Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT


BERICHT/058: Klimacamp trifft Degrowth - Kein Gewinn ohne Verlust ... (SB)


Ökosozialismus - Verschränkung von Marxismus und Ökologie

Klimacamp und Degrowth-Sommerschule im Rheinischen Braunkohlerevier 2015


Die Herrschaft des Menschen über seinesgleichen und über die von ihm als Natur ausgewiesene zweite Sphäre der Verfügung wird gemeinhin mit Fortschritt und Höherentwicklung gleichgesetzt. Daß sich diese Spezies, die den räuberischen Umgang mit der eigenen Art wie auch mit allen übrigen Wesen und Stoffen auf diesem Planeten auf die Spitze getrieben hat, als Krone der Schöpfung begreift, verwundert nicht. So postuliert das allseits hoch gehandelte Ideal erfolgreicher Zivilisation Wegmarken menschheitsgeschichtlichen Zugewinns, die als unanfechtbare Errungenschaften ausgewiesen werden. Wie tief diese zum innigsten Selbstverständnis verdichtete Ideologie eigener Dominanz greift, mag die gängige Auffassung verdeutlichen, wonach der Stoffwechsel mit der Natur, die Entfaltung der Technologie und die daraus resultierende Veränderung der Lebensverhältnisse prinzipiell gutgeheißen werden, auch wenn man über die jeweilige Ausgestaltung streiten mag und heute konstatieren muß, daß dieses Fortschreiten an seine Grenzen stößt. Nicht umsonst konkurrierten Kapitalismus und Realsozialismus jahrzehntelang um den wirkmächtigeren Produktivismus [1], der mit dem Beweis für die Überlegenheit der eigenen Gesellschaftsordnung gleichgesetzt wurde.

Wer an Verhältnissen gleich welcher Art nichts auszusetzen hat, solange sie nur dem eigenen Vorteil dienen, wird sich getrost im Fortschrittsglauben einfügen und lediglich Sorge tragen, nicht vor allen andern von einer Veränderung existentieller Bedingungen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Wer Herrschaft hingegen vom Grunde her zurückweist und Fremdbestimmung bis in ihre ungeahnten Herkünfte aufspürt, um gegen sie Front zu machen, könnte auf den Gedanken kommen, das nicht mehr zu leugnende ökologische und humanitäre Desaster auf fundamentalere Irrtümer und Fehlentwicklungen zurückzuführen, als ein zeitweiliges Abbiegen vom geraden Weg lobenswerten menschlichen Schaffens und Strebens. Es drängte sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage auf, ob sich eine durchweg fremdbestimmte menschheitsgeschichtliche Entwicklung nicht zuerst und vor allem an ihrer Verfügungsmacht und Zerstörungsgewalt bemißt, die jegliche agrarische, handwerkliche und um so mehr industrielle Effizienzsteigerung in den Rang eines bloßen Folgeprodukts der expandierenden Vernichtung von Lebensmöglichkeiten und Ressourcen verweist.

Die größtmögliche Vorteilsnahme zu Lasten anderer mit der Spitze des Fortschritts gleichzusetzen, blendet die Opfer im umfassendsten Sinn systematisch aus. Daß Verfügungsgewalt und Reichtum weniger nur auf Grundlage zunehmender Unterdrückung und Ausbeutung vieler durchgesetzt, gesichert und innovativ fortgeschrieben werden können, spiegelt das fundamentale Prinzip wider, den Mangel in den Stand der alles bestimmenden Maxime zu erheben. Wenn daher vom Wert der Natur oder der menschlichen Arbeitskraft als Quelle der Wertschöpfung die Rede ist, setzt diese Bemessung einen zuvor erzwungenen Unwert voraus. Dem Menschen alles zu nehmen, um ihm einen Bruchteil des zuvor Geraubten wiederzugewähren, oder Ressourcen exzessiv auszubeuten, um unter enormem Überaufwand bestimmte Produkte herzustellen, zeugt vom selben Prinzip: Mit den Zwangsmitteln zu seiner Aufrechterhaltung versehener Besitz strebt nie das Wohl aller an, sondern forciert im Gegenteil Not und Verknappung, woraus sich seine Vorherrschaft speist.


