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OFFENER BRIEF/110: F-35-Kampfjets - Stopp der nuklearen Aufrüstung (IPPNW)


IPPNW-Pressemitteilung vom 06. Dezember 2022
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland

F-35-Kampfjets: IPPNW fordert Stopp der nuklearen Aufrüstung!

Friedensnobelpreisträger-Organisation kritisiert fehlende, demokratische Legitimation der F-35 und fordert sofortigen Kauf-Stopp / Offener Brief an Bundeskanzler Scholz


Mit Blick auf die gestrige Krisensitzung im Haushaltsausschuss, fordert die ärztliche Friedensorganisation IPPNW eine transparente Debatte über die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland. Es habe nie eine demokratische Entscheidungsfindung oder eine gesetzliche Grundlage für die nukleare Teilhabe, in deren Rahmen die F-35-Kampfjets angeschafft werden, gegeben. Und das, obwohl das Bundesverfassungsgericht vorsieht, dass Entscheidungen in wesentlichen Fragen gesetzlich legitimiert werden müssen. Die Beschaffung der F-35-Kampfjets müsse deshalb gestoppt werden.

"Mit dem Kauf der F-35 wird die Aufrüstung der in Deutschland stationierten Atomwaffen eingeleitet. Die elektronische Ausstattung der F35-Kampfjets ist die Voraussetzung, um neue US-amerikanische Atombomben einsetzen zu können, die laut Medienberichten noch vor Ende des Jahres in Deutschland stationiert werden könnten", erklärt Dr. Inga Blum, Vorstandsmitglied der Internationalen IPPNW. Die IPPNW verweist zudem auf bereits bekannte Mängel der Jet-Reihe und die damit verbundenen, zusätzlichen Mehrkosten.

"Die Anschaffung der F-35-Kampfjets ist nicht nur demokratisch fragwürdig, sie ist auch ein Fass ohne Boden. Wir sprechen hier nicht nur von einer 'zeitlichen Verzögerung und Mehrkosten' wegen des Umbaus am Atomwaffenstützpunkt Büchel und der Bürokratie bei der Zulassung der Kampfjets. Wir sprechen hier von konkreten Mängeln an den Jets selbst. Laut der zuständigen US-Prüfbehörde wurden letztes Jahr mehrere Mängel in den Bereichen Waffen, Sensorfusion, Kommunikation und Navigation, Cybersicherheit sowie Zielerfassung festgestellt. Die Fehler betreffen demnach besonders sensible Bereiche. Dieser Aspekt wurde in der gestrigen Sitzung komplett ausgespart", so Blum weiter.

In einer umfangreichen Studie hatte Greenpeace bereits im Juni 2022 auf zahlreiche Mängel der F-35-Serie hingewiesen. Demnach seien die Probleme 20 Jahre nach Entwicklungsbeginn und über zehn Jahre nach Beginn der Vorserienfertigung so umfangreich und grundsätzlich, dass wesentliche Bestandteile des F-35-Systems noch immer nicht vollständig ausgereift seien. Selbst der US-Rechnungshof warne, dass der Kauf einer großen Anzahl von Flugzeugen vor Abschluss der operationellen Tests und vor der Behebung von Mängeln das Risiko zusätzlicher Kosten für Nachrüstungen erhöhe. Das Waffensystem befinde sich mindestens bis 2029 in der Weiterentwicklung.

"Dieser Berg an ungeklärten Kosten und die Frage der demokratischen Legitimation der Anschaffung mit Blick auf die nukleare Teilhabe, verlangen, dass die Bundesregierung die Beschaffung der F-35-Kampfjets mit sofortiger Wirkung stoppt!", so Blum. "Hinzu kommt, dass die nukleare Teilhabe Deutschland nicht sicherer macht. Im Gegenteil: sie ist ein Sicherheitsrisiko. Die Atomwaffen in Deutschland wären im Kriegsfall erstes Angriffsziel und stünden nicht für einen sogenannten "Vergeltungsschlag" zur Verfügung. Diese völkerrechtswidrige Aufrüstung heizt das Wettrüsten in Europa an. Die geplante Milliardeninvestition in die F-35 widerspricht deshalb fundamentalen Sicherheitsinteressen der Bevölkerung." Angesichts der drohenden Gefahr einer Eskalation des Krieges in der Ukraine zum Atomkrieg fordert die IPPNW konkrete Deeskalationsschritte.

"Eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa muss das Bedürfnis nach nuklearer Risikoreduktion und nuklearer Rüstungskontrolle aufgreifen, was mittelfristig in eine nukleare Abrüstung münden könnte. Insofern sind die aktuellen Finanzierungsprobleme bei den atomar zu nutzenden Kampfbombern F-35 als Chance für eine Überprüfung des bisherigen Sicherheitsparadigmas zu nutzen - hin zu menschlicher Sicherheit und einer Verringerung der Rolle von Atomwaffen", fügt die IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen hinzu.

In einem heute veröffentlichten, gemeinsamen Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz und die Minister*innen Lambrecht, Bearbock und Lindner, unterstreichen die IPPNW und andere friedenspolitische Organisationen diese Forderung. Mit Blick auf die nukleare Gefahr sei es dringend notwendig, dem Risiko aktiv entgegen zu treten und ab- statt aufzurüsten. In dem Brief beschreiben die Organisationen konkrete Schritte der nuklearen Abrüstung für das Jahr 2023.

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OFFENER BRIEF

Berlin, 6 Dezember

Deutschland muss sich aktiv für eine Welt ohne Atomwaffen einsetzen!

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
Sehr geehrte Frau Bundesministerin Baerbock,
Sehr geehrte Frau Bundesministerin Lambrecht,
Sehr geehrter Herr Bundesminister Lindner,

rückblickend auf das Jahr 2022 müssen wir feststellen: Wir leben in einer Zeit, in der ein noch nie dagewesenes Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen besteht. Die russische Führung droht seit Frühjahr 2022 mehrfach mit Atomwaffen, um zu verhindern, dass Staaten die Ukraine militärisch unterstützen. Jeder Einsatz von Atomwaffen hätte katastrophale humanitäre Folgen. Mit den jüngsten Drohungen rückt die Gefahr einer solchen Katastrophe näher. Darüber hinaus führt diese nukleare Rhetorik bei Bürger*innen zu existentiellen Ängsten. Das nukleare Tabu droht zu zerfallen, wenn Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen hingenommen werden. Wir fordern Sie auf, jede nukleare Drohung, sei sie explizit oder implizit und ungeachtet der Umstände eindeutig zu verurteilen.

Wir schließen uns dem wichtigen Statement der G20-Staaten bei ihrem Gipfel in Bali an: "Der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen sind unzulässig". Dennoch schließen viele Staaten - auch in der NATO - einen solchen Einsatz weiterhin nicht aus. Zusätzlich, und schon vor Beginn der russischen Invasion, begann in allen Atomwaffenstaaten die Modernisierung und Aufrüstung der bestehenden Arsenale. Diese Entwicklungen sind fatal, widersprechen den bestehenden völkerrechtlichen Abrüstungsverpflichtungen und schwächen die internationale Stabilität. Deshalb fordern wir Sie eindringlich auf, multilaterale Abrüstungsverpflichtungen zu stärken und auszubauen.

Das Jahr 2022 hat Chancen zur abrüstungspolitischen Gestaltung geboten. Doch die Überprüfungskonferenz des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) endete ohne Ergebnis. Das inakzeptable Veto Russlands zum Abschlussdokument darf dabei nicht über die weiteren Kontroversen hinwegtäuschen, u.a. die Frustration der Staatengemeinschaft, über die stagnierenden Abrüstungsverpflichtungen aus NVV-Artikel 6. Die Bemühungen der Bundesregierung für eine Welt ohne Atomwaffen begrüßen wir. Wir sind aber überzeugt, dass es jetzt ambitionierte Maßnahmen braucht, um das Wettrüsten des 21. Jahrhunderts aufzuhalten.

Die Staaten des UN-Atomwaffenverbotsvertrages (AVV) haben im Juni diesen Jahres konkrete und messbare Schritte vereinbart, um nukleare Abrüstung voranzubringen und Betroffene von Atomwaffeneinsätzen und -tests zu unterstützen. Gleichzeitig verhindert der AVV die nukleare Proliferation und die Ausweitung des Konzepts des "nuklearen Schirms" in anderen Regionen (Indopazifik, Zentralasien).

Daher war es ein richtungsweisender Schritt, dass die Bundesregierung beobachtend an dieser Konferenz teilgenommen hat. Wir möchten Sie dringend dazu ermutigen, diesen Weg weiterzugehen! Das Ziel muss Deutschlands Beitritt zum AVV bleiben. Dazu zählt aber auch, Deutschlands Rolle bzgl. Risikoreduzierung und Deeskalation zu hinterfragen. Das bedeutet, gemeinsam mit den Verbündeten in der NATO auf ein Ende der nuklearen Teilhabe hinzuwirken. Insbesondere als Staat der nuklearen Teilhabe sollte Deutschland sich außerdem aktiv an Maßnahmen zur Entschädigung des durch Atomwaffentests und -einsätze entstandenen Leids beteiligen und Programme zur Opferhilfe und Umweltsanierung unterstützen.

