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MELDUNG/306: Polizei marsch - und wieder Räumung (SB)


Solidarität versus Mietrecht



Immobilienbesitz, Vermieterinteressen, Mietrechtsreform, Zwangsversteigerung, Mietrückstand, fristlose Kündigung, Zwangsräumung, drohende Obdachlosigkeit - was wie eine lose Abfolge von Schlagworten und Begriffen anmutet, die mehr oder minder unzusammenhängend nebeneinander stehen und sich irgendwie um die Themen Wohnen und Immobilien und damit auch den Interessengegensatz zwischen Mietern und Vermietern drehen, beinhaltet für Menschen, die zwangsweise aus ihrer Wohnung vertrieben werden, eine Realität, die existenzgefährdender kaum sein könnte. Angesichts drohender Obdachlosigkeit und damit einem Phänomen sozialer Not und Ausgrenzung, das einem der reichsten Staaten der Welt, der sich das Sozialstaatsprinzip als eherne Selbstverpflichtung in seine Verfassung geschrieben hat, schlecht zu Gesicht steht, ist die Leichtigkeit, mit der Mieter den gesetzlichen Regelungen zufolge ihr Zuhause verlieren können, frappierend.

Zwangsräumungen, bei denen per Gerichtsvollzieher und, falls es erforderlich erscheint, mit polizeilicher Unterstützung Mieter, gegen die ein vollstreckbarer Räumungsbeschluß erwirkt wurde, aus ihren gewohnten vier Wänden gerissen und all zu oft in eine völlig ungewisse Zukunft gebracht werden, sind gang und gäbe und werden in aller Regel nicht einmal einer Zeitungsnotiz für wert befunden. Betroffene machen Schlagzeilen, wenn sie sich zu Verzweiflungstaten hinreißen lassen, wenn beispielsweise ein Vater seine Frau, die Kinder und sich selbst erschießt, weil die Familie kein Dach über dem Kopf mehr hat oder die Angst vor einer bevorstehenden Räumung unerträglich wird. Schreckensmeldungen dieser Art sind spektakulär genug, um die in der Medienwelt zumeist keineswegs grundlos vorherrschende Ignoranz gegenüber dem alltäglichen Grauen bundesdeutscher Rechts- und Verwaltungspraktiken zu durchbrechen. Freilich bedeutet dies in den seltensten Fällen, daß die der sich oftmals sogar auf todbringende Weise bahnbrechenden menschlichen Not allem Anschein nach zugrundeliegenden sozialen wie rechtlichen Verhältnisse thematisiert und auf den gesellschaftlichen Prüfstand gehoben werden würden.

Am heutigen Dienstag nun wurde in Berlin-Kreuzberg in der Lausitzer Str. 8 gegen eine dort seit 35 Jahren lebende türkische Familie eine Zwangsräumung vollzogen. Gegen den Mieter hatte seinen Angaben zufolge seit dem 31. August vergangenen Jahres ein Räumungstitel vorgelegen, weshalb die Familie auf gepackten Koffern gesessen und in einer ständigen Unsicherheit gelebt habe. Der Vermieter habe eine fristlose Kündigung gegen die Familie ausgesprochen, weil sie die von ihm eingeklagten Mieterhöhungen nicht innerhalb von zwei Monaten gezahlt habe. [1]

Dafür glaubte der Mieter, auch in rechtlicher Hinsicht gute Gründe gehabt zu haben. Wie er am 22. Oktober 2012, dem Tag, an dem ein erster Räumungsversuch unternommen, jedoch erfolglos abgebrochen und bis auf weiteres verschoben worden war, da zahlreiche Nachbarn und Unterstützer der Gerichtsvollzieherin den Weg zur Wohnung versperrt hatten, in einem Interview darlegte, habe er mit dem Vorbesitzer der Immobilie eine mietvertragliche Vereinbarung gehabt, derzufolge wegen der von ihm geleisteten umfangreichen Renovierungs- und Modernisierungssarbeiten die Miete nicht erhöht und die Wohnung an ihn verkauft werden sollte. [1]

