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STANDPUNKT/491: Der Weiße Westen - Eine kulturelle Finanzdiktatur (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Der Weiße Westen: Eine kulturelle Finanzdiktatur

von David Andersson, 23. März 2022



Eine Faust umklammert ein Bündel Geldscheine - Foto: Liz West (CC BY 2.0.) [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/], via flickr

Foto: Liz West (CC BY 2.0.), via flickr
[https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]

In letzter Zeit scheinen wir jeden Tag eine Warnung zu hören, die in etwa so lautet: "Wladimir Putins Einmarsch in der Ukraine hat deutlich gemacht, dass autoritäre Kräfte auf dem Vormarsch sind und die Demokratie weltweit unter Beschuss steht. Wenn wir Jane oder John Doe auf der Straße nach Diktatoren fragen, würden sie wahrscheinlich Putin erwähnen, oder vielleicht Xi Jinping, Maduro, Castro oder sogar Morales. Sie würden auch schnell darauf hinweisen, dass wir hier im Westen in einem freien und demokratischen Land leben und tun können, was wir wollen.

Wenn wir uns jedoch genauer ansehen, was mit dem Westen in den letzten 50 Jahren geschehen ist, könnten wir anfangen, uns über unsere Freiheit Gedanken zu machen. Wir sind an eine einzigartige Wirtschaftsstruktur gebunden, die uns ihrerseits ein einzigartiges Gesellschaftskonzept aufzwingt. Ohne Geld lässt sich in dieser Gesellschaft nur wenig tun. Schließlich wird uns suggeriert, was könnte der Sinn des Lebens sein, wenn nicht Geld zu verdienen, Geld auszugeben und darüber nachzudenken, wie man noch mehr Geld verdienen kann?

Es könnte hilfreich sein, diese Frage umzudrehen: Was würdest du sonst mit deinem Leben anfangen, könnten wir fragen, wenn du kein Geld verdienen müsstest? Worüber würdest du nachdenken? Worüber würdest du mit deinen Freunden sprechen, wenn nicht über Einkäufe, Preise und alles, was mit Konsum zu tun hat? Wenn wir jemanden kennen lernen, fragen wir als Erstes: "Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt?", als ob dies unser wichtigstes und bestimmendes Merkmal wäre.

Diese Wirtschaftsstruktur der westlichen Gesellschaften könnte und sollte als Diktatur bezeichnet werden. Die Entmenschlichung und Zersplitterung unserer Kultur, die heute so offensichtlich ist, wurde in vielerlei Hinsicht durch diese wachsende Finanzdiktatur verursacht.

Diese Diktatur lässt sich am besten veranschaulichen, indem man verschiedene Aspekte des Phänomens betrachtet. Jeder Punkt für sich genommen ist vielleicht kein großes Problem, aber wenn wir erkennen, wie sie alle zusammenhängen, beginnen wir zu verstehen, wie sehr Geld unser Leben diktiert.

Beginnen wir mit etwas so Einfachem wie Wasser. Wasser in Flaschen lässt sich leicht in der Sporttasche verstauen und ist ein Muss für die häusliche Katastrophenschutzausrüstung. Der kometenhafte Aufstieg von Wasser in Flaschen seit den 1970er Jahren hat sich jedoch negativ auf die Umwelt ausgewirkt, und der Kampf zwischen den einzelnen Abfüllern treibt die Kosten für die wichtigste und wertvollste Ressource unseres Planeten in die Höhe. Das Hauptproblem bei abgefülltem Wasser ist die Umwandlung von Wasser von einem Allgemeingut zu einem Produkt, das man in Geschäften kaufen muss (da, wie uns die Konzerne erklärt haben, öffentliches Wasser nicht sicher für die Gesundheit ist). Im Jahr 2018 beliefen sich die Einnahmen aus abgefülltem Wasser in den Vereinigten Staaten auf 18 Milliarden Dollar.