Kapitalverwertung erzwingt Wachstum

Wenngleich diese Entwicklungsdynamik der Herrschaft sehr viel älter als der heute weltweit dominierende Kapitalismus ist, treibt dieser doch die Verfügung und Ausbeutung auf beispiellose Weise voran. Insofern ist es zulässig und notwendig, auf einer antikapitalistischen Stoßrichtung ökologischer Bewegungen zu beharren, soll die dramatisch schrumpfende, aber dennoch nicht auszuschließende Möglichkeit, den Klimawandel und die Ausplünderung des Planeten zu bremsen, gewahrt werden. Kommt man zu dem Schluß, daß eine Reduzierung des Wachstums insbesondere in den Industriestaaten des globalen Nordens für das Erreichen der ohnehin umstrittenen Klimaziele unabdingbar ist, so stößt man auf immanente Mechanismen und Verläufe des herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, die dem entgegenstehen.

Grundlegend für eine kapitalistische Gesellschaft ist der Zwang zur Verwertung des Kapitals. In der warenbasierten Produktionsweise werden Waren in Geld verwandelt, das wiederum in Waren verwandelt wird und sich auf diese Weise vermehren soll. Das Geld wird also immer wieder in die Produktion investiert, auf daß diese weitere Waren hervorbringt, die einzig wegen des angestrebten Tauschwertes, also um ihrer selbst willen hergestellt werden. Wie dieser auf das Grundprinzip heruntergebrochene Verlauf zeigt, ist unablässiges Wachstum dieser Produktionsweise inhärent.

Der in diesem Prozeß erzeugte Mehrwert wird zum Teil konsumiert: Heute konsumieren fünf Prozent der Menschheit rund 60 Prozent der produzierten Waren. Ein anderer Teil wird in den Produktionsprozeß reinvestiert, woraus eine immer größere Anhäufung von fixem Kapital, also Fabriken, Gebäuden und Anlagen resultiert. Dieses Grundprinzip der kapitalistischen Produktionsweise stößt inzwischen an seine Grenzen: Einerseits sinkt die Profitrate langfristig, weil der Anteil menschlicher Arbeitskraft und damit der Quelle der Mehrwertschöpfung im Zuge fortgesetzter Mechanisierung verringert wird. Andererseits fällt es angesichts der Sättigung der Märkte immer schwerer, profitable Anlagemöglichkeiten zu finden. Da die Gesamtmenge des vorhandenen Geldkapitals das Bruttoinlandsprodukt aller Volkswirtschaften weltweit um ein Vielfaches übertrifft, also längst kein adäquater Gegenwert in Gestalt realer Güter mehr existiert, verschärft dies den Verwertungsdruck. Um den Zusammenbruch des Gesamtsystems und damit eine finale Krise hinauszuschieben, bedarf es eines ungebändigten Finanzsektors, der Anlage in Landflächen und Nahrungsmittel wie auch Infrastruktur und Immobilien, nicht zuletzt des Handels mit Schuldtiteln, geistigem Eigentum oder eben auch Verschmutzungsrechten.

Je näher der Kapitalismus an einen toten Punkt kommt, desto schneller dreht sich die Maschinerie der Verwertung. Dabei tritt in aller Deutlichkeit zutage, was für diese Produktionsweise insgesamt gilt: Auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten ist das Kapital blind für alle anderen Erwägungen. Dabei wird es vom Staat unterstützt, der dort einspringt, wo sogenannte Blasen platzen oder aberwitzige Großprojekte nicht profitabel betrieben werden können, indem er die Verluste auf den Steuerzahler umwälzt. Wie schon bei Marx nachzulesen ist, sagt dieser in der Entwicklung der Produktivkräfte eine Stufe voraus, auf der Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, die unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, die also keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte.


