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AUTOREN/037: Meister der Lüfte - Hans Magnus Enzensberger zum 80. Geburtstag (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009

Meister der Lüfte
Hans Magnus Enzensberger zum 80. Geburtstag

Von Hanjo Kesting


Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! -,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.


Man hat sich ein bisschen angewöhnt, Hans Magnus Enzensberger, den Autor dieser Verse, öffentlich so darzustellen, wie er sich im Gedicht selbstironisch porträtiert hat: als "Fliegenden Robert", will sagen: als Eskapisten und intellektuellen Luftikus oder sogar als Opportunisten. Oft wird ihm, nicht ohne Verbissenheit und Wut, vorgeworfen, er habe allzu viele Wendungen und Häutungen vollzogen und lasse einen "festen Standpunkt" vermissen. Tatsächlich hält Enzensberger sich an die Maxime Brechts: "In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen". Und an die andere Maxime: "Was kümmern mich meine Irrtümer von gestern, wenn ich mit denen von heute beschäftigt bin."

Das lässt sich auch positiv ausdrücken: Nichts ist Enzensberger mehr zuwider als die gebetsmühlenhafte Forderung nach Eindeutigkeit und Kompromisslosigkeit. Vielmehr ist er davon überzeugt, dass jede Sache falsch wird, wenn man sie mit eiserner Konsequenz zu Ende denkt, statt die andere Seite der Medaille zu betrachten. Wie wir alle, weiß auch Enzensberger es nicht so genau. Diese methodische Offenheit hat ihn befähigt, seit mehr als fünf Jahrzehnten unser brillantester Zeitdiagnostiker zu sein, ein Seismograf geistiger Befindlichkeiten, die er vorwegnehmend beschreibt, uns fast immer einen Schritt voraus.

Er verkörpert den Musterfall des dichtenden Intellektuellen. Auf der einen Seite ein Poet von hohen Graden, sensitiv und formbewusst, auf der anderen Seite ein kritischer Geist und Unruhestifter: in den 50er Jahren ein "zorniger junger Mann", in den 60ern ein Kritiker der Bewusstseinsindustrie, in den 70ern ein skeptischer Analytiker des Fortschritts und Vordenker der ökologischen Bewegung, in den 80ern ein behutsamer Phänomenologe europäischer und deutscher Wirklichkeiten, und in den 90ern ein Beobachter der historischen Umbrüche, die sich in weltweiten Migrationsbewegungen ankündigten.

Er hat in der Tat viele Wendungen vollzogen und ist sich gerade dadurch treu geblieben. Ein Intellektueller, der sich nicht scheut, klüger zu werden, und der gelernt hat, die klassische Versuchung des Intellektuellen zu meiden, nämlich den Mund zu voll zu nehmen. Einen seiner Essay-Bände hat er Gesammelte Zerstreuungen genannt. Der Titel hat Methode. Gemeint ist jene Zerstreutheit der Wahrnehmung, die sich beim zufälligen Blick aus dem Fenster ergibt - für den jedenfalls, der die Wirklichkeit als Quelle der Erkenntnis nicht verschmäht. Und so gewährt uns Enzensbergers Blick das Vergnügen eines wahrhaft zuschauenden Denkens von sinnlicher Lebendigkeit.

Auch im letzten Jahrzehnt seines nunmehr 80-jährigen Lebens hat Enzensbergers literarische Produktivität nicht nachgelassen: Er publizierte, unter dem Pseudonym Linda Quilt, einen vergnüglichen Geschichtenband, der sich auch als Erziehungsberater lesen lässt; und er brachte, unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr, eine Art Lyrikratgeber heraus: Lyrik nervt! Erste Hilfe für gestresste Leser. Zweimal wagte er sich, mit geringerem Erfolg, auf das Gebiet der erzählenden Prosa: 2006 mit der Erzählung Josefine und ich und 2008 mit