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INTERNATIONAL/076: Mexiko - Junge Leute in der "Indignados"-Bewegung an vorderster Front (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. Dezember 2011

Mexiko: Junge Leute in der 'Indignados'-Bewegung an vorderster Front

von Daniela Pastrana

Jugendliche der Gruppe 'México Toma La Calle' - Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Jugendliche der Gruppe 'México Toma La Calle'
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Mexiko-Stadt, 30. Dezember (IPS) - "Wir Jungen müssen Antworten auf die Fragen unserer Zeit geben, denn wir sind die Hauptopfer des gefräßigen Kapitalismus", meint Alexis Jiménez. Der 23-Jährige campiert seit zwei Monaten vor dem Sitz der Börse in Mexiko-Stadt.

Der Ethnologe aus dem südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca beteiligt sich seit 2006 aktiv an sozialen Protesten. Er gehört zu den Anhängern der Friedensbewegung um den Dichter Javier Sicilia, die für einen Wandel der staatlichen Sicherheitsstrategie eintritt. Staatspräsident Felipe Calderón setzt im Kampf gegen die Rauschgiftmafia auf das Militär. Menschenrechtsaktivisten zufolge hat die Militarisierung der Drogenbekämpfung bisher 50.000 Menschenleben gefordert.

Mitte Oktober hatte sich Jiménez mit anderen jungen Mexikanern der weltweiten 'Occupy'-Bewegung angeschlossen, die gegen die Macht und Gier des Finanzsektors protestiert, der in vielen Teilen der Welt tief greifende Krisen ausgelöst hat.


Anarchisten, Umweltschützer und Pazifisten

"Meine Familie wird mich enterben, weil ich Weihnachten nicht nach Hause gefahren bin. Wir müssen aber bleiben", sagt Jiménez, während er die kalte Nacht draußen verbringt. Das Lager an einer Hauptstraße von Mexiko-Stadt hat junge Menschen angelockt, die dort aus unterschiedlichen Gründen ihre Zelte aufgeschlagen haben. Unter ihnen sind Umweltschützer, Pazifisten und Mitglieder der Bewegung für Nationale Erneuerung, die von dem ehemaligen linken Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador angeführt wird.

Außer Studenten sind zudem Beschäftigte aus dem nahe gelegenen mexikanischen Senat in dem Camp anzutreffen. Ein Reporter ist auch an Ort und Stelle, obwohl ihm sein Arbeitgeber verboten hat, sich im Zusammenhang mit den Protesten fotografieren oder interviewen zu lassen. Und ein Koch aus einem großen Hotel im Zentrum hat sich extra freigenommen, um für das leibliche Wohl der Kapitalismusgegner zu sorgen.

Um Jiménez herum herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Die Demonstranten, die sich auf zwei Lager verteilen, halten über soziale Netzwerke im Internet zueinander Kontakt. Das zweite Camp befindet in dem Viertel Coyoacán, in dem vor allem Künstler und Intellektuelle wohnen. Dort wird nicht mit Geld bezahlt, sondern ein reger Tauschhandel betrieben. "Wir versuchen alternative Organisationsformen zu schaffen, die den Bürgern Macht geben", sagt der 26-jährige Ingenieur Miguel Barousse.

In dem Land mit rund 112 Millionen Einwohnern gibt es mehr als sieben Millionen junge Menschen, die weder arbeiten noch studieren. Daten aus den Ministerien für Arbeit und Bildung belegen, dass es sich in 78 Prozent der Fälle um Frauen handelt. Dem im September von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verbreiteten Bericht 'Education at a Glance' zufolge weist Mexiko von allen OECD-Mitgliedsländern die dritthöchste Jugendarbeitslosigkeit auf.


Mord häufigste Todesursache junger Menschen

Ein weiteres gravierendes Problem in Mexiko ist die Gewalt. Erhebungen des nationalen Amts für Statistik belegen, dass die Zahl der männlichen Mordopfer im Alter von 15 bis 29 Jahren allein zwischen 2007 und 2009 um 154 Prozent gestiegen ist. Die Zahl der weiblichen Mordopfer erhöhte sich im selben Zeitraum um 89 Prozent. Was diese Altersgruppe betrifft, fordern Morde in dem lateinamerikanischen Land inzwischen mehr Menschenleben als Verkehrsunfälle.

Diese Zustände haben viele junge Mexikaner dazu gebracht, sich zusammenzuschließen. Manche organisieren ihre Proteste auch spontan, wie der 24-jährige Geschichtsstudent Aldo García. Er taucht mit einer Gruppe von Freunden auf verschiedenen Plätzen der Stadt auf und bittet Passanten, ihre Ideen für ein gerechteres Mexiko auf eine Tafel zu schreiben. Die Aktion wird abgelichtet und im Internet verbreitet.

"Wir wollen so viele Bilder sammeln wie möglich und sie in Ausstellungen auf der Straße zeigen", sagt García, während er eine Gruppe Jugendlicher vor dem Denkmal für die Revolution fotografiert. Sie gehören zu dem Kollektiv 'México Toma La Calle' (Occupy Mexiko), das unter anderem öffentliche 'Tage der Umarmung' organisiert.


Gemeinsam agieren statt konsumieren

"Wir wünschen uns, dass die Menschen auf der Straße miteinander agieren und nicht nur konsumieren", erklärt eine junge Frau. Den wachsenden Unmut in der Bevölkerung sieht sie als "Zeitbombe, die noch nicht explodiert ist".

Studenten, Bauernvertreter, Gewerkschaftsführer und Menschenrechtsaktivisten arbeiten derweil an Strategien für gemeinsame Aktionen. Das 'Jugendcamp zu nationalen Katastrophen und Notfällen' hat in einer Erklärung zwei Prioritäten hervorgehoben: die landesweite Stärkung der sozialen Bewegungen und den Aufbau eigener Medien.

Die Erschießung von zwei Studenten im südlichen Bundesstaat Guerrero durch Polizisten und der Fund der Leichen von vier Schülern, die in Jalisco vermisst wurden, zeigten auf eindringliche Weise, welchen Gefahren die Protestierenden ausgesetzt sind. Die 'Indignados' wollen sich jedoch nicht einschüchtern lassen und bauen ihre Bewegung weiter aus. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://mxtomalacalle.wikispaces.com/
http://www.oecd.org/document/2/0,3746,en_2649_39263238_48634114_1_1_1_1,00.html
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=99864
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106321

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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2011