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BERICHT/101: Klimagegengipfel - Kernenergie schon gar nicht ... (SB)



100 Milliarden Dollar - diese gewaltige Summe wollen die Industriestaaten jährlich aufbringen, um die wirtschaftlich schwächeren Länder bei Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel und der Transformation hin zu klimafreundlicheren Technologien zu unterstützen. Los geht's ab 2020, und von da an die nächsten zehn Jahre. Insgesamt sind eine Billion Dollar zu verteilen. Diese Finanzierungssumme wurde 2010 bei der Weltklimakonferenz in Cancun (COP 16) vereinbart. Auch wenn begründete Zweifel daran bestehen, daß jemals so viel Geld aufgebracht werden wird, weckt das bloße Investitionsversprechen in die grüne Ökonomie allerlei Begehrlichkeiten. Beispielsweise auf seiten der Atomindustrie. Sie will ein Stück vom Kuchen ergattern und hat vor rund einem Jahr angefangen, konkreten Einfluß auf den UN-Klimaverhandlungsprozeß zu nehmen.

Schon seit längerem rühmt sich die Atomlobby, daß die Energie aus der Spaltung des Atomkerns nahezu klimaneutral sei, da aus den Kühltürmen der Akws nur Wasserdampf entweicht, nicht jedoch Kohlenstoffdioxid (CO2), das hauptverantwortliche menschengemachte Treibhausgas. Bei der COP 22 in Marokko schließlich hat Rußland offen mit Atomkraftwerken als vermeintlich CO2-emissionsarme Alternative zu fossilen Energiekraftwerken geworben. Man gehe davon aus, daß sich bei der COP 23 in Bonn weitere Staaten diesem Vorstoß anschließen, prognostizierte am 3. November 2017 das zivilgesellschaftliche Bündnis Don't Nuke the Climate! (frei übersetzt: Keine Atombomben aufs Klima!) bei einer Pressekonferenz zum Auftakt des People's Climate Summit (PCS) in Bonn. Die Vorhersage sollte sich bewahrheiten.


Nebeneinander auf dem Podium sitzend - Foto: © 2017 by Schattenblick

Pressekonferenz mit (von links) Günter Hermeyer (BI Lüchow-Dannenberg), Vladimir Slivyak (Ecodefense, Moskau), Angelika Claussen (IPPNW), Kerstin Rudek (BI Lüchow-Dannenberg), Janna Aljets (Ende Gelände) und Sebastian Sladek (Genossenschaft Elektrizitätswerke Schönau).
Foto: © 2017 by Schattenblick

Auf der COP 23, die vom 6. bis zum 11. November in Bonn stattfand, warben auch die USA offiziell für die Atomtechnologie. Wenngleich Medienberichten zufolge die Trump-Administration wenig Gehör bei den Delegierten fand, weiß man nicht, was hinter den Kulissen ausgehandelt wurde. Ursprünglich stammt der Spruch "Don't Nuke the Climate" von Bewegungen aus den Ländern, in denen Uran abgebaut wird, berichtete die Moderatorin der Pressekonferenz, Kerstin Rudek von der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg e.V. und Mitbetreiberin der Website www.dont-nuke-the-climate.org/de/. Vor zwei Jahren habe man sich bei der COP 21 in Paris erstmals getroffen und beraten, wie man dafür sorgen könnte, daß die Atomindustrie mit ihren Versuchen scheitert, "an Fördergelder zu kommen, die vom Klimagipfel bereitgestellt worden sind, um dem Klimawandel Einhalt zu gebieten".

Abgesehen von Rudek gaben auf der Pressekonferenz noch Vladimir Slivyak, Vorsitzender der Umweltschutzorganisation Ecodefense in Moskau, Angelika Claussen, Mitglied des Europavorstands des IPPNW, Janna Aljets, eine der Sprecherinnen des Anti-Kohlebündnisses Ende Gelände, und Sebastian Sladek, Vorstandsmitglied der Genossenschaft EWS (Elektrizitätswerke Schönau), Stellungnahmen ab.

Slivyak kennt das Innenleben jener Conferences of the Parties (COPs) von Beginn an. Schon 1995 nahm er an der ersten Weltklimakonferenz teil. Die fand in Berlin statt, und auf ihr punktete die damalige Umweltministerin der Kohl-Administration, Angela Merkel, mit der Zusage, Deutschland wolle seine Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Wie inzwischen feststeht, wird dieses Ziel weit verfehlt. Nicht zuletzt deswegen, weil rund 40 Prozent des elektrischen Energiebedarfs der Bundesrepublik mit der Verstromung von Kohle gedeckt werden; davon entfällt der größere Teil auf die besonders emissionsreiche Braunkohle.

Lange Zeit war bei den Klimaverhandlungen nichts zur Atomkraft gesagt worden, berichtete Slivyak. Dadurch sei der Eindruck entstanden, daß in der Staatengemeinschaft der Konsens gelte, Atomkraft nicht zu unterstützen. Doch plötzlich, bei der COP 21 in Marokko, begann Rußland die Atomenergie als Lösung des Klimaproblems zu propagieren. Moskau übe "starken Druck auf Entwicklungsländer" aus, damit sie russische Atomtechnologie erwerben. "Rußland hat eine Reihe von Verträgen mit zahlreichen Ländern abgeschlossen, aber nicht das Geld, um die Reaktoren zu bauen. Deshalb sucht es nach anderen Geldquellen." Um Zugriff auf Gelder aus dem Green Climate Fund zu erhalten, wolle Rußland Entwicklungsländer als Brückenkopf instrumentalisieren, weil deren Zugang zu dem Fonds wahrscheinlich einfacher sei. Rußland selbst könne sich die Vorfinanzierung für den Akw-Bau in den Entwicklungsländern nicht leisten. "Das müssen wir unpopulär machen", forderte der russische Umweltschützer mit Blick auf das Begehren, den Green Climate Fund anzuzapfen. Wenn nicht die Atom- und die Kohleenergie zugleich abgeschafft werden, "können wir den Klimawandel nicht verhindern".

Der Leiter der russischen Umweltschutzorganisation Ecodefense traf mit seiner Voraussage ins Schwarze, daß in Bonn weitere Länder die Atomenergie pushen und "wahrscheinlich die USA dazugehören werden". Wie man inzwischen weiß, warb nicht nur die Trump-Administration, sondern auch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA und atomenergiefreundliche Länder wie Frankreich, UK und Ungarn für diese hochriskante, teure und alles andere als CO2-arme Energieform.

"Wieso Kernkraftwerke? Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose!" - mit diesem in verschiedenen Varianten verbreiteten Spruch aus den 80er Jahren sollte die Naivität von Konsumentinnen und Konsumenten hinsichtlich der Herkunft ihres Stroms zum Ausdruck gebracht werden. Wer hätte gedacht, daß die Atomindustrie tatsächlich glaubt, die Delegierten des UN-Verhandlungsprozesses seien so naiv und würden ihr das Märchen von der klimafreundlichen Atomenergie abkaufen! Denn bei einer seriösen Bewertung der CO2-Bilanz von Atomkraftwerken muß eine Lebenszyklusanalyse durchgeführt werden, bei der alles berücksichtigt wird, was für die Produktion von Atomstrom unabdingbar ist, vom Abbau des Natururans und Zermahlen des Gesteins über das Anreichern des Urans und den Betrieb von Akws bis hin zu deren Rückbau sowie der Endlagerung der radioaktiven Brennelemente.

Jan Willem Storm von Leeuwen hat genauer hingeschaut. Seine 71seitige Studie "Climate Change and nuclear power. An Analyses of Nuclear Greenhouse Gas Emissions" [1] räumt entschieden mit der Behauptung auf, Atomenergie sei unverzichtbar, wolle man die globale Erwärmung noch aufhalten. Im Jahr 2014 hatte Atomkraft weltweit einen Anteil von 1,6 Prozent an der Nutzenergie. Wären Atomkraftwerke tatsächlich CO2-emissionsfrei (was sie nicht sind), schreibt der Forscher, dann könnten sie lediglich 4,7 Prozent an CO2-Emissionen gegenüber fossilen Energiekraftwerken einsparen. Da mit Akws jedoch ebenfalls CO2-Emissionen produziert werden, wäre ihr Beitrag zum Klimaschutz gering und vor allem ungenügend angesichts der Erfordernis, so schnell wie möglich entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um die globale Erwärmung auszubremsen.

Auf der Pressekonferenz stellte Angelika Claussen von der Organisation IPPNW einen offenen Brief von 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor, die sich an den diesjährigen COP-Vorsitzenden, Fidschis Premierminister Frank Bainimarama, wandten und erklärten, daß die Kernenergie keine Lösung des Klimaproblem ist. [2]

Akws haben in etwa das Emissionsniveau von Gaskraftwerken. Abgesehen von dem Verweis auf die hohen CO2-Emissionen wird in dem Brief auch auf die versteckten Kosten der Kernenergie (zum Beispiel medizinische Behandlungskosten der Bevölkerung in Uranabbaugebieten) und die Unzuverlässigkeit der Meiler verwiesen. Besonders am Herzen lag der Ärztin Claussen der Verweis in dem offenen Brief auf die gesundheitlichen Schadensfolgen der Atomenergie. Davon betroffen sind die Menschen in den Uranabbaugebieten, die Belegschaften der Akws und schließlich die Menschen, in deren Nähe atomare Endlager eingerichtet werden.

Janna Aljets sah deutliche Gemeinsamkeiten von Energie aus Braunkohle, wie sie unweit von Bonn im Tagebau Hambach gefördert wird, und der Spaltung des Atoms: Bereits beim Abbau beider Energieträger komme es zu Vertreibungen und Grundwasserabsenkungen sowie Feinstaubbelastungen der Anwohner. Die Folgekosten seien bei beiden Energieformen ungeklärt. Es sei perfide, daß der Ausstieg aus der Atomenergie nun als Begründung herangezogen wird, um den Betrieb von Braunkohle zu rechtfertigen, nachdem ursprünglich der Bau von Atomkraftwerken damit begründet worden war, die Kohle ersetzen zu müssen.

Einen weiteren Aspekt brachte Sebastian Sladek ein. Er schlug eine Brücke zu ICAN, einem Bündnis aus rund 450 Friedensgruppen und Organisationen, das in diesem Jahr den Friedensnobelpreis erhielt: "Es ist völlig klar, daß es eine zivile Nutzung der Atomenergie ohne eine militärische nicht geben kann und niemals geben wird", sagte er und verwies auf "bessere Alternativen", nämlich erneuerbare Energien. Die Energiewende werde von der Bevölkerung gedeckt, aber leider von der Bundesregierung ausgebremst.

Die Kosten für neue Akws gehen in die Milliarden, der Bau neuer Anlagen wird zehn bis 15 Jahren betragen - von vornherein viel zu spät für den notwendigen Umbau einer Gesellschaft, die den Klimawandel einigermaßen abwenden will. Die Transformation muß jetzt und in den nächsten Jahren geschehen, nicht erst 2030 oder 2040.

Nach der schweren Nuklearkatastrophe am 11. März 2011 in dem japanischen Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi, in dem es zu einer dreifachen Kernschmelze kam, war in der westlichen Welt die Ausrede endgültig vom Tisch, daß solch gravierende Havarien nur in technologisch (vermeintlich) nicht so hochwertigen Akws wie Tschernobyl eintreten können. Der Ruf der Atomindustrie war ziemlich angeschlagen. Anschließend hat nicht nur Deutschland umgesteuert.

Sollten jemals Finanzmittel aus dem Green Climate Fund in die Atomtechnologie fließen, werden sie an anderen Stellen fehlen, auch wenn diese viel dringender der Unterstützung bedürfen, um Menschen vor den Klimawandelfolgen zu schützen. Darüber hinaus besteht das Risiko, daß die Atomwirtschaft im Namen des Klimaschutzes Akw-Investitionsruinen produziert, falls die Anlagen nicht zu Ende gebaut werden.

Wenn das Bündnis "Don't Nuke the Climate!" den Anfängen wehrt und zur Wachsamkeit aufruft, steckt dahinter die langjährige Erfahrung von Aktivistinnen und Aktivisten aus der Antiatombewegung in Deutschland und international. Hierzu nur ein Beispiel: Inzwischen scheint sich der Schleier des Vergessens darüber gelegt zu haben, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nur für den Atomausstieg, sondern ebenso für den Atomeinstieg steht. Denn der Ausstieg war von der rot-grünen Vorgängerregierung längst beschlossen und von Merkel dann gekippt worden. Deshalb muß man davon ausgehen, daß, solange die Atomindustrie existiert und Atomkraftwerke laufen, der deutsche Atomausstieg so sicher ist wie die Renten ...

Das Bündnis "Don't Nuke the Climate!" hat sich keine leichte Aufgabe gestellt angesichts der enormen finanziellen Kapazitäten der Nuklearwirtschaft wie auch des vom Standpunkt der Regierung und der gesellschaftlichen Funktionseliten her ausgeprägten Interesses an einer zentralistischen Energieform wie der Atomkraft. Akws sollen ein hohes Maß an Verfügungsgewalt legitimieren, während umgekehrt regenerative Energieformen, die noch an die ursprünglichen Bestrebungen der Anti-Akw-Bewegung nach Emanzipation und Autarkie gemahnen, zurückgedrängt werden.

Die Atomwirtschaft erkennt offenbar in dem milliardenschweren Green Climate Fund einen Rettungsanker für ihre teure und zunehmend unbeliebte Technologie. Der Bogen läßt sich allerdings noch weiter schlagen. Im übergeordneten Sinn wird mit dem Green Climate Fund für die grüne Ökonomie geworben und die Hoffnung genährt, dem immanent krisenhaften, auf Wachstum geeichten Wirtschaftssystem ließe sich ein Aufschub bis zum nächsten Kollaps gewähren.

Die Bereitwilligkeit, mit der die Industriestaaten versprochen haben, den Green Climate Fund bis 2020 mit 100 Mrd. Dollar auszustatten und in den zehn Jahren darauf insgesamt eine Billion Dollar in die Entwicklungsländer zu stecken, dürfte zwei strategischen Motiven geschuldet sein. Zum einen der sattsam bekannten Bereitschaft, vollmundige Versprechen abzugeben, solange es nur der Stabilisierung der vorherrschenden Weltordnung einerseits und der Befriedung der Massen andererseits dient. Zum anderen aber auch der relativen zeitlichen Nähe zum Einbruch der Weltwirtschaft vier Jahre zuvor und der Gefährdung der eigenen Vorteile durch genau jene Kräfte des globalen Finanzmarkts, die man unter Kontrolle wähnte. An der grünen Ökonomie, zu der sich die Atomwirtschaft allzu gern zählen würde, soll die Weltwirtschaft genesen. Auch aus diesem Grund ist die Aufgabe, die sich "Don't Nuke the Climate!" stellt, größer, als es auf den ersten Blick scheint. Die Gegenkräfte sitzen nicht nur in den Konzernzentralen der Atomwirtschaft.


Seitenansicht der Bula-Zone, einer rundum geschlossenen Zeltstadt für die Delegationen des UN-Klimagipfels COP 23 - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bula-Zone vor dem UN-Gebäude: In diesem Jahr hat der Klimazirkus seine Zelte in Bonn aufgeschlagen. Der Willkommensgruß blieb nur Fassadendekoration. Das Schicksal der Welt wurde hinter hohen Zäunen und Sichtblenden ausgehandelt.
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://www.wiseinternational.org/sites/default/files/u93/F4%201nuclGHGshare-ED.pdf

[2] http://www.dont-nuke-the-climate.org/wp-content/uploads/2017/11/171101-Scientist-appeal-COP-2017.pdf


Bisher im Schattenblick unter BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT zum People's Climate Summit (PCS) in Bonn, mit dem kategorischen Titel Klimagegengipfel versehen, erschienen:

BERICHT/097: Klimagegengipfel - Demo der Gemäßigten ... (SB)
INTERVIEW/135: Klimagegengipfel - Kafkaeske Weisheiten ...     Uwe Hiksch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/136: Klimagegengipfel - Störfall Wirtschaft und Energie ...     Dipti Bathnagar im Gespräch (SB)
INTERVIEW/139: Klimagegengipfel - nur noch wenig Zeit ...     Franziska Buch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/140: Klimagegengipfel - agrarindustrielle Fleischproduktion abschaffen ...     Matthias Ebner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/142: Klimagegengipfel - Eskalation und Gegenwehr ...     Jonas Baliani (Ende Gelände) im Gespräch (SB)
INTERVIEW/143: Klimagegengipfel - wider besseren Wissens ...     Makereta Waqavonovono im Gespräch (SB)
INTERVIEW/144: Klimagegengipfel - die auf der Strecke bleiben ...     Barbara Unmüßig im Gespräch (SB)


21. November 2017


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