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OFFENER BRIEF/017: Einhaltung von Menschenrechten in der deutschen Usbekistanpolitik gefordert (ECCHR)


European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) - Pressemitteilung vom 8. Dezember 2011

Zum Tag der Menschenrechte fordern sechs deutsche NGOs die Bundeskanzlerin auf, in der Usbekistanpolitik stärker auf die Einhaltung von Menschenrechten zu setzen

Im Hinblick auf Themen wie Kinderzwangsarbeit und systematische Folter verlangt die Menschenrechtssituation in Usbekistan konkrete Maßnahmen der deutschen Bundesregierung


Berlin, 8. Dezember 2011 - Anlässlich des bevorstehenden Internationalen Tages der Menschenrechte am 10. Dezember haben sich das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das deutsch-usbekische Forum für Menschenrechte (UGF), das INKOTA-netzwerk, terre des hommes Deutschland, Brot für die Welt, und die Eurasian Transition Group heute mit einem Offenen Brief an die Bundeskanzlerin gewandt, um auf die Menschenrechtssituation in Usbekistan aufmerksam zu machen. Der Brief fordert die deutsche Regierung, Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Usbekistanpolitik zu stellen und enthält konkrete Handlungsempfehlungen hierzu. Usbekistan gilt heute als eines der repressivsten Regime der Welt.

Die Menschenrechtssituation in Usbekistan ist angesichts staatlich geförderter Kinderarbeit in der Baumwollernte unter Einbeziehung von 1,5 bis 2 Millionen Kindern im Jahr sowie der Untergrabung grundlegender Bürger- und Menschenrechte einschließlich der systematischen Anwendung von Folter mehr als besorgniserregend. Das Land hat seine Türen für Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen und die Internationale Arbeitsorganisation geschlossen und kürzlich die letzten unabhängigen internationalen Menschenrechtsorganisationen des Landes verwiesen. Dennoch misst sich die Regierung des usbekischen Präsidenten Karimow die notwendige Verhandlungsmacht zu, weiterhin gegen internationale Menschenrechte verstoßen zu können, ohne befürchten zu müssen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Hierbei kann sie sich auf die Zusammenarbeit mit NATO-Verbündeten wie Deutschland, die an der usbekischen Grenze zu Afghanistan interessiert sind sowie auf die Handelsbeziehungen mit internationalen Baumwollhändlern stützen. Diese Situation halten die sechs unterzeichnenden NGOs des Offenen Briefes an die Bundeskanzlerin für inakzeptabel. Die deutsche Regierung muss in Abstimmung mit der Europäischen Union konkrete Maßnahmen ergreifen, um das usbekische Regime für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen. Der Offene Brief enthält diesbezüglich konkrete Handlungsempfehlungen.


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8. Dezember 2011

An: Frau Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin

CC: Herrn Dr. Guido Westerwelle, Bundesaußenminister
Herrn Markus Löning, Beauftragter der Bundesregierung
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt

Offener Brief:
Am Tag der Menschenrechte sollte Deutschland sich zur aktiven Verfolgung einer menschenrechtsorientierten Politik gegenüber Usbekistan verpflichten

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

Bakhodir Pardaev, ein 13-jähriger usbekischer Junge, liegt seit September dieses Jahres im Koma. Anstatt die Schule zu besuchen, hatten er und seine Mitschüler den ganzen Tag auf den Feldern gearbeitet, wo sie, wie jedes Jahr, zur Baumwollernte gezwungen wurden, um die von der Regierung gesetzten Quoten zu erfüllen. Auf dem Nachhauseweg, der die Kinder zu Fuß an einer Autobahn entlangführt, wurde Pardaev von einem Auto überfahren. Zwischen 1,5 bis 2 Millionen usbekische Kinder und ihre Lehrer werden jeden Herbst vom Staat in die Baumwollfelder geschickt, wo sie wochenlang unter prekären Bedingungen Baumwolle pflücken. Hierin liegt ein Verstoß gegen die UN-Konvention über die Rechte des Kindes und die Konvention 182 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Im Hinblick darauf, dass Usbekistan weltweit der drittgrößte Exporteur von Baumwolle ist, ist davon auszugehen, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung Kleidung aus Baumwolle trägt, die unter dem Einsatz von Kinderzwangsarbeit in Usbekistan geerntet wurde. Baumwolle erbringt dem Land jährlich über eine Milliarde US Dollar. Dies stellt etwa 20% des usbekischen Bruttoinlandproduktes dar. Der größte Teil dieses Einkommens verbleibt jedoch in den Händen der Eliten rund um die usbekische Regierung, die ein Monopol auf den gesamten Baumwollhandel hält. Mit anderen Worten trägt Baumwolle zur Finanzierung des autoritären Regimes von Präsident Karimov bei.

