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BERICHT/127: Frauenstreik - verschieden oder unvereinbar ... (1) (SB)


Die marxistische Theorie ist unverzichtbar zur Erkenntnis kapitalistischer Ausbeutung und zur Entschlüsselung der Kämpfe, die sich entlang des Widerspruchs zwischen Kapital und Lohnarbeit abspielen. Die Klassenanalyse, die aus diesem (ökonomischen) Widerspruch heraus die Arbeiterklasse als den alleinigen Träger revolutionärer Prozesse nennt, ist unzulänglich, da sie Patriarchat und Rassismen als Nebenwidersprüche sieht und damit ihr politisches und gesellschaftliches Gewicht verkennt. Indem sie die Bedeutung von rassistischer und sexistischer Unterdrückung herunterspielt oder sie bestenfalls als Spaltungsmechanismen des Kapitals analysiert und sie damit ausschließlich an dessen Existenz bindet, fehlt ihr im politisch-praktischen Prozeß das, was gesellschaftlicher Umsturz verspricht und die Mobilisierung der dazu notwendigen Gegenmacht auszulösen vermag: die Aussicht auf Befreiung von jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung.
Drei zu Eins. Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus. [1]


Was vor einem Vierteljahrhundert in der radikalen Linken anhand des Textes "Drei zu Eins" diskutiert wurde, hat bis heute seine Gültigkeit behalten. Im Unterschied zu damals wird inzwischen auf materialistisch bestimmte Klassenwidersprüche außerhalb der marxistischen Linken kaum mehr Wert gelegt. Diese werden häufig unter dem in poststrukturalistischen Wissenschaftsdiskursen entwickelten Begriff "Klassismus" subsumiert und auf eine Frage individueller Einstellungen und Ressentiments reduziert. So einer Kritik der politischen Ökonomie der kapitalistischen Klassengesellschaft enthoben liegt der Erkenntnisgehalt einer fundamentalen Kritik der sozial heterogenen Arbeits- und Dienstleistungsgesellschaft brach.

Als Fortschritt der kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen kann demgegenüber das Weiten des Blickfeldes auf auch, aber nicht nur im marxistischen Sinne materialistisch zu bestimmende Formen der Unterdrückung und Diskriminierung gelten, die verschiedene Rassismen und Geschlechterverhältnisse betreffen. Im englischsprachigen akademischen Diskurs wird häufig die Dreierkonstellation "race, class, gender" genannt. Sie steht im Mittelpunkt des 1989 in einem Artikel über die Unterdrückung afroamerikanischer Frauen in den USA von der Bürgerrechtsaktivistin und führenden Theoretikerin der Critical Race Theory (CRT) Kimberlé Crenshaw geprägten Begriffes der Intersektionalität. Das unter dem Titel "Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics" veröffentlichte Papier gilt heute als das Gründungsdokument des Intersektionalitätskonzeptes, das sich in seiner theoretischen Komplexität und bewegten Geschichte in einer zum 30. Jahrestag veröffentlichten Schrift [2] erkunden läßt.

Grob vereinfacht lassen sich unter dem Begriff der Intersektionalität Mehrfachdiskriminierungen zusammenfassen, die Menschen betreffen, die nicht nur in einer Hinsicht von der weißen männlichen heterosexuellen Mehrheitsnorm abweichen, sondern in mehreren. Da die analytische Erarbeitung des Konzeptes von den negativen Erfahrungen afroamerikanischer Frauen in den USA mit weißen Männern und den patriarchalen Ansprüchen ihrer schwarzen Partner als auch den Unterdrückungserlebnissen nicht heteronormativ lebender und zugleich nichtweißer Menschen inspiriert wurde, ist die Diskussion um die Grenzen und Perspektiven der Intersektionalität unter den AktivistInnen und WissenschaftlerInnen in den USA und im UK am weitesten vorangeschritten. Wesentlich ist dabei die Konzeption parallel und gleichzeitig "zwischen den Sektionen", einem zwischen Zentrum und Peripherie dynamisch interagierenden Netzwerk nicht unähnlich, verlaufender Gewaltverhältnisse, die dem Bild linear, kausal und hierarchisch verlaufender Unterdrückungsverhältnisse entgegenstehen.

Es liegt angesichts der von der Atomisierung der Marktsubjekte gespeisten Bedeutung individueller Identitäten in der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft auf der Hand, daß die Trias "Rasse", Klasse und Geschlecht nicht ausreicht, um das ganze Spektrum gegen einzelne Menschen gerichteter Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraktiken zu erfassen. So nahmen die Behindertenbewegung und die WissenschaftlerInnen der Disability Studies Anstoß daran, daß die spezifische Feindseligkeit gegenüber Menschen, die von dem mehrheitlich als normal empfundenen Bild physischer und psychischer Gesundheit abweichen, lange Zeit keine angemessene Erwähnung im Rahmen des Intersektionalitätskonzeptes fand.

