Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → MEINUNGEN

AUFRUF/006: Jalta - Aufruf zur Verteidigung der Menschenrechte in der Süd- und Ostukraine (Kai Ehlers)


Internationale Konferenz in Jalta:

Aufruf zur Verteidigung der Menschenrechte in der Süd- und Ostukraine

von Kai Ehlers, 12. Juli 2014



Vom 06. - 07. 07. 2014 fand in Jalta/Krim eine internationale Konferenz von Bürger/innen der Ukraine und Repräsentant/innen des internationalen Solidaritätsnetzwerkes statt, das zur Solidarität mit den Menschen aufruft, die von dem Krieg bedroht sind, den die Kiewer Regierung mit Unterstützung des Westens gegen die eigene Bevölkerung führt. Thema: "Die globale Krise und der Widerstand in der Ukraine." Von den zwischen 50 und 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern kamen vier Fünftel aus den autonomen Republiken Donezk, Lugansk und anderen nach Autonomie strebenden Teilen der Ukraine.

Anwesend waren auch Vertreter/innen aus dem Kiewer Raum wie aus dem karpatischen Süd-Westen, des Weiteren rund ein Dutzend Teilnehmer/innen aus den USA, Kanada, Schweden, England, Österreich, Deutschland und Russland. Erörtert wurden die globalen Ursachen des Kiewer Maidan - die aggressive Krise des westlichen Kapitals, das seinen Einfluss zu erweitern und über die Einbindung der Ukraine in die Strukturen von EU, NATO und USA die russische Föderation, China und andere potentielle Konkurrenten einzudämmen sucht.

Erörtert wurde der Übergang des Maidan von einem radikal anti-oligarchischen, pro-europäischen Prozess in eine nationalistische Bewegung, dominiert vom radikalen "Rechten Sektor", unter dessen Druck die Regierung Janukowitsch gestürzt und durch eine provisorische Übergangsregierung ersetzt wurde.

Erörtert wurden weiter die sozialen, historischen und aktuellen politischen Wurzeln des Anti-Maidan, die dessen Forderungen nach Autonomie zugrunde liegen: die prekäre soziale Lage, die durch den Anschluss der Ukraine an die europäische Freihandelszone und die daraus folgende Schwächung der eigenen Industrie noch verschärft werden wird, die historische und ökonomische Verbundenheit mit Russland, der Widerstand gegen die vom späten Kiewer Maidan, von der provisorischen und jetzigen Regierung Kiews ausgehenden Zwangs-Ukrainisierung unter dem Druck des rechten Nationalismus.

Unterschiedliche Bewertungen gab es zu der Frage, wie die provisorische und gegenwärtige Kiewer Regierung zu bezeichnen sei - als nicht legitim, als faschistisch oder "nur" als eine gewaltsam installierte neo-liberale Regierung, welche die Austeritätsziele der ukrainischen Oligarchen und des ausländischen Kapitals mit Hilfe faschistischer Gewalt durchsetzt. Man fand sich in der Formulierung einer "neo-liberalen Regierung, die faschistische Kräfte enthält".

Unterschiedliche Bewertung gab es dementsprechend, worauf im Bemühen um internationale Solidarität hauptsächlich zu orientieren sei.

Für die gemeinsame Deklaration setzte sich schließlich eine Argumentation durch, welche die Verurteilung des brutalen Angriffs auf die Menschenrechte in den Mittelpunkt rückt, mit dem die neuen Kiewer Machthaber gegen die nach Autonomie verlangende eigene Bevölkerung vorgehen.

Unterschiedliche Positionen gab es auch - allen voran, versteht sich, unter den ukrainischen Teilnehmer/innen - zu den Zielen des Widerstandes. Sind autonome, föderale Lösungen im Rahmen eines alle heutigen Teile der bisherigen Ukraine umfassenden ukrainischen Staates noch möglich oder kann es keine Einheit mehr mit den "Faschisten" in Kiew geben? Kann und soll ein einheitlicher neuer Staat "Novorossia" begründet werden? Wie sollte er gestaltet sein? Welche Grundsätze sollten in ihm gelten? Zu diesen Fragen wurden, salopp gesprochen, so viele unterschiedliche Vorstellungen vorgebracht wie Vertreter/innen der verschiedenen Regionen, bzw. auch Widerstandszellen anwesend waren - Donezk, Lugansk, Slawjansk, Charkow, Ukrainische Karpaten u.a.. Eine russischsprachige Erklärung, die eine gemeinsame Zielsetzung für die im ukrainischen Konflikt Stehenden zu skizzieren versucht, wurde nach kontroverser, keineswegs beendeter Debatte verabschiedet.

Anzumerken ist, dass die Konferenz angesichts der prekären Lebenssituation der Masse der ukrainischen Zivilbevölkerung als ganzer, im Besonderen jedoch der Leiden der zur Zeit von der Kiewer Regierung mit Krieg überzogenen Bevölkerung des Ostens und des Südens sowie der humanitären Flüchtlingskatastrophe in starker Betroffenheit und in angespanntem Ernst vonstattenging; dies umso mehr als die aufgrund der Eingliederung in die russische Föderation nicht von den Bürgerkriegswirren erfasste Krim den Hintergrund bildete, vor dem diese Konferenz stattfand.


Kai Ehlers, Hamburg, Osteuropa-Experte, Autor und Journalist

Weitere Informationen:
www.kai-ehlers.de

(Im Anhang die in Jalta verabschiedete Deklaration in einer deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Kai Ehlers)

*

Erklärung von Jalta

der Versammlung von Bürgern der Ukraine und Repräsentanten internationaler Solidaritätsnetzwerke vom 7. Juli 2014.


In der Ukraine entwickelt sich eine schwere menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe.

Die ukrainische Regierung, die im Februar 2014 die Macht übernahm, führt einen brutalen militärischen Angriff gegen die Bevölkerung im Süd-Osten des Landes.

Das Assoziierungsabkommen, das die Regierung am 30. Juni 2014 unterzeichnete, und ihr Austeritätsprogramm kündigen eine scharfe Reduzierung des Lebensstandards an und zerstören effektiv die Industrie, die weitgehend im Südosten lokalisiert ist. Die Ukrainische Regierung schließt rechtsextreme Kräfte mit ein und eine der ersten Maßnahmen ihres anfänglichen Extremismus, danach zurückgezogen, bestand darin Ukrainisch zur einzigen offiziellen Sprache zu machen und damit die Sprachrechte von Millionen Russisch-, Ungarisch- und Anderssprachiger zu verletzen.

Diese Regierung wurde von den Regierungen der USA, Englands und der EU sofort anerkannt und in großem Maße finanziell, logistisch, diplomatisch und militärisch unterstützt in der Absicht die Ukraine für internationale Investitionen von Finanzen und Kapital zu öffnen. Die USA will darüber hinaus ihre lange verfolgten Ziele weiter fördern, Russlands Einfluss in der Eurasischen Region einzuschränken, indem sie benachbarte Länder in den Einflussbereich der NATO zieht. Das kann die Region nur weiter destabilisieren.

Menschen, die gegen die Kiewer Regierung protestierten, wurden verhaftet, ins Gefängnis gesperrt, angegriffen und ins Exil getrieben. Einer der schlimmsten Fälle von Gewalt waren die Erschießungen und der Mord von wenigstens 48 Demonstranten in Odessa am 2. Mai.

Die Menschen in der Süd-Ost-Ukraine haben versucht sich angesichts des gewaltsamen Vorgehens der Kiewer Regierung selbst zu schützen. Ihre friedlichen Demonstrationen gegen das Austeritätsprogramm und ihre Forderungen nach Autonomie wurden von bewaffneten Banden, von faschistischen paramilitärischen Kräften und von der neuen Nationalgarde gewaltsam beantwortet, deren Mitglieder zu großen Teilen aus den Parteien der äußersten Rechten kommen. In einem Referendum stimmte die Bevölkerung im Süd-Osten der Ukraine mit überwältigender Mehrheit für Selbstverwaltung und deklarierte die Unabhängige Volksrepublik in Lugansk und Donezk.

Indem die Kiewer Regierung versucht diese Gebiete zurückzugewinnen, ist sie dabei deren Bewohner zu töten und ihnen den Zugang zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung zu nehmen.

WIR, Repräsentanten der Bevölkerung des Süd-Ostens und der zentralen Ukraine sowie Vertreter aus Netzwerken der internationalen Solidarität mit dem Widerstand gegen den Krieg in der Ukraine appellieren für eine dringende weltweite Aktion.

Wir rufen auf:

  1. Zu einer sofortigen Beendigung des Krieges der Kiewer Regierung.
  2. Zu direkten Gesprächen zwischen Kiew und den Repräsentanten der Donezker und der Lugansker Republik.
  3. Zu einer sofortigen Beendigung der Verletzung von Menschenrechten durch die Kiewer Regierung.
  4. Zur Bildung einer internationalen Solidaritätsbewegung für die unmittelbaren und langfristigen Bedürfnisse der Menschen, die derzeit unter den Angriffen stehen, zur Bildung von Fonds für humanitäre Hilfe und für die Unterstützung ihres politischen Kampfes mit gewaltlosen Mitteln. Wir rufen dazu auf, öffentlich zu machen, was tatsächlich in der Region geschieht.
  5. Zu einer internationalen Untersuchung durch Juristen in Menschenrechtsanwälten über die Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, die im Verlauf dieses Krieges begangen worden sind.
  6. Zu einer Beendigung der gegenwärtigen und geplanten Austeritätspolitik.
  7. Zu einer Beendigung der militärischen NATO-, EU-, USA-Unterstützung für diese Regierung.
  8. Zu einem sofortigen Abbruch der NATO-Manöver in der Ukraine und in Zentral- und Ost-Europa, die darauf gerichtet sind, weitere materielle und moralische Unterstützung für die Kiewer Regierung und ihren Bürgerkrieg zu geben und
  9. Zu einem internationalen Protest gegen den NATO-Gipfel in Wales im September.

Unterschrieben von:

Alan Freeman (England); Radhika Desai (Kanada); Richard Brenner (England); Hermann Dworczak (Österreich); Jeffrey Sommers (USA); Roger Annis (Kanada); Tord Björk (Schweden); Kai Ehlers (Deutschland); Boris Kagarlitsky (Russische Föderation); Vasiliy Koltashow (Russische Föderation); Alla Glintchikowa (Russische Föderation); Wladimir Rogow (Ukraine); Aleksei Anpilogow (Ukraine); Aleksei Albu (Ukraine); Yana Manuilowa (Voksrepublik Donezk); Anastasia Pyaterikowa (Volksrepublik Lugansk)

Ukrainische Organisationen:

Zentrum für Koordination und Unterstützung einer Ukrainischen Föderation; Vereinigung Ukrainischer Bürger; Politische Partei Borot'ba; Slawische Wache (Zaporozh'e); Volkseinheit (Charkow); Lugansker Wache; Initiativ-Gruppen des antifaschistischen Widerstands von Sumy, Kiew, Dnepropetrowsk, Zaporosche, Odessa.

(Unterstützer/innen dieser Deklaration wenden sich bitte an:
info@kai-ehlers.de)

*

Quelle:
© 2014 by Kai Ehlers
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2014