regierung keine Ahnung hat, was sie tun soll. Guantánamo ist ein riesiges politisches Problem geworden. Es gibt Häftlinge, die durchgedreht sind und andere, deren Heimatländer sich weigern, sie zurückzunehmen. Es ist ein politisches Desaster. Sie werden es wohl der nächsten Regierung überlassen, da einen Ausweg zu finden.

FRAGE: Sie werden also nicht versuchen, neue Häftlinge nach Guantánamo zu bringen?

AZMY: Ich glaube nicht. Nach der Entscheidung des Supreme Court 2004 haben sie aufgehört, neue Häftlinge nach Guantánamo zu bringen. Sie stecken sie stattdessen in andere Gefangenenlager wie das im afghanischen Bagram.

FRAGE: Die gleiche Politik geht also an einem anderen Ort weiter.

AZMY: Ja, und ich bin mir sicher, dass die Zustände in Bagram noch um einiges schlimmer sind.

FRAGE: Gibt es Versuche, Fälle aus Bagram zu betreuen?

AZMY: Ja. Das "Center for Constitutional Rights" hat einige Klagen eingereicht, um Zugang zu Gefangenen in Bagram zu bekommen. Aber die Gerichte werden ewig brauchen, um darüber zu entscheiden.

FRAGE: Es wird also ein langer Kampf werden, damit Fälle wie Murat Kurnaz nicht wieder vorkommen.

AZMY: Ja. Sehen Sie, am Anfang dachte ich, Murat Kurnaz' Fall sei einzigartig. Heute glaube ich, dass es da draußen noch viele Fälle wie Murat Kurnaz gibt. Nur haben sie keine Anwälte, die über sie berichten könnten.

Interview: Ferdinand Muggenthaler, Übersetzung: Rebekka Rust


*


Azmy studierte amerikanische Geschiche und internationale Politik. Danach promovierte er an der Rechtsfakultät der Universität New York. Er lehrt an der Seton Hall Law School in New Jersey Zivil- und Staatsrecht und führt eine Anwaltskanzlei in New York City.


*


Quelle:
amnesty journal, März 2007, S. 20-22
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2007