Auf einer Bank im Zelt sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Klaus Engert (l.), Manuel Kellner (r.) moderiert
Foto: © 2014 by Schattenblick


Systemimmanente Lösungsansätze greifen zu kurz

Gelangt man zu der Auffassung, daß eine Rücknahme des Wachstums unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise nicht möglich ist, bedarf es dezidierter Überlegungen, welche Aufgaben eine antikapitalistisch-ökologische Bewegung zu bewältigen hat. Unter dem Stichwort "Ökosozialismus" gibt es seit mehreren Jahren Bestrebungen, Marxismus und Ökologie nicht nur lose zusammenzuführen, sondern organisch zu verschränken, um die drängenden Probleme in Angriff zu nehmen. Auf dem Klimacamp leitete Dr. Klaus Engert einen Workshop zum Thema "Ökosozialismus - Ausweg aus der Umweltkatastrophe", in dem er ausführte, warum die inneren Gesetzmäßigkeiten der Kapitalverwertung einen effektiven Kampf gegen Umweltzerstörung und Klimawandel nicht zulassen. Dabei zeigten Artensterben, Zerstörung anbaufähigen Bodens, Nahrungsmittelkrisen, Wassermangel und -verschmutzung und deren Folgen wie Migration und Krieg unmißverständlich, daß ein rasches und radikales Umsteuern notwendig ist, um das Einsetzen einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale zu verhindern.

Um eine fruchtbare Diskussion zu führen, gelte es zunächst, verschiedene systemimmanente Lösungsansätze zu kritisieren. So seien Protagonisten der Marktwirtschaft auf den Handel mit Verschmutzungszertifikaten verfallen, die einen ökonomischen Anreiz zum Emissionsabbau erzeugen sollen. Würden die Preise nach den zu errechnenden langfristigen Folgeschäden ermittelt, wären die Zertifikate unbezahlbar. Viel wesentlicher sei allerdings, daß selbst die Erfinder zugestehen, daß dieses Instrument die notwendige Reduktion in dem zur Verfügung stehenden Zeitfenster nicht schaffen kann. Grundsätzlich werde dabei auch das Klima zur Ware, die auf dem Markt gehandelt wird. Dies stehe in einem unauflöslichen Widerspruch zu dem gesellschaftlichen und kollektiven Charakter des Problems, so der Referent.

Die grünen Modernisierer gingen mit der Idee des Green New Deal hausieren, bei dem es sich um den Versuch handle, Investitionen umzusteuern, also dem Markt gewisse Vorgaben zu machen. Der Rückgriff auf die Rooseveltsche Politik der 30er Jahre sei schon deshalb irreführend, weil deren Effekte Ende des Jahrzehnts bereits wieder verpufft waren und erst der Zweite Weltkrieg den USA einen längerfristigen Aufschwung beschert habe. Die favorisierte Umsteuerung mogle sich an dem Problem vorbei, daß es nicht ausreicht, alternative Energien auszubauen, aber ansonsten so weiterzumachen wie bisher. Das Problem bestehe nicht nur in der Verbrennung fossiler Ressourcen, sondern in der Übernutzung der natürlichen Ressourcen insgesamt.

Die sogenannten technologischen Lösungen wie das ursprünglich geplante Desertec-Projekt, die CO2-Verklappung, Wirbelschichtfeuerung oder Monsterwindparks verlagerten das Problem teils in die Zukunft wie im Falle des CO2. Ansonsten hätten diese Lösungsversuche gemein, daß sie vorwiegend auf zentralisierte, großtechnische Projekte setzten. Energiepolitik sei Machtpolitik, und so könne man Desertec als eine Fortsetzung des energetischen Kolonialismus mit anderen Mitteln ausweisen.