Die Diskriminierung als behindert geltender Menschen wird heute vor allem im Begriff des Ableism als einer affirmativen Subjektivität kritisch gespiegelt, die Personen eigen ist, die im Glauben an die Überlegenheit ihrer körperlich-geistigen Funktionserfüllung Menschen verächtlich machen, die aufgrund ihrer psychisch-physischen Konstitution nicht mithalten können. Als Variation dessen könnte das sogenannte Body Shaming verstanden werden, unter dem zum Beispiel Menschen von besonders großer Leibesfülle oder besonders kleinem Wuchs leiden, wenn sie aufgrund ihrer Körperlichkeit verspottet und herabgesetzt werden. Auch an die in einer Gesellschaft, die Jugend, Fitness und Schönheit als besonderen Wert zelebriert, anwachsende Altersdiskriminierung ist zu denken, wenn über die ein- und ausschließenden Kriterien körperlicher Repräsentation nachgedacht wird.

Wie schon anhand dieser Beispiele zu erkennen sind Klassenwidersprüche von eminenter Bedeutung für alle sozialen Beziehungen, in denen in Konkurrenz um Anerkennung und Bestätigung auf Menschen herumgetrampelt und sogar über Leichen gegangen wird. So leicht sich der Anspruch auf Solidarität unter gesellschaftlichen Außenseitern und Oppositionellen im Mund führen läßt, so schwer ist er zu realisieren, wenn staatliche Repression und ökonomische Gewalt mit im - nur zynischerweise als Spiel zu bezeichnenden - Ringen um Ausbeutung und Unterdrückung sind. Die Bindekraft gesellschaftlicher Integration wie das Streben um eine dominante Position in sozialen Gemeinschaften inklusive der negativen Beanspruchung von Anerkennung durch aktive Unterwerfung und affirmative Teilhaberschaft am Geschäft gegenseitiger Gewalt sind Kriterien eines sozialen Tauschhandels, der analog zum Tauschwert politökonomischer Theorie gesetzt werden kann.


Demonstrationszug mit lila Pyrotechnik - Foto: © 2019 by Schattenblick

Frauenstreik am 8. März 2019 in Hamburg [3]
Foto: © 2019 by Schattenblick


Solidarität und Widerstand auf ideologischem Treibsand

Dementsprechend ist die weitere Ausdifferenzierung sozialer und gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse in ihrer für das Intersektionalitätskonzept signifikanten Empirie ein unabgeschlossener, für die Aufnahme weiterer, etwa Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus als gegen einzelne Menschen oder Gruppen in Stellung gebrachter Feindseligkeiten offener Prozeß. So sieht es zumindest die Gendertheoretikerin Judith Butler, wenn sie in ihrem 1991 erschienenen Grundlagenwerk "Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity" ("Das Unbehagen der Geschlechter") konstatiert: "Theorien feministischer Identität, die eine Reihe von Prädikaten wie Farbe, Sexualität, Ethnie, Klasse und Gesundheit ausarbeiten, setzen stets ein verlegenes 'usw.' an das Ende ihrer Liste (...), doch gelingt es ihnen niemals, vollständig zu sein."

Die Jüdin Butler ist ein gutes Beispiel dafür, daß die zugewandte Diskussion um Intersektionalität unter weißen AktivistInnen in den Metropolengesellschaften Westeuropas und Nordamerikas nicht frei sein muß von der Reproduktion neokolonialistischer und imperialistischer Feindbilder. Gerade weil ihr der spezifische, nicht mit allgemeinem Rassismus zu verwechselnde Charakter des Antisemitismus aus persönlicher Lebensgeschichte vertraut ist, hat sie neben jüdischen Intellektuellen wie Noam Chomsky, Eva Illouz oder Micha Brumlick einen offenen Brief unter dem Titel "Der Einsatz für Menschenrechte ist nicht antisemitisch" [4] unterzeichnet. Sein Inhalt richtet sich gegen die Anfeindungen, denen sich jüdische AktivistInnen in Deutschland bei ihrem Eintreten für Menschen ausgesetzt sehen, "die sich mit den palästinensischen Bestrebungen nach Gleichheit und Befreiung solidarisch zeigen".

Zumindest für Butler gehört dazu auch die palästinensische BDS-Kampagne, die sie offen unterstützt und die vor kurzem in quasi großer Koalition der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien als antisemitisch verurteilt wurde. Wenn ein spezifisch gegen die Diskriminierung von JüdInnen gedachter Begriff unter Inanspruchnahme eines willkürlich herbeigeführten Vergleiches, bei dem die antisemitische Hetze des über alle Machtbefugnisse verfügenden NS-Staates gegen die jüdische Minderheit in Deutschland mit einer zivilgesellschaftlichen Kampagne dem Staat Israel gegenüber in ohnmächtiger Lage befindlicher PalästinenserInnen in eins gesetzt wird, derart entgrenzt wird, daß er sich bis zur AfD von beliebiger Seite für das politische Tagesgeschäft und die Interessen eines zudem in seiner Führung weit nach rechts gerückten Nationalstaates instrumentalisieren läßt, dann droht er gerade das zu verlieren, was ihn als Ausdruck gruppenbezogener Feindseligkeit wertvoll macht - die aus der eindeutigen Benennung der Zwecke und Ziele gegen JüdInnen gerichteter Aggression hervortretende Schutzfunktion.

So schließt sich an die Analyse spezifischer, vor allem nichtweiße und/oder behinderte und/oder lesbische Frauen sowie LGBTIQ-Menschen betreffender Unterdrückungsverhältnisse die Frage an, wie mit von diesem Ansatz nicht einbezogenen Gewaltverhältnissen umzugehen ist. Hat die Trans-Frau Chelsea Manning keine Solidarität verdient, weil sie sich vom US-Staat auch durch Inhaftierung nicht zu einer Aussage des der Vergewaltigung verdächtigen Julien Assange erpressen läßt? Ist Assange die Solidarität zu entziehen, obwohl ihm von der Regierung der USA, einem Zentrum patriarchaler und rassistischer Machtausübung, nach dem Leben getrachtet wird? [5]

Der universale Anspruch des Intersektionalitätskonzeptes kann überall dort in Schwierigkeiten geraten, wo spezifisch umrissene Identitäten mit Machtansprüchen übergeordneter Art kollidieren. Wie verhalten sich das Selbstbestimmungsrecht muslimischer Frauen, wenn es das Tragen des Kopftuches betrifft, mit dem Anspruch weißer AktivistInnen, ihnen das zu untersagen, weil es sich um ein Instrument patriarchaler Unterdrückung handelt? Die von der Feministin Hillary Clinton als Präsidentengattin beanspruchte Befreiung afghanischer Frauen hat unter diesen wie ihren Kindern zahlreiche Todesopfer gefordert und die Überlebenden in materielle Not gestürzt. Niemand spricht sich für die Diktatur des islamistischen Patriarchats aus, doch das bedeutet noch lange nicht, daß aus imperialistischen Kriegen plötzlich Befreiungskämpfe werden. Auf welcher Seite stehen afroamerikanische Soldatinnen, die sich in doppelter Hinsicht in einer militaristischen Männergesellschaft durchsetzen mußten, um irakischen Frauen das Leben zur Hölle zu machen? Wie mit dem religiösen und damit autoritär-patriarchalen Charakter des Islam umgehen, wenn ihm anhängende Menschen antimuslimischem Rassismus ausgesetzt werden?

Ähnliche Probleme stellen sich auch für die AktivistInnen eines Ökofeminismus, die sich für das Recht der brasilianischen Landlosenbewegung und von KleinbäuerInnen im Globalen Süden auf Ernährungssouveränität und den Anspruch vor Krieg und Not flüchtender Menschen auf Schutz und Hilfe einsetzen, deren Probleme unmittelbar mit dem neokolonialistischen Extraktivismus der EU und USA verknüpft sind. Die eigene Verstrickung in diese Ausbeutungslogik könnte Bündnisse vertretbar machen, die vielleicht nicht in jeder Hinsicht mit den Problemen von Mehrfachdiskriminierung betroffener Menschen konform gehen. Andererseits dürften deren Ohnmachtserfahrungen erheblich zur Entwicklung einer Empfindsamkeit beitragen, die die Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten der Erde stärkt.

Über den bloßen Anspruch auf Diversität, die sich nahtlos in die Verwertungsmechanismen des neoliberalen Kapitalismus fügen kann, hinaus öffnet das Konzept der Intersektionalität den kritischen Blick auf Gewaltverhältnisse überall dort, wo aus schlechtem Grund bislang über sie hinweggegangen wurde. Zugleich wirft es neue Fragen für feministische AktivistInnen auf, die die Artikulation ihrer Interessen mit dem Frauenstreik am 8. März einen großen Schritt vorangebracht haben. Eine weitere Politisierung im offensiven Widerstand gegen Kapital und Patriarchat könnte zum nächsten Schritt beitragen, gleiches gilt für die Hinwendung antipatriachaler AktivistInnen zu sozialökologischen Fragen im allgemeinen und den Gewaltverhältnissen zwischen Mensch und Tier im besonderen. Zu diesem Komplex unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Feminismus und Tierausbeutung in Anknüpfung an einen erweiterten Intersektionalitätsbegriff demnächst an dieser Stelle mehr.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1]https://www.nadir.org/nadir/initiativ/id-verlag/BuchTexte/DreiZuEins/DreiZuEinsViehmann.html

[2] https://www.boell.de/de/2019/04/16/reach-everyone-planet

[3] BERICHT/119: Frauenstreik - der gleiche Kampf ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0119.html

[4] https://www.juedische-stimme.de/2019/01/18/offener-brief-der-einsatz-fuer-menschenrechte-ist-nicht-antisemitisch/

[5] https://www.counterpunch.org/2019/05/28/assanges-assault-on-toxic-masculinist-militarism/


31. Mai 2019


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