Der jetzige Besitzer und Vermieter, der 2006 durch eine Zwangsversteigerung in den Besitz des Mietshauses gekommen sei, habe allen Mietparteien eine Kündigung geschickt und sie aufgefordert, binnen 14 Tage die Wohnungen besenrein zu verlassen. Nicht nur der nun geräumte Mieter, sondern auch viele andere desselben Hauses seien daraufhin vor Gericht gezogen. Etliche seien schon vor ihm geräumt worden oder "freiwillig" ausgezogen, nicht zuletzt deshalb, weil der neue Vermieter nach und nach die Mieten so sehr erhöht habe, daß viele der in dem Haus lebenden Menschen sie nicht mehr bezahlen konnten.

Der am heutigen Dienstag mitsamt seiner Familie geräumte Mieter hatte den Termin zur Schlüsselabgabe im vergangenen Jahr verstreichen lassen. Er war offenbar der Meinung oder vielmehr der Hoffnung gewesen, daß die Gerichte ihm doch noch zu seinem, wie er glaubte, Recht verhelfen würden und daß die Familie in ihrer vertrauten Umgebung würde bleiben können. Bis zum 31. August 2012 hätte sie die Wohnung räumen müssen, nachdem die Klage des Mieters gegen die Kündigung vor dem Amtsgericht wie auch vor dem Landgericht seinen Angaben zufolge keinen Erfolg gehabt habe. Selbst der Gang zum Bundesgerichtshof habe für ihn keine Änderung gebracht, das für ihn negative Urteil des Landgerichts sei in Karlsruhe noch einmal bestätigt worden.

Zwischenzeitlich hätten die Mieter dem neuen Besitzer angeboten, das von ihm bei der Zwangsversteigerung für 750.000 Euro erstandene Haus zu kaufen - doch die 1,2 Millionen, die der neue Vermieter von ihnen verlangte, seien nicht aufzubringen gewesen. [1] Mitte Dezember sei dann eine Räumungsankündigung gekommen. Von einer Vollstreckung wurde zunächst noch einmal abgesehen, bis nun, am 14. Februar 2013, nach einer abermaligen Ankündigung die Zwangsräumung mit Unterstützung von Polizeikräften, da Hunderte Menschen durch Blockadeaktionen versucht hatten, der Gerichtsvollzieherin wie schon im Oktober den Zutritt zu der Wohnung zu versperren, durchgeführt wurde.

Alltag in der Bundesrepublik Deutschland. Wie der Blog der gegen die herrschenden Mietverhältnisse Protestierenden (zwangsraeumungverhindern.blogsport.de) in einer heutigen Pressemitteilung dargelegte, hätten zwischen 800 und 1000 Menschen die Straßen rund um die Lausitzer Straße blockiert, um gegen hohe Mieten, die Vertreibung alteingessener Mieter und Zwangsräumungen zu protestieren. Polizisten hätten in Gruppen die zahlreichen Sitzblockaden aufgelöst, wobei es zu Festnahmen sowie dem Einsatz von Schlagstock und Pfefferspray gekommen sein soll.

Die Gerichtsvollzieherin sei auf Umwegen in das besagte Haus gebracht worden und habe dort binnen weniger Minuten die Zwangsräumung vollzogen. Danach hätten sich die rund eintausend Menschen, die dies durch ihre Proteste und Blockaden hatten verhindern wollen, zu einer spontanen und lautstarken Demonstration im Viertel zusammengefunden. Die Polizei sei erneut eingeschritten, wobei es abermals zu Festnahmen und Maßnahmen polizeilichen Zwangs gekommen sein soll. Der zwangsgeräumte Mieter soll laut zwangsraeumungverhindern.blogsport.de erklärt haben, daß es der Familie sehr schlecht gehe, weil die Räumung vollzogen wurde, aber auch sehr gut, weil sie soviel Solidarität erfahren habe.

Anmerkungen:

[1] http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/2012/10/22/interview-mit-ali-guelbol/


14. Februar 2013