Engert ging auch auf die Degrowth-Debatte ein, die eine Ökonomie fordere, die sich von der Wachstumsorientierung abwendet und ihre Ziele an der Nachhaltigkeit ausrichtet. Das halte er für zutreffend, doch bedürfe es des deutlichen Hinweises, daß eine solche Ökonomie auf keinen Fall eine kapitalistische sein könne. Auch mache es einen gravierenden Unterschied, in welcher Gesellschaft man für Degrowth werbe. Die Frage nach Degrowth müsse auch jene nach einem gerechten internationalen Verteilungsschlüssel betreffend der vorhandenen Ressourcen sein. Wer wie die überwiegende Zahl der Menschen in ärmeren Ländern des globalen Südens kaum genug zum Überleben habe, könne dem Wachstum keine Absage erteilen. Zusammenfassend könne man sagen, daß systemimmanente Lösungen deshalb nicht funktionieren, weil die Zwänge der kapitalistischen Wirtschaft die notwendige Reduktion des Energieeinsatzes und ein nachhaltiges Handeln schlichtweg nicht zuließen.


Nigerias Fluch - Ölreichtum führt ins Desaster

Klaus Engert, der als Mediziner und Chirurg in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, Asiens und Afrikas gearbeitet hat und seit über zwei Jahren in Nigeria lebt, zeichnete ein verheerendes Bild der dortigen Lebensverhältnisse, die er im Kontext ihrer Genese darstellte. Nigeria sei eines der Länder mit den größten Erdöl- und Gasreserven weltweit, doch habe der Ölboom zu einem kompletten Desaster geführt. Rund 90 Prozent des Staatshaushalts resultierten aus Öleinnahmen, die gesamte Ökonomie basiere auf dem Öl. Daneben seien jedoch noch viele andere Formen der Umweltzerstörung ungeheuren Ausmaßes zu nennen: Die Abholzung der Regenwälder, von denen nur noch ein Bruchteil vorhanden ist; die Industrialisierung der Landwirtschaft durch Eindringen von Fremdkapital, wobei insbesondere China, aber auch andere Staaten in großem Umfang Land aufkauften und Plantagenwirtschaft betrieben; die Überfischung der Gewässer und die direkten Umweltfolgen der Öl- und Gasförderung.

Weite Teile des Nigerdeltas seien ökologisch tot, weil ständig Öl aus den lecken Pipelines austritt, die Shell zurückgelassen hat. Als die Bevölkerung sich wehrte, habe der Konzern die Förderung an Land eingestellt und sich komplett auf Offshore-Projekte verlegt. Die alten Förderstellen und Pipelines lägen offen, und da die ansässigen Menschen ihre Subsistenzgrundlage durch die Ölverschmutzung der Böden verloren hätten, verdienten sie ihr Geld häufig damit, von den alten Zapfstellen Öl zu entnehmen und vor Ort in primitiven Raffinerien aufzuarbeiten. Bei diesen handle es sich um nach oben offene Ölwannen, unter denen Feuer gemacht wird. Dann werde zuerst Kerosin, dann Benzin und am Ende der Diesel abgezapft. Welche Folgen das hat, könne man sich vorstellen.

Im Norden des Landes finde ausgehend von der Sahel-Zone und in Verbindung mit der Abholzung eine zunehmende Versteppung statt. Gleichzeitig nehme der Bevölkerungsdruck zu, wobei Boko Haram nur ein Teil des Problems und zugleich eine unmittelbare Folge dieser Zustände sei. Diese sich islamistisch nennende Organisation habe etwas mit der fehlenden sozialen Perspektive und hohen Arbeitslosigkeit, besonders unter Jugendlichen, aber auch dem Verlust der Anbaugrundlagen und Weideflächen der halbnomadischen Fulani zu tun. Viele Anschläge, die in den deutschen Medien Boko Haram zugeschrieben werden, fänden im Rahmen von Auseinandersetzungen zwischen den halbnomadischen Fulani und ansässigen Farmern statt. Boko Haram sei keine islamistische Gruppe im eigentlichen Sinn, sondern eine mit einem religiös-ideologischem Mäntelchen behängte Räuberbande, die zu 90 Prozent Moslems umbringe, die dort im Norden leben, so der Referent.

