Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → FAKTEN

INTERNATIONAL/111: Chile - Zivilgesellschaft befürwortet Zugang Boliviens zum Meer (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Juni 2012

Chile: 'Akt der Solidarität' - Zivilgesellschaft befürwortet Zugang Boliviens zum Meer

von Marianela Jarroud



Santiago, 21. Juni (IPS) - Bolivien rennt mit seiner Forderung nach einem Zugang zum Meer bei der organisierten chilenischen Zivilgesellschaft offene Türen ein. So gibt es in Chile Stimmen, die von einem "Recht" der Bolivianer auf einen Teil des Territoriums sprechen.

Wie die Pressesprecherin der chilenischen Nichtregierungsorganisation 'Observatorio Ciudadano' (Bürgerbeobachtungsstelle), Paulina Acevedo, erklärte, bringt die chilenische Gesellschaft durchaus Verständnis für den Wunsch Boliviens nach einem Zugang zum Meer auf. So sei man der Meinung, dass die Völker Solidarität praktizieren sollten, anstatt der Entwicklung Boliviens im Wege zu stehen.

Bolivien und Paraguay sind die einzigen landeingeschlossenen Staaten Lateinamerikas. Bolivien hatte seinen Zugang zum Meer im Pazifikkrieg gegen Chile von 1879 bis 1884 verloren, in den auch Peru verwickelt war. La Paz und Santiago unterzeichneten 1904 ein Friedens-, Freundschafts- und Handelsabkommen, das Bolivien zum Binnenstaat machte.

Die Bolivianer argumentieren, dass ihre Chancen, sich innerhalb der jetzigen Grenzen zu entwickeln und Handel zu treiben, gering sind. Sie sehen sich ferner in ihrer nationalen Sicherheit bedroht.

Die Jahrzehnte alte Forderung nach einem Zugang zum Meer hat die Beziehungen beider Länder erheblich getrübt. Das zeigt sich unter anderem daran, dass sie seit 1978 im jeweils anderen Land lediglich mit einem Konsulat vertreten sind.

Doch von 2006 bis 2010 bemühten sich die Nachbarländer um eine Annäherung. Sie einigten sich auf einen 13-Punkte-Plan, der auch das Thema Meereszugang beinhaltete. In diesem Zeitraum wurden beide Staaten von progressiven Regierungen geführt: Chile von der Sozialistin Michelle Bachelet (2006-2010) und Bolivien von dem Linken Evo Morales, der sich 2011 eine zweite Amtszeit sicherte.


Dialog abgebrochen, Beziehungen unterkühlt

Doch seitdem der Rechtskonservative Sebastián Piñera Bachelet ins Amt gefolgt ist, liegt der Dialog auf Eis. Am 23. März 2011 ging Morales in die Offensive und drohte damit, Boliviens Territorialanspruch von internationalen Gerichten klären zu lassen. Er begründete die Entscheidung mit dem Mangel an "konkreten, nützlichen und machbaren" Vorschlägen von Seiten Chiles.

Knapp drei Monate später, am 12. Juni, traf sich Morales mit dem Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs, Peter Tomka, dem er den Wunsch vortrug, die Differenzen mit Chile mit internationaler Hilfe beizulegen. Ebenso kam er mit Vertretern des Internationalen Strafgerichtshofs zusammen.

Anfang des gleichen Monats hatte der bolivianische Außenminister David Choquehuanca auf der Vollversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die Piñera-Regierung aufgefordert, die Verhandlungen über das Abkommen von 1904 fortzusetzen. Der chilenische Außenminister Alfredo Moreno erklärte daraufhin, dass Santiago keinen Teil seines Territoriums abtreten werde. Im Abkommen von 1904 sei klar festgelegt, "was Chile und was Bolivien ist".