Wie nimmt uns das System sonst noch gefangen? Indem es junge Erwachsene dazu bringt, Studienkredite aufzunehmen. Die Student:innen der heutigen Generation sind mit finanziellen Problemen konfrontiert, die früheren Generationen völlig fremd waren. Die Kosten für die postsekundäre Bildung wurden langsam von der Allgemeinheit (ein gemeinsamer Nutzen für alle) auf den Einzelnen verlagert. Seit den 1980er Jahren sind die Kosten für einen Hochschulabschluss an öffentlichen Schulen um schockierende 213 % und an privaten Schulen um 129 % gestiegen. Wie konnte es zu diesem Anstieg kommen, ohne dass es zu einem größeren öffentlichen Aufschrei kam? Das 1965 ins Leben gerufene Programm für garantierte Studiendarlehen vergibt jedes Jahr zinsgünstige Darlehen an Tausende von Student:innen. Jeder:m Student:in wird gesagt, dass er sich keine Sorgen über die Kosten des Studiums machen muss, die nun aufgeschoben werden können. Infolgedessen sind heute mehr als 43 Millionen Amerikaner:innen von der Krise der Studentendarlehen betroffen, die 1,75 Billionen Dollar an staatlichen und privaten Studentendarlehen schulden, das sind durchschnittlich 29.800 Dollar pro Absolvent. Diese jungen Erwachsenen sind an ihre Schulden gefesselt, was sich auf ihre Kreditwürdigkeit auswirkt, ihre Fähigkeit beeinträchtigt, Geld für ein Auto oder ein Haus zu leihen, und sie unter Druck setzt, nach dem Studium eine gut bezahlte Arbeit zu finden (unabhängig davon, ob es die Art von Arbeit ist, die sie mögen oder nicht). Viele von ihnen brauchen Jahrzehnte, um dieses Geld zurückzuzahlen, und bis dahin sind sie mit anderen Krediten beschäftigt, die sie zu Sklaven ihrer Bankherren machen.

Unterhaltung: In den 60er Jahren gab es eine Revolution in der Musik, angeführt von einer neuen Generation von Jugendlichen, die "die Welt verändern" wollten. Natürlich sahen geldgierige Menschen eine Gelegenheit, daraus Kapital zu schlagen, indem sie eine ganz neue Industrie schufen. Nach den neuesten Zahlen von MRC Data machen Songs aus den 60er und 70er Jahren heute 70 % des US-Musikmarktes aus [1]. Bob Dylan verkaufte vor kurzem seinen gesamten Bestand an Sony in einem bahnbrechenden 9-stelligen Deal, während der Markt für neue Musik schrumpft. Dies fiel zusammen mit der Ausbreitung des geistigen Eigentums (intellectual property - IP) in der Unterhaltungsindustrie. Der Begriff wurde erstmals im 19. Jahrhundert verwendet, doch erst im späten 20. Jahrhundert wurde geistiges Eigentum in den meisten Rechtssystemen der Welt zum Standard. Dylan hatte kein Problem damit, seinen Lebensunterhalt durch die Einnahmen aus seinen Konzerten, Albumverkäufen und privaten Engagements zu bestreiten, aber die Geschäftsleute wollten mehr, und so fügten sie mit dem geistigen Eigentum eine weitere Ebene hinzu. Jetzt bekommt er zusätzlich zu seinem "normalen" Einkommen auch noch Geld für die Nutzung seiner bereits bezahlten Songs. Das ist wirklich magisch.

Jetzt haben wir, die kreativen Konsument:innen von Filmen, Musik und Dokumentarfilmen, monatliche Abonnements für Streaming-Dienste wie Netflix, Hulu, Apple und HBO, die im Jahr 2021 ein Marktvolumen von 419,03 Milliarden Dollar erreichen und bis 2028 auf 932,29 Milliarden Dollar anwachsen werden [2]. Wir kaufen und besitzen keine Kunstproduktionen, sondern zahlen stattdessen eine monatliche Lizenzgebühr an Unternehmen (von der nur sehr wenig an den Künstler zurückfließt).

Plastik: Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch an das Leben vor Kreditkarten. Alles, was man kaufen wollte, musste in bar bezahlt werden, bis die Banken dieses "magische" Stück Plastik erfanden. Die erste universelle Kreditkarte wurde 1950 vom Diners' Club eingeführt, und eine weitere, die so genannte Reise- und Unterhaltungskarte, wurde 1958 von der American Express Company eingeführt. Das hat alles verändert und die Machtkonzentration der Banken gefestigt. Man ist nicht mehr auf die Barmittel beschränkt, die man zur Verfügung hat, sondern hat Zugang zu einer Kreditlinie. Jetzt brauchen wir kein Bargeld mehr, sondern haben stattdessen eine neue tägliche Sorge: Wie werde ich meine Kreditkartenschulden abbezahlen? Insgesamt schulden die Amerikaner:innen 807 Milliarden Dollar auf fast 506 Millionen Kartenkonten, was dem Haushalt von New York für 8 Jahre entspricht.

Technologie: Im März 1876 wurde die Telefontechnik entwickelt. Später wurde ein Netz mit Festnetzanschlüssen aufgebaut, das von allen Hausbewohnern gemeinsam genutzt werden konnte, ebenso wie das Radio (1890er Jahre), der Kühlschrank (1899), das Fernsehen (1927) usw. 1973 entwickelte Motorola jedoch das erste drahtlose Telefon und wenige Jahre später begann die genuine "Personal"-Computer-Industrie und führte uns weg von der Auffassung, daß Technologie gemeinsam genutzt wird, hin zu der Sicht, sie sei so etwas wie eine persönliche Prothese. Mit der Entwicklung der WIFI-Technologie wurde der persönliche Festnetzanschluss überflüssig, aber anstatt dies als Chance zu sehen, allen Menschen einen Internetzugang zu ermöglichen, sahen die Unternehmen darin eine weitere Möglichkeit, Geld zu verdienen, und so müssen wir jetzt alle für unseren Zugang bezahlen.