Während Nigeria zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1960 nahrungsmittelautark gewesen sei, müßten heute 60 Prozent der Lebensmittel importiert werden. Letzteres gelte in ähnlichem Ausmaß auch für andere afrikanische Länder, weil die Ausrichtung der Landwirtschaft auf Agroindustrie, das heißt auf Monokulturen, die für den Export bestimmt sind, zum Verlust der Subsistenzgrundlage für die bäuerliche Bevölkerung führe. Zudem hatte Nigeria 1960 rund 60 Millionen Einwohner, während es heute über 170 Millionen sind. Landflucht führe zu einem rasanten Anwachsen der Städte wie Lagos, wo inzwischen geschätzte 20 Millionen Menschen mit den entsprechenden sozialen Folgen lebten. Die überwältigende Mehrheit der Nigerianer lebe in Armut, der offizielle staatliche Mindestlohn liege bei umgerechnet knapp 90 Euro im Monat und das bei Preisen, die für bestimmte Güter nicht wesentlich niedriger als in Europa seien. Dieser Mindestlohn werde in der Regel noch unterlaufen.

Wie Engert weiter ausführte, verbleibe das Geld zu einem Teil in Händen internationaler Konzerne. Das Öl werde zum größten Teil exportiert, und da es nur vier Raffinerien im Land gebe, müßten etwa 80 Prozent der Treibstoffe zu Weltmarktpreisen reimportiert werden. Dieser einheimische Handel werde von der Regierung subventioniert, da die importierten Produkte andernfalls unbezahlbar wären. Eine sehr dünne reiche Oberschicht profitiere von dem Ölgeld, wozu noch Politiker kämen, die sich die Einkünfte unter den Nagel reißen. Er habe nie zuvor ein derart korruptes Land erlebt, so der Referent. Das kapitalistische Prinzip, alles und jedes zur Ware zu machen, sei in Nigeria weithin durchgesetzt, wo man buchstäblich alles kaufen könne: Von der Geburtsurkunde oder dem Führerschein bis zum Menschen und dessen Einzelteilen. Den Nigerianern sei natürlich klar, daß sehr viel Geld im Land ist, weswegen es als wenig verwerflich gilt, an dieses Geld heranzukommen. Daher seien Diebstahl, Überfall und Entführung als Erwerbstätigkeiten weit verbreitet.

Das Öl habe nicht nur zu einer ökologischen Verheerung, sondern auch auf der Ebene des Bewußtseins zu einem Klima von Korruption, erbitterter Konkurrenz und Zerstörung der sozialen Zusammenhänge geführt. Nigeria brauche nichts dringender als einen radikalen Wandel, der gegenwärtig jedoch nicht in Sicht sei. Die kleine Elite sei eine direkte Folge der britischen Kolonialherrschaft, die aus der traditionellen Führungsschicht Leute rekrutiert habe, die für sie die Verwaltung übernahmen. Die Offiziere wurden in britischen Militärakademien und später auch in den USA ausgebildet. Diese Eliten teilten nach der Unabhängigkeit den Reichtum untereinander auf. Seither wechselten sogenannte demokratisch gewählte Regierungen mit Militärdiktaturen, wobei der im März gewählte Präsident früher selbst Militärdiktator gewesen sei.


