Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → MEINUNGEN

STANDPUNKT/003: Bremer Aufruf zum Boykott israelischer Waren kein Antisemitismus (['solid] Hamburg)


Landesverband Hamburg der Linksjugend ['solid] - Hamburg, 31.03.2011

Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument
Warum der Bremer Aufruf zum Boykott israelischer Waren kein Antisemitismus ist

Stellungnahme der Linksjugend ['solid] Hamburg


"Durch Emanzipation von der Stereotypenbildung für die Gruppe als Ganzes wird wahrscheinlich dem Vorurteil wirksamer entgegengearbeitet, als wenn man ein negatives Vorurteil mechanisch durch ein positives ersetzt. Gerade die Kollektivurteile als solche, wie sie in Deutschland verhängnisvoll, und zwar gegen alle möglichen Gruppen verbreitet sind, sind abzubauen; keineswegs ist ein falsches Kollektivurteil durch ein ebenso falsches anderes zu berichtigen." (Theodor W. Adorno, 1962)

Die Linksjugend ['solid] Hamburg ist entsetzt über die Reaktionen aus der Partei DIE LINKE und ihr nahe stehenden Organisationen auf die Aktion des Bremer Friedensforums, des Arbeitskreises Süd-Nord und Initiative Nordbremer Bürger gegen den Krieg, die am 11.03.2011 einen weltweiten Boykottaufruf von Waren aus Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten aktiv unterstützt haben. Wir weisen die infamen Unterstellungen, die Instrumentalisierung der Antisemitismuskritik, die Ausgrenzungsversuche und die ungeheuerliche Rufmordkampagne mit Unterstützung der taz und der BILD-Zeitung gegen diese Gruppen der außerparlamentarischen Antikriegs- und Friedensbewegung entschieden zurück. Wer die Aktion der Bremer Friedensgruppen in Beziehung zum Nazi-Terror "Kauft nicht bei Juden!" setzt, der relativiert und banalisiert die schlimmsten NS-Verbrechen.

Wann immer außerparlamentarische Friedensgruppen, KriegsgegnerInnen in der LINKEN und andere Linke den Rahmen der deutschen Staatsräson verlassen und die Politik des Staates Israel kritisieren, ist es mittlerweile zum Ritual geworden, dass Teile der LINKEN, Grüne, Internetblogger, VertreterInnen diverser "Arbeitskreise", Zeitungen und Stiftungen reflexartig über sie herfallen und sie des Antisemitismus bezichtigen - so auch derzeit in Bremen. Paradigmatisch dafür ist die mittlerweile von knapp 170 überwiegend ostdeutschen Funktionären der Linkspartei (Stand 31.03.2011) unterzeichnete Erklärung zum Bremer Konflikt.(1)

Um die Bremer und andere Linke unter Druck zu setzen und auf die eigene staatstragende politische Linie einzuschwören - kurz: Partei- und Szenedisziplin zu forcieren -, missbrauchen die UnterzeichnerInnen der Erklärung die Kritik des Antisemitismus als Herrschaftsinstrument. Man muss nicht mit der Form des Protests, den die Bremer GegnerInnen der israelischen Besatzungspolitik gewählt haben, einverstanden sein oder sie gutheißen, um das zu begreifen und ablehnen zu können.

Die Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs ist bei Teilen der UnterzeichnerInnen üblich. Das ändert jedoch nichts daran, dass sie völlig inakzeptabel ist. Sie befördert den Antisemitismus, weil seine Grundstruktur lediglich positiv - philosemitisch - gewendet und nicht mit ihr gebrochen wird. Der Konflikt sagt daher auch mehr über die KritikerInnen aus der LINKEN aus, die den deutschen Konsens zur israelischen Politik nicht aufgeben wollen, als über die kritisierten Bremer AktivistInnen. Nichts ist antisemitisch, weil es an antisemitische Handlungen "erinnert". Wer das lediglich für eine Nuance hält, gibt die Kritik und die Wahrheit der Beliebigkeit preis.

Es ist ein offenes Geheimnis in der LINKEN, dass die überfallartigen Rufmordkampagnen wohl orchestriert sind: Junge kampferprobte und aufstrebende Mitglieder der Linksjugend ['solid] und der Linkspartei mit MitarbeiterInnenposten bei verschiedenen Landtags- und Bundestagsabgeordneten2 initiieren eine Kampagne. Wenn sie - wie im Falle des Bremer Konflikts - Aussicht auf Erfolg hat, springen einige ältere gesetzte Parteigrößen auf und verleihen der Hetzjagd auf linke Friedensaktivisten presse- und publikumswirksam Gewicht. Dem ehemaligen außenpolitischen Sprecher der LINKEN Bundestagsfraktion, Norman Paech, wurde in vergleichbarer Manier zugesetzt. Die innenpolitische Sprecherin, Ulla Jelpke, rückten einzelne UnterzeichnerInnen der oben genannten Erklärung vor geraumer Zeit in die Nähe von Nazis und schreckten auch vor einem extremismustheoretischen Vergleich von Nazis und Linken nicht zurück.(3) In der Rosa Luxemburg Stiftung führte ähnlicher Druck jüngst dazu, dass auch ein jüdischer Kritiker der israelischen Politik, für dessen Diffamierung der BAK "Shalom" sorgte, wieder ausgeladen wurde.