Zwei anstehende Entscheidungen sehen wir als Gradmesser dafür, wie ernst es die Bundesregierung mit ihrem Einsatz für eine atomwaffenfreie Welt meint: Die Beschaffung von F-35A-Kampfjets als nukleare Trägerflugzeuge sowie die geplante Stationierung neuer B61-12-Bomben in Deutschland. Wir lehnen den Kauf neuer Atombomber ab! Die lenkbaren B61-12-Bomben mit variabler Sprengkraft lassen einen Atomkrieg kontrollierbarer und führbarer erscheinen. Damit senken sie die Hemmschwelle für den Einsatz nuklearer Massenvernichtungswaffen. Gerade im Angesicht der zunehmenden nuklearen Spannungen ist diese Entwicklung unverantwortlich.

Als friedenspolitisches Bündnis aus der Zivilgesellschaft fordern wir Sie daher auf, diese konkreten Schritte im kommenden Jahr anzugehen:

  • in der Nationalen Sicherheitsstrategie anzuerkennen, dass Atomwaffen die internationale Stabilität und Sicherheit gefährden, humanitäres Leid verursachen und das Eskalationspotential eines Konflikts steigern;
  • die Stationierung von B61-12-Atombomben in Deutschland zu stoppen und die geplante Ausrüstung der F-35A-Kampfjets für den Einsatz von Atomwaffen zu unterlassen;
  • sich finanziell konkret an Programmen zur Opferhilfe und Umweltsanierung von Atomwaffentestgebieten zu beteiligen;
  • die Rolle von Atomwaffen in der Sicherheitsstrategie der NATO zu verringern, im Bündnis das humanitäre und genderspezifische Leid von Atomwaffen anzuerkennen und die nukleare Teilhabe Deutschlands baldmöglichst beenden;
  • sich mit den Verbündeten in der NATO für eine Stärkung des AVV einzusetzen, z.B. durch eine kollektive Beteiligung als Beobachter bei der nächsten Staatenkonferenz im Herbst 2023;
  • die direkte und indirekte(*) Finanzierungen von Unternehmen, die nachweislich an Entwicklung, Herstellung, Export, Wartung oder Modernisierung von Atomwaffen beteiligt sind, durch Finanzverwaltungen der öffentlichen Hand (Bund, Länder, Kommunen) oder Dritte in deren Auftrag gesetzlich zu verbieten;
  • die Forschung zu den Folgen von Atomwaffentests- und Einsätzen sowie dem Risiko eines unabsichtlichen Einsatzes von Atomwaffen zu fördern;
  • in Ressourcen und Strukturen zu Bildungsformaten zu investieren, die Wissen zu Nuklearwaffen und Abrüstung vermitteln und die feministische, entwicklungspolitische und historische Dimension des Themas greifbar machen.

Wir zählen auf Sie, die aktuelle Regierungsverantwortung zu nutzen und jetzt die Weichen für nukleare Abrüstung zu stellen. Es benötigt mutige Schritte, um das Ziel einer atomwaffenfreien Welt zu erreichen. Dabei bieten wir gerne unsere Unterstützung an.

(*) direkt = Kredite, Darlehen, Ausgabe von Aktien und Anleihen; indirekt = Obligationen, Aktien- und Anleihebeteiligung

Mit freundlichen Grüßen,

Die Unterzeichner sind in der PDF des offenen Briefes zu finden (Link siehe unter weitere Informationen).


Weitere Informationen:

Den Offenen Brief können Sie hier nachlesen:
ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomwaffen/Offener_Brief_2022_ICAN_Partner_final.pdf

Hintergrundpapier der Jurist*innenvereinigung gegen Atomwaffen (IALANA):
www.ialana.de/aktuell/ialana-deutschland-zur-aktuellen-diskussion/ialana-zu-abc-waffen/2818-nukleare-teilhabe

Greenpeace-Studie "F-35: Viel Geld für wenig Sicherheit":
www.greenpeace.de/publikationen/Die%20F35%20-%20viel%20Geld%20f%C3%BCr%20wenig%20Sicherheit.pdf

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Quelle:
Pressemitteilung vom 6. Dezember 2022
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Tel. 030/69 80 74-0, Fax: 030/69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 6. Dezember 2022

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