Den Teufelskreis unterbrechen

Die Zwangsläufigkeit kapitalistischer Entwicklung läßt sich auch am Beispiel des Transportwesens veranschaulichen. Klaus Engert charakterisierte die Entfaltung des Industriekapitalismus als eine Geschichte extremer Beschleunigung. Dieser Zwang zur Beschleunigung in allen Lebensbereichen sei erst mit der Herausbildung des Handelskapitals und des Privateigentums an Produktionsmitteln entstanden. Eine Möglichkeit, sinkende Profite zu kompensieren, bestehe in der Verkürzung der Zeit, in der der Kapitalist nicht über sein Geld verfügen kann: Das ist die Zeit zwischen der Erzeugung der Ware und deren Verkauf, in der diese als totes Kapital in irgendeinem Lagerhaus liegt. Folglich bestehe eine Tendenz zur Erhöhung der Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals, und dieser Zwang sei klimawirksam, da der Energieeinsatz bei wachsender Geschwindigkeit exponentiell steigt. Neben Stuttgart 21 existierten weltweit noch erheblich schlimmere Pläne für Verkehrsprojekte: Schnellstraßen quer durch Südamerika, eine Unter- oder Überquerung der Beringstraße wie auch ein Straßennetz in Südostasien, das von Indien über Bangladesch bis nach Malaysia ausgebaut werden soll.

Der Kapitalismus funktioniere nach dem Prinzip des berechenbaren kurz- und mittelfristigen Profits. Demgegenüber seien Klimaveränderungen langsame Prozesse, da sich die heute getroffenen Maßnahmen erst in 30 bis 50 Jahren auswirken werden. Bestimmte Wirtschaftssektoren investierten bereits in Projekte, welche Gewinn aus den zu erwartenden Klimaveränderungen schlagen sollen, statt Gelder in langfristige Projekte zur Vermeidung weiterer Schäden zu stecken. Geprüft würden beispielsweise Formen einer Versicherung gegen die Folgen des Klimawandels oder ein Umbau des Alpentourismus für Zeiten, in denen es keinen Schnee mehr in den Bergen gibt.

Notwendig sei also eine grundlegende Alternative, jedoch nicht zum Wachstum, bei dem es sich um eine abgeleitete Größe handle. Der Wachstumszwang resultiere unmittelbar aus der Struktur der herrschenden Gesellschaft. Erforderlich sei ein anderes Wirtschaftssystem, das nicht auf der Produktion von Waren, sondern von Gebrauchswerten beruhe, den privaten Profit ausschließe und damit den Teufelskreis der Kapitalverwertung unterbreche. "Das nenne ich Ökosozialismus", so der Referent.


Erfordernisse einer ökosozialistischen Gesellschaft

Wenngleich nur Science-Fiction-Autoren das komplette Modell einer Zukunftsgesellschaft liefern könnten, sei es durchaus möglich, die wesentlichen Grundlagen zu skizzieren, auf denen eine ökosozialistische Gesellschaft beruhen müsse, und einige erste Schritte dahin zu benennen. Dazu gehörten unter anderem Entschleunigung, Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Gemeineigentum, Dezentralisierung und direkte demokratische Selbstverwaltung, so der Referent. Die einschlägige Diskussion in marxistischen Kreisen habe sich bislang hauptsächlich auf den Abbau privilegierter Bedürfnisbefriedigung bezogen, bei dem es um die Herbeiführung von Gleichheit gehe. Heute stelle sich die Frage jedoch auch im ökologischen Sinn. Grundsätzlich sei bei Produktion und Distribution von Gütern, bei der zur Verfügungstellung von Energie und bei der Interaktion mit der natürlichen Umwelt als erstes die Frage zu stellen, welche Auswirkungen die entsprechenden Aktivitäten auf die ökologischen Verhältnisse haben, während die Problematik nicht auf den Kostenaspekt reduziert werden dürfe.

Der Philosoph Hans Jonas habe bereits in den 60er Jahren einen ökologischen Imperativ formuliert: "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden." Der Marxist Wolfgang Harich, der wegen seiner für DDR-Verhältnisse ungewöhnlichen ökologischen Ansichten eine Zeitlang im Gefängnis saß, habe dies Anfang der 70er Jahre noch etwas präziser ausgedrückt: "Sobald in einer Gesellschaft ein Produktionsstand erreicht ist, der allen ein menschenwürdiges Leben zu garantieren erlaubt, muß dort der Übergang zur höheren Stufe unter anderem durch den Abbau solcher Konsumprivilegien angebahnt werden, die unter keinen Umständen für alle erreichbar sein können."