Natürlich ist WIFI ein einfaches Beispiel, aber das Gesundheitssystem in den USA funktioniert auf die gleiche Weise. Deine Krankenversicherung ist an deinen Arbeitsplatz gebunden, wenn du also nicht arbeitest, bist du nicht mehr krankenversichert. So einfach und doch so absurd ist das.

Natürlich kann jeder mit seinem Leben machen, was er will - nachdem er seine Rechnungen bezahlt hat (Miete/Hypothek, Steuern, Transport, Lebensmittel, Internet, Bildung, Handy, Auto, Studienkredite, Kleidung, Kreditkarten, Kinderbetreuung, Gesundheitstherapie) und dafür einen, vielleicht zwei, manchmal auch drei Jobs hat. In Wirklichkeit tun nur sehr wenige Menschen, die ich kenne, das, was sie in ihrem Leben wollen. Die Menschen tun im Allgemeinen das, was sie tun müssen, um sich über Wasser zu halten.

Wie in jeder Diktatur sind eine Minderheit die Täter:innen und eine Mehrheit die Unterdrückten. Laut einem Bericht von Americans for Tax Fairness (ATF) und dem Institute for Policy Studies Program on Inequality (IPS) wuchs das Vermögen der US-Milliardär:innen während der Pandemie um 1,8 Billionen Dollar, ihr kollektives Vermögen schnellte in dieser Zeit um 62 Prozent in die Höhe. Eine Umfrage unter 2.633 US-Verbrauchern, die in Zusammenarbeit mit PYMNTS.com durchgeführt und letzte Woche veröffentlicht wurde, ergab, dass 64 % der Amerikaner:innen im Januar 2022 von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben, gegenüber 52 % im April 2021.

Natürlich gibt es wie immer viele Dinge, die wir tun könnten, um diese absurde Situation zu ändern. Auf persönlicher Ebene müssten wir sie zunächst als eine Diktatur anerkennen, der wir unterworfen sind. Der zweite Schritt bestünde darin, im Alltag ein wenig Zeit und freie Energie für nichtkommerzielle Aktivitäten zu verwenden (soziale Kontakte, Lesen, Freiwilligenarbeit, künstlerische Entdeckungen usw.). Fange mit 30 Minuten pro Tag an und versuche dann, diese Zahl mit der Zeit zu erhöhen. Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung, der Beginn eines befreienden Prozesses, der die Tür zu neuen Horizonten und neuen Möglichkeiten öffnen kann.

Auf sozialer Ebene gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen, die umgesetzt werden könnten, um unser Leben von dieser Diktatur zu befreien, wie z. B. eine allgemeine Krankenversicherung, die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, der Übergang von einer repräsentativen Demokratie zu einer direkten Demokratie, der kostenlose Zugang zu Hochschulen, die Entwicklung eines fairen Mindestlohns und die Einführung eines Höchstlohns usw. In einer politischen Diktatur versucht die Zentralmacht, die Menschen zu isolieren und sie dazu zu bringen, vor allem um ihre persönliche Sicherheit und die ihrer Familie zu fürchten. In einer Wirtschaftsdiktatur versuchen Konzerne und Banken, die Menschen davon abzuhalten, sich um ihre eigene Situation zu sorgen, um ihre eigene Fähigkeit, über die Runden zu kommen und für ihre Familien zu sorgen. Jeder Versuch, an das Ganze zu denken, wird mit dem Schrei "Sozialismus!" verscheucht.

Wie jene tapferen Männer und Frauen auf der ganzen Welt, die gemeinsam gegen Tyrannei und politische Diktaturen kämpfen und ein höheres Ideal anstreben, liegt es an uns, die Zukunft zu gestalten, vorausgesetzt, wir können uns zunächst von unserer Fesselung an das Geld befreien.


David Andersson ist Bürgerjournalist, Fotograf und Herausgeber. In den 80er Jahren begann er mit der Humanistischen Bewegung, indem er in Paris eine Nachbarschaftszeitung herausgab. Heute ist David der Koordinator des New Yorker Büros von Pressenza und moderiert die virtuelle Talk Show Face 2 Face. Sie ist auf Youtube und Facebook zu sehen.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt.


Anmerkungen:
[1] https://tedgioia.substack.com/p/is-old-music-killing-new-music?s=r
[2] https://www.globenewswire.com/news-release/2021/12/15/2352238/0/en/Video-Streaming-Market-Share-to-Touch-USD-932-29-Billion-by-2028-Video-Streaming-Market-Size-2021-to-2028.html


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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