Im vergangenen Oktober schickten die Eltern von Dilshod Shohidov, der in Usbekistan eine achtjährige Haftstrafe wegen Verbreitung extremistischer Literatur und Diebstahl verbüßt, einen öffentlichen Appell an die Behörden. Bei ihrem letzten Besuch waren ihnen Folterspuren an seinem Körper - an Rücken, Armen und Beinen - aufgefallen. Auch sein Mund hatte schwere Verletzungen aufgewiesen, nachdem er von Strafvollzugsbehörden zwangsernährt worden war, um seinen Hungerstreik zu beenden. Seine Eltern schreiben: "Es ist kein Geheimnis mehr, dass von Zeit zu Zeit Häftlinge in Gefängnissen und Untersuchungshaft an den Folgen von Folter und ähnlichen Misshandlungen sterben. Wir haben Angst, dass unserem Sohn ein ähnliches Schicksal widerfährt."

Folter in Usbekistan wurde von Organen der Vereinten Nationen als systematisch und weit verbreitet eingestuft und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt entschieden, dass es gegen das Folterverbot verstößt, Häftlinge nach Usbekistan abzuschieben. Den in der UN-Konvention gegen Folter enthaltenen Verboten wird in Usbekistan in der Tat nur wenig Bedeutung beigemessen. So wurden beispielsweise nach unabhängigen Berichten Feinde von Präsident Karimow in kochendes Wasser geworfen und so zu Tode gefoltert. Mindestens ein Dutzend Menschenrechtler sind derzeit wegen ihrer Arbeit inhaftiert.

In zwei Tagen, am 10. Dezember, feiern wir den Tag der Menschenrechte. Vor 63 Jahren, in der Zeit nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs, verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die fundamentalsten Grundrechte für alle Menschen beinhaltet.

Die usbekische Regierung verletzt regelmäßig nahezu alle der in dieser Erklärung enthaltenen Rechte. Wie Ihnen bekannt ist, hat sich die Menschenrechtssituation in Usbekistan am 13. Mai 2005 dramatisch zugespitzt, als Kräfte der usbekischen Regierung Hunderte von meist unbewaffneten Zivilisten in der Stadt Andischan erschossen. Seit diesen als Andischan-Massaker bekannt gewordenen Ereignissen und dem sich daran anschließenden brutalen Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung, wurden sowohl Menschenrechtsorganisationen als auch Medienunternehmen und verschiedene UN-Organisationen des Landes verwiesen. Trotz wiederholter Aufforderungen gelang es weder Sonderberichterstattern der Vereinten Nationen noch der IAO, Zugang in das Land zu erhalten. Heute ist Usbekistan eines der weltweit repressivsten Regime. Dennoch ist das Land nicht für alle geschlossen. Im Hinblick auf internationale Baumwollhändler, aber auch für NATO-Verbündete, die ein strategisches Interesse an der usbekischen Grenze zu Afghanistan sehen ist die usbekische Regierung zu der Überzeugung gekommen, dass sie die notwendige Verhandlungsmacht besitzt, weiter gegen internationale Menschenrechte verstoßen zu können, ohne befürchten zu müssen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Das usbekische Regime kann darauf vertrauen, dass es von der internationalen Gemeinschaft das erhält, was es benötigt. Diese Überzeugung ist nach der Aufhebung der EU-Sanktionen, die infolge des Andischan-Massakers von Mai 2005 verhängt worden waren, noch gestärkt worden. Bezeichnenderweise hat sich die Menschenrechtssituation seit der Aufhebung der Sanktionen nicht im Geringsten verbessert.

Die Annahme, dass eine stille Diplomatie die effizienteste Vorgehensweise sei, um die Menschenrechtssituation in Usbekistan zu verbessern, hat sich nicht bestätigt. Die Nutzung des usbekischen Stützpunkts Termez nahe der afghanischen Grenze darf die Regierung nicht daran hindern, die grausame Bilanz des usbekischen Regimes in Sachen Menschenrechte öffentlich zu verurteilen und eine proaktive Agenda der Menschenrechte in Usbekistan zu verfolgen. Dies nicht zu tun, wäre in der Tat schwer mit den Zielen Deutschlands in Einklang zu bringen, die Demokratie in Afghanistan, Usbekistans Nachbar im Süden des Landes, zu stärken. Wie der arabische Frühling uns erneut in Erinnerung gerufen hat, werden Diktatoren, die die Menschenrechte ihrer Bürger missachten, früher oder später aus der Macht gedrängt.

Wir, die Vertreter von in Deutschland ansässigen gemeinnützigen Organisationen, fordern Sie anlässlich des bevorstehenden Tages der Menschenrechte auf, Deutschlands Einsatz für die Förderung und den Schutz von Menschen- und Kinderrechten, insbesondere in Bezug auf Usbekistan, zu bestätigen. Die Bundesregierung sollte:

• zu jeder bilateralen und internationalen Gelegenheit eine aktive menschenrechtsbezogene und offene Diplomatie in Bezug auf Usbekistan verfolgen,

• Usbekistan auffordern, innerhalb eines von der Europäischen Union verabschiedeten Zeitrahmens, die Kriterien, die der Rat der Europäischen Union in seinen Schlussfolgerungen zu Usbekistan vom 25. Oktober 2010 festgelegt hat, zu erfüllen. Dementsprechend müssen die usbekischen Behörden:

- alle inhaftierten Menschenrechtsverteidiger und politischen Gefangenen freilassen;
- den ungehinderten Betrieb von Nichtregierungsorganisationen im Land gewährleisten;
- uneingeschränkt mit allen relevanten UN-Sonderberichterstattern kooperieren;
- Meinungsäußerungsfreiheit und Freiheit der Medien gewährleisten;
- die praktische Umsetzung der IAO-Konventionen gegen Kinderarbeit vorantreiben und
- das Wahlsystem in vollem Umfang internationalen Standards anpassen.

Für den Fall, dass diese Kriterien in dem festzusetzenden Zeitrahmen nicht erfüllt werden, müssen politische Maßnahmen und gezielte Sanktionen in Betracht gezogen werden.

Die Bundesregierung sollte weiterhin:

• auf die IAO einwirken, eine Untersuchungskommission (Mission of Inquiry) nach Artikel 26 der IAO-Verfassung einzuleiten, um im nächsten Jahr die Baumwollernte zu überwachen und die wirksame Umsetzung der IAO-Konvention 182 über die schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu überprüfen;

• die Europäische Kommission auffordern, zu prüfen, ob die Einbeziehung Usbekistans in das Allgemeine Präferenzsystem (APS) in Anbetracht der schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen zurückgezogen werden sollte. Die Handelspräferenzen für Usbekistan stehen in direktem Widerspruch zu der von der Europäischen Union eingegangenen Verpflichtungen auf die Menschenrechte in Bezug auf APS;

• verlangen, dass die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch unverzüglich eine neue Zulassung für ihr Büro in Tashkent erhält, sowie Ausgabe von Visa und Arbeitserlaubnissen für ihre internationalen Mitarbeiter und Gewährleistung eines ungestörten Betriebs. Der Oberste Gerichtshof Usbekistans "liquidierte" im Juni letzten Jahres die Zulassung und ordnete die Schließung der letzten unabhängigen internationalen Menschenrechtorganisation in Usbekistan an.

Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Mit freundlichen Grüßen,

Brot für die Welt
Eurasian Transition Group
European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)
INKOTA-netzwerk
terre des hommes Deutschland
Uzbek-German Forum for Human Rights (UGF)


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Quelle:
Pressemitteilung vom 8. Dezember 2011
European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) e. V.
Zossener Str. 55-58, Aufgang D, 10961 BERLIN
Telefon: + 49 - (0)30 - 40 04 85 90, Fax: + 49 - (0)30 - 40 04 85 92
E-Mail: info@ECCHR.eu
Internet: www.ecchr.eu


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2011