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NAHOST/145: Türkei - Appell an Erdogan - Versöhnung zwischen Kurden und Türken initiieren


Presseerklärung vom 25. Februar 2011

OFFENER BRIEF an den
Ministerpräsidenten der Republik Türkei
Recep Tayyip Erdogan

Massengräber öffnen, Morde aufklären! Versöhnung zwischen Kurden und Türken initiieren!


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

am kommenden Sonntag und Montag werden Sie in Düsseldorf im ISS Dome und bei der Cebit in Hannover erwartet. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) möchte diese Gelegenheit nutzen, mit einigen dringenden Menschenrechtsproblemen an Sie heranzutreten.

Aus Ihrem Land erreichen uns erschütternde Nachrichten: Im überwiegend von Kurden besiedelten Osten der Türkei werden ständig neue Massengräber gefunden. Medienberichten zufolge sollen es inzwischen 114 sein. Zuletzt wurden am 20. Januar 2011 in einem Tal bei der Ortschaft Mutki in der Provinz Bitlis acht menschliche Skelette entdeckt. Dort waren bereits am 6. Januar 2011 die sterblichen Überreste von zwölf Toten exhumiert worden. Die Suche wird fortgesetzt, weil vermutet wird, dass bei Mutki bis zu 36 Tote verscharrt wurden.

Der GfbV liegt eine Liste mit den Namen von 818 Kurden vor, die zwischen dem Jahr 1980 und 2000 verschwunden sind. Insgesamt sollen es bis zu 17.000 Kurden sein, die während des türkisch-kurdischen Bürgerkrieges verschleppt wurden. Ihre Angehörigen müssen davon ausgehen, dass sie ermordet wurden. Doch sie leiden unter quälender Ungewissheit.

Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdogan, haben die Macht, Ermittlungen zu diesen ungelösten Mordfällen anzuordnen. Dazu gehören auch die Exhumierung und Identifizierung der entdeckten Toten. Um die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben zwischen allen türkischen Staatsbürgern - Türken wie Kurden - zu schaffen, ist dringende Notwendigkeit, das Schicksal der vermissten Kurden schonungslos aufzuklären.

Die Türkei strebt in die Europäische Union (EU). In vielen europäischen Ländern leben große ethnische Minderheiten. In Italien gibt es 300.000 deutsche Südtiroler, in Spanien sechs Millionen Katalanen, in Großbritannien acht Millionen Waliser und Schotten. Ihnen allen wurde regionale Selbstverwaltung gewährt, ihre Sprachen und Kulturen sind gleichberechtigt. Auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten haben kleineren Volksgruppen und Nationalitäten weitreichende Rechte gewährt. Doch die Politik der Türkei verharrt in ihrer Minderheitenfeindlichkeit. Darüber konnte auch die Präsentation Istanbuls als "Kulturhauptstadt Europas 2010" nicht hinwegtäuschen. Noch immer genießen religiöse und ethnische Minderheiten - ob Christen wie die Armenier, Syrisch- und Griechisch-Orthodoxe, Katholiken und Protestanten oder Kurden, Aleviten und Yeziden - in der Türkei nicht dieselben Rechte und Freiheiten wie die türkische Bevölkerung. Solange Ihr Land seine Minderheitenpolitik nicht den europäischen Maßstäben anpasst, kann die Türkei kein gleichwertiges Mitglied in der EU werden!

Wir geben zu bedenken, dass der Konflikt mit der kurdischen Bevölkerung der Türkei militärisch nicht zu lösen ist. Nur durch eine föderale Verfassung nach bundesdeutschem Vorbild oder die Schaffung regionaler Autonomien nach spanischem Modell könnte die Integration der 15 Millionen Kurden in der Türkei gelingen und die Verfolgung und Unterdrückung dieser und anderer Volksgruppen endlich beendet werden.

Unsere Menschenrechtsorganisation weist darauf hin, dass auch in der heutigen Türkei unter Ihrer Herrschaft noch immer mehr als 7.000 Kurden, darunter 3.000 Kinder und Jugendliche, als politische Gefangene inhaftiert sind. Im Südosten des Landes, dem Hauptsiedlungsgebiet der Kurden, darf keine einzige kurdische Schule existieren. Mehr als 3.876 von der Armee zerstörte kurdische Dörfer liegen in Trümmern und sogar türkische Intellektuelle werden wegen ihrer Publikationen zu kurdischen Themen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Sie und Ihre Regierung, haben es erreicht, dass nun auch türkische Generäle in Gerichtssäle zitiert und für ihre Verbrechen angeklagt werden können. Ihre Partei hat eine solide Mehrheit im türkischen Parlament. Jetzt ist die Zeit reif, um weitreichende Entscheidungen zu treffen. Beginnen Sie einen ernsthaften und offenen Dialog mit allen Vertretern der Kurden in der Türkei. Die Unterdrückung der kurdischsprachigen Bevölkerung der Türkei, die Verfolgung all jener kurdischen Menschen- und Bürgerrechtler, die friedlich für die Gleichberechtigung ihrer Sprache und Kultur eintraten oder demonstrierten, muss endlich ein Ende haben.

Bitte beginnen Sie jetzt mit der Versöhnung zwischen der türkischen Mehrheit und der kurdischen Volksgruppe. Türken und Kurden sind Staatsbürger ein und desselben Staates. Beide identifizieren sich mit ihrem Land. Bitte gewähren Sie beiden die gleichen Rechte!

Mit freundlichen Grüßen,

gez.Tilman Zülch
Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker International


PS: Wir erlauben uns, dieses Schreiben in deutscher, englischer und türkischer Sprache zu veröffentlichen und allen Mitgliedern der Großen Nationalversammlung der Türkei sowie Politikern und Medien in Europa, in den USA, Kanada, Australien und in der islamischen Welt zukommen zu lassen.


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Quelle:
Presseerklärung Düsseldorf/Hannover, den 25. Februar 2011
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2011