Die unverzichtbare Gleichheit sei ohne die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln nicht denkbar. So habe der englische Philosoph Thomas Morus schon 1516 in seiner Utopia geschrieben: "Indessen scheint mir, um es offen zu sagen, was ich denke, in der Tat so, daß es überall da, wo es Privateigentum gibt, wo alle alles nach dem Wert des Geldes messen, kaum jemals möglich sein wird, gerechte oder erfolgreiche Politik zu treiben. Es sei denn, man wäre der Ansicht, daß es dort gerecht zugehe, wo immer das Beste den Schlechtesten zufällt oder glücklich, wo alles an ganz wenige verteilt wird und auch diese nicht in jeder Beziehung gut gestellt sind, die übrigen jedoch ganz übel."

Zum zweiten sei eine Kollektivität erforderlich, die der Kapitalismus im Zuge der Individualisierung und Atomisierung sozialer Zusammenhänge fortschreitend zerstört habe. Hinzu komme eine Demokratisierung der Produktion und Distribution, mit der man heute schon anfangen müsse, indem eine Diskussion über Bedürfnisse im Sinne des ökologischen Imperativs geführt werde: Welche Grundbedürfnisse müssen für alle befriedigt werden? Diese Klärungsprozesse brauchten viel Zeit, die man haben könne, wenn man sich dem bewußtlosen Zwang zur Beschleunigung widersetze und gleichzeitig die notwendige Arbeitszeit umverteile. Es sei ein weit verbreiteter Mythos, daß die Menschen vor dem Industriekapitalismus länger gearbeitet hätten. Ganz im Gegenteil habe eines der größten Probleme der Frühkapitalisten darin bestanden, die Menschen dazu zu bringen, mehr zu arbeiten als sie brauchten, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Und nicht zuletzt sei für die demokratische Selbstverwaltung auch Bildung wichtig. Klaus Engert schloß seinen Ausblick auf die Grundzüge dieser künftigen Gesellschaft mit Karl Marx: "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört. Es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion." [2]


Fußnoten:

[1] Siehe dazu:
REZENSION/644: Daniel Tanuro - Klimakrise und Kapitalismus (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar644.html

[2] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin 1988. S. 828

Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 im Schattenblick unter dem Sammeltitel "Aufbruchtage"
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_report_bericht.shtml
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_report_interview.shtml


Klimacamp und Degrowth-Sommerschule 2015 im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:

BERICHT/054: Klimacamp trifft Degrowth - Keine Umweltkehr ohne Aufbegehr ... (SB)
BERICHT/055: Klimacamp trifft Degrowth - Kein Feld bleibt aus ... (SB)
BERICHT/056: Klimacamp trifft Degrowth - und nicht allein ... (SB)
BERICHT/057: Klimacamp trifft Degrowth - Das bessere Leben ist der Befreiungsprozeß ... (SB)
INTERVIEW/077: Klimacamp trifft Degrowth - Analyse, Selbstverständnis, Konsequenzen ...    John Jordan im Gespräch (SB)
INTERVIEW/078: Klimacamp trifft Degrowth - Der Feind meines Feindes ...    Antje Grothus im Gespräch (SB)
INTERVIEW/079: Klimacamp trifft Degrowth - Wehret den Anfängen ...     Regine Richter im Gespräch (SB)
INTERVIEW/080: Klimacamp trifft Degrowth - Geld kann nicht gegessen werden ...   Lyda Fernanda Forero im Gespräch (SB)
INTERVIEW/081: Klimacamp trifft Degrowth - Versorgungskooperatives Selbstverständnis ...   Aktivistin Corinna im Gespräch (SB)

6. September 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang