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STANDPUNKT/054: Große Koalition gegen Roma (Grundrechtekomitee)


Komitee für Grundrechte und Demokratie
Pressemitteilung vom 2. Dezember 2013

Große Koalition gegen Roma



Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD richtet sich offensiv gegen Roma, die aus Südosteuropa und dem Balkan nach Deutschland einwandern. Obwohl eine massive Diskriminierung von Roma in den Herkunftsländern gegeben ist, werden Roma pauschal legitime Migrations- und Fluchtgründe bestritten. Um Roma leichter abschieben zu können, sollen Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien zu vermeintlich sichereren Herkunftsstaaten erklärt werden. Und EU-Bürger aus Bulgarien und Rumänien wird pauschal die Absicht unterstellt, Sozialleistungen zu missbrauchen. Auch wenn im Koalitionsvertrag nirgendwo ausdrücklich von Roma die Rede ist, ist durchaus klar, gegen wen vor allem sich der dort geführte Diskurs über "Armutswanderung" und Sozialleistungsmissbrauch richtet.

Ein deutscher Wohlstandschauvinismus, der Roma-Minderheiten als Bedrohung inszeniert, greift dabei indirekt auf alte antiziganistische Stereotype zurück, und steht in einem eklatanten Widerspruch zur Berufung auf die Grund- und Menschenrechte als Grundlage deutscher und europäischer Politik.

Unter der Formel "Zusammenhalt der Gesellschaft" (Abschnitt 4 des Koalitionsvertrages) wird unter den Leitbegriffen "Armutswanderung" (S. 108) und "Flüchtlingsschutz" (S. 109) zunächst eine Bedrohung durch Zuwanderung in die Sozialsysteme suggeriert. Allgemein heißt es: "Wir wollen die Akzeptanz für die Freizügigkeit in der EU erhalten. Wir werden deshalb der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken. ..."

Der assoziierende Lesende versteht sogleich, welche EU-Bürger gemeint sind. Im Weiteren wird dann auch der Bezug zu den Auseinandersetzungen über die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien in einigen deutschen Städten hergestellt:

"Die Armutswanderung führt in einzelnen großstädtisch geprägten Kommunen zu erheblichen sozialen Problemlagen bei der Integration, Existenzsicherung, Unterbringung und Gesundheitsversorgung. Wir erkennen die Belastung der Kommunen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben an."

Hier tauchen die Armutsgespenster aus den südosteuropäischen EU-Mitgliedsländern Rumänien und Bulgarien im Koalitionsvertrag wieder auf, die vom kommenden Jahr an die allgemeine Arbeitnehmerfreizügigkeit als Teil der europäischen Personenfreizügigkeit genießen werden. Unter dem ansonsten wenig gebräuchlichen Terminus "Armutsmigration" wurde in den zurückliegenden Monaten vor allem die Migration der Roma-Minderheiten politisch und journalistisch aggressiv aufbereitet. Armutsmigration wurde zum Synonym für die Migration von Roma-Minderheiten. Die Debatte um eine neue Armutsmigration aus Mittelost- und Südosteuropa erweist sich dabei primär als Ängste schürender Populismus, der die migrierenden Roma-Minderheiten stigmatisiert und diskriminiert, indem ihnen pauschal unterstellt wird, Sozialleistungen erschleichen zu wollen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma schrieb bereits vor der Wahl an den Bundespräsidenten. Der Zentralrat sei "besorgt über die zunehmend aggressiv geführte Debatte über die Zuwanderungen vorwiegend aus Bulgarien und Rumänien, die inzwischen droht, zum Wahlkampfthema zu werden. ... Der neue Populismus in Deutschland ... werde in der Öffentlichkeit ausschließlich auf Angehörige der Roma bezogen."

Die Koalitionäre haben gelernt, den Begriff der Roma-Minderheiten zu vermeiden. Gleichwohl werden Ressentiments bereits im Koalitionsvertrag aufgerufen und Roma-Minderheiten implizit als "parasitäre" Fremde angesprochen.

Zudem wird ganz ausdrücklich festgestellt, dass die Abschiebung von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien - faktisch handelt es sich überwiegend um Roma - erleichtert werden soll. Ihnen werden pauschal berechtigte Fluchtgründe bestritten und wahrheitswidrig wird deklariert, dass sie in ihren Herkunftsstaaten nicht bedroht seien:

"Wir wollen die Westbalkanstaaten Bosnien und Herzegowina, EjR Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten im Sinne von § 29a Asylverfahrensgesetz einstufen, um aussichtslose Asylanträge von Angehörigen dieser Staaten schneller bearbeiten und ihren Aufenthalt in Deutschland schneller beenden zu können. Wir wollen uns zugleich gegenüber den Regierungen dieser Staaten und der EU-Kommission dafür einsetzen, rasche und nachhaltige Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation vor Ort zu ergreifen."

Nun ist es nicht so, als ob die Fachpolitiker aus CDU-SPD-CSU hätten zuvor noch Erkundungsreisen in die Balkanstaaten unternehmen müssen, um die Lebensbedingungen der Roma-Minderheiten dort kennenzulernen. Untersuchungen, Lageberichte diverser NGOs über die elendigen, prekären, von rassistischer Gewalt und umfassender Diskriminierungen gekennzeichneten Lebensverhältnisse großer Teile der Roma-Minderheiten liegen längst vor. Man hätte sie, wenn man gewollt hätte, nur zur Kenntnis nehmen müssen. Stattdessen versucht man sich selbst und die Öffentlichkeit zu beruhigen, indem auf zukünftige Verbesserungen der Situation in den Herkunftsländern verwiesen wird, um die Abschiebungen derer, die gegenwärtig unter massiver Armut und Diskriminierung leiden, zu rechtfertigen.

Es scheint, als wollten die etablierten Koalitionsparteien den "gesellschaftlichen Zusammenhalt" stärken, indem sie vorurteilsgewaltig und angstschürend gegen diejenigen mobilisieren, die keine andere Möglichkeit für ein einigermaßen erträgliches Leben sehen, als ihre Herkunftsländer zu verlassen. Sie sollen auch in Deutschland nicht als gleichberechtigte Mitbürger anerkannt werden. Die Koalitionäre lassen dabei durchblicken, dass sie den Zusammenhalt der einheimischen Wähler meinen, wohingegen die Roma-Minderheiten ungerührt ins Elend abgeschoben werden sollen. Ein Koalitionsprogrammpunkt, der den rassistischen Mob, die braven Wutbürger und anständigen Mieter in den Quartieren ermuntern dürfte. Davor schützt auch kein Mahnmahl an die in der Zeit des Nationalsozialismus gemordeten Sinti und Roma.

Albert Scherr | Dirk Vogelskamp


Hinweis:
Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrg.) Sinti und Roma als Bürgerinnen und Bürger in Deutschland - Anmerkungen zum Antiziganismus, Köln 2013
http://www.grundrechtekomitee.de/sites/default/files/Sinti%20und%20Roma.pdf

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Quelle:
Presseerklärung vom 2. Dezember 2013
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Aquinostr. 7 -11, 50670 Köln
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E-Mail: info@grundrechtekomitee.de
Internet: www.grundrechtekomitee.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2013