In der Sache geht es den LINKEN, die das Pamphlet gegen die Bremer Aktion unterschrieben haben, nicht um Antisemitismus. Wäre dies der Fall, könnten sie sehr wohl zwischen einer Agitation gegen spezifische Teile der israelischen Regierungspolitik wie die völkerrechtswidrige Besatzung der palästinensischen Gebiete und einer Aktion unterscheiden, die sich gegen Jüdinnen und Juden oder den israelischen Staat als Verkörperung des Judentums richtet. Weder der Wortlaut des Flugblatts noch die Aktion vor Ort erlaubt eine solche falsche Interpretation. Noch unverständlicher wird sie angesichts der Tatsache, dass die Bremer FriedensaktivistInnen einen weltweiten Appell mittragen, der auch von jüdischen und israelischen Einzelpersonen und Organisationen unterstützt wird. Oder sind diese UnterstützerInnen womöglich "selbsthassende Juden"? Die Argumentation o.g. LinksparteianhängerInnen wird aber vollends absurd und irrational, wenn sie behaupten: "Die Deutung der Boykottaktion liegt nicht in der Hoheit des 'Bremer Friedensforum', sondern bei den Betrachter_innen." Glaubt man der Erklärung, sind diese "Betrachter_Innen" unter anderem: Mitglieder der Linksjugend ['solid], die militärische Operationen gegen den Iran4 und militärische Angriffe auf das Hilfsschiff Marvi Marmara und den Gazakrieg legitimierten; Linksparteimitglieder, die in Berlin und andernorts reale Regierungspolitik machen bzw. machen wollen und zum Teil Israels Kriege rechtfertigen; Angehörige der Rosa Luxemburg Stiftung, die "antideutsche" Lokalgrößen finanziell absichern oder rassistische KriegstreiberInnen zu deren Veranstaltungen einladen; Bundestagsabgeordnete, die das Gedenken an den Holocaust gegen ihre FraktionskollegInnen instrumentalisieren oder sich bei Abstimmungen über deutsche Militäreinsätze enthalten; Grüne, die bereit sind, imperialistische Kriege zu führen; und die BILD-Zeitung, die ohnehin für ihre geschichtsklitternde Tradition bekannt ist, mit der Deutschland seinen Wiederaufstieg zur Weltmacht rechtfertigt. Dass diese Melange deutscher RealpolitikerInnen sich nun als aufrichtige KritikerInnen des Antisemitismus aufspielt und ihre bzw. die Position des deutschen Establishments zum Maß der Antisemitismuskritik macht, ist grotesk.

Wie in so vielen anderen ähnlichen Auseinandersetzungen ist die Intervention gegen linke außerparlamentarische Gruppen anders als durch emanzipatorische Emphase motiviert. Es geht um die Hegemonie in der Linken und in der Linkspartei, um die Regierungsfähigkeit der LINKEN und um die Deutungshoheit politischer Positionen innerhalb und außerhalb der Partei und ihr nahe stehender Organisationen. Dass die Aktion der Bremer FriedensaktivistInnen gerade in einigen ostdeutschen Verbänden der LINKEN solche Reaktionen hervorruft, ist daher keineswegs erstaunlich oder überraschend, sondern gemäß der inneren Logik des Opportunismus aufstrebender Koalitionäre und PostensammlerInnen ebenso konsequent wie ernüchternd.

Ausdrücklich bedauern wir aber die Positionierung der Bremer LINKEN in der Auseinandersetzung. Die überhastet wirkende Stellungnahme - der mediale Druck war und ist vermutlich enorm -, auf die sich die Mehrheit des Bremer Landesvorstandes der Partei und einige FunktionsträgerInnen in Bremen einigten, ist leider kein Beitrag zur Differenzierung im Konflikt, auch wenn wir einige Punkte der Erklärung teilen.(5) Sie enthält aber nicht nur eine prominent platzierte Distanzierung von den außerparlamentarischen Bremer Friedensgruppen. In ihr wird auch deren Aktion selbst in die Nähe des Antisemitismus gerückt. Wir ersuchen daher die Bremer GenossInnen, ihre Positionierung noch einmal zu überdenken und von den entsprechenden Passagen Abstand zu nehmen. Dass einige Bremer Funktionäre der Partei sogar den Antisemitismusvorwurf erheben, indem sie die Erklärung ihrer ostdeutschen ParteikollegInnen unterschrieben, bedarf keines weiteren Kommentars.

Linksjugend ['solid] Hamburg



Anmerkung:

(1) http://haskala.de/2011/03/22/boykott-israelischer-produkte-verurteilt/

(2) Für einen mittlerweile leicht veralteten Überblick siehe: Jens Mertens: Von innen umzingelt. In: Hintergrund. Heft 1/2010.

(3) Siehe: http://www.linksjugend-solid-hamburg.de/fileadmin/user_upload/linksjugend/Antimilitarismus/Stellungnahme%20BAK%20_Shalom_%20und%20die%20Free%20Gaza%20Flottille%20.pdf

(4) So geschehen von Mitgliedern des BAK "Shalom", dem neben Benjamin Krüger und Stefan Kunath auch Fabian Blunk zumindest angehörte und dem andere Linksjugend ['solid] Mitglieder aus Sachsen nahe stehen.

(5) http://www.dielinke-bremen.de/nc/politik/aktuell/detail/zurueck/bremennews/artikel/diskussion-um-israelisch-palaestinensischen-konflikt-differenzierter-fuehren/


Hinweis der Schattenblick-Redaktion: zum Thema siehe auch: www.schattenblick.de -> Bürger und Gesellschaft -> Meinungen -> Leserbriefe
LESERBRIEFE/001: Boykott Bremer Friedensfreunde gegen Früchte aus Israel und die Folgen (Arn Strohmeyer)


*


Quelle:
Linksjugend ['solid] - Landesverband Hamburg
Kreuzweg 7, 20099 Hamburg
E-Mail: info@linksjugend-solid-hamburg.de
Internet: http://www.linksjugend-solid-hamburg.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2011