"Die offizielle Haltung Chiles entspricht aber nicht der Meinung seiner Bürger", meinte dazu Acevedo, deren Organisation viele soziale Sektoren des Landes vertritt. "Alle möglichen Sozialverbände unterschiedlicher Prägung befürworten eine Lösung, die einen Zugang Boliviens zum Meer vorsieht - ob nun mit oder ohne Souveränitätsanspruch. Und das, weil wir wissen, dass ein Verlust des Meereszugangs weniger eine Frage der Souveränität als die Folge eines bewaffneten Konflikts ist."


Volksbefragung erwünscht

Da der chilenische Staat kein Interesse daran zeige, eine Beziehung zur organisierten Zivilgesellschaft aufzubauen, wisse man nicht, was geschehen würde, sollten sich die Chilenen in einem Plebiszit für einen Zugang Boliviens zum Meer aussprechen. Diese Art der Befragung würde allerdings eine Verfassungsreform erforderlich machen.

Nicht nur die Sozialverbände sind dafür, die Angelegenheit durch ein Referendum zu klären. Auch viele herausragende Persönlichkeiten des politischen und militärischen Spektrums sind dafür.

2007 kam es in Chile zu einer Geste der Solidarität mit Bolivien, die selbst Morales überraschte: Rund 20.000 Menschen begrüßten den bolivianischen Präsidenten bei seinem Erscheinen beim Gipfel der Völker in Santiago, der parallel zum Iberoamerikanischen Gipfeltreffen stattfand, mit dem Ruf nach 'Meer für Bolivien'.

Im April 2011 ergab eine Umfrage der einflussreichsten chilenischen Zeitung 'El Mercurio', dass 64,2 Prozent der Befragten Maßnahmen begrüßen, die Bolivien einen Zugang zum Meer verschaffen würden, allerdings ohne dass Chile dadurch seinen Souveränitätsanspruch aufgeben müsste.

Im November letzten Jahres ging aus einer Umfrage des Unternehmens 'Adimark' und der Katholischen Universität hervor, dass 40 Prozent der Interviewten Kompensationsmaßnahmen für Bolivien befürworten.

Wie Juan Carlos Skewes, Direktor der anthropologischen Fakultät der Alberto-Hurtado-Universität, erklärte, gibt es in Chile eine 'Sittlichkeit', die von einem signifikanten Teil der Chilenen gelebt werde und einige Bürger veranlasst habe, anderen Völkern gewisse Rechte zuzugestehen. Dadurch erkläre sich die kosmopolitische und integrative Sichtweise der Zivilgesellschaft im Umgang mit Bolivien.

Der Experte wies ferner darauf hin, dass es im Norden Chiles aufgrund historischer und kultureller Wurzeln eine bemerkenswerte Tradition der friedlichen Koexistenz von Chilenen, Bolivianern und Peruanern gebe. Dort sei die andine Welt durch eine gemeinsame Weltsicht, kulturelle Praktiken, Lebensformen und Rituale miteinander verbunden.


Individualismusvorwurf

Als Staat trete Chile hingegen mit einem individualistischen Anspruch in Erscheinung, der das Land vom Rest der Region trenne, was wiederum zu Spannungen führe, warnte Skewes. Was den Konflikt mit Bolivien angehe, dürfe Chile nicht mehr mit den Sympathien rechnen, die es einst in Ländern wie Brasilien genossen habe.

Dem Analysten zufolge wird Chile seit der Diktatur des inzwischen verstorbenen Augusto Pinochet (1973-1990) nicht mehr so stark wie früher als Teil der Region wahrgenommen. Die dem Land damals auferlegte neoliberale Wirtschaft veranlasste Chile, "sich Vorteile auf der Grundlage eines Konzepts zu verschaffen, dass ich 'politische Illoyalität' nennen würde". Nach Ansicht von Skewes fehlt Chile die regionale Unterstützung, "weil wir eine euro- und amerikazentrische Enklave geworden sind".

Bolivien hat inzwischen mit Peru und Argentinien Abkommen unterzeichnet, die dem Andenstaat bis zur Klärung des Territorialstreits einen Zugang zum Atlantik und zum Pazifik gewährleisten. (Ende/IPS/kb/2012)


Link:
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=101000

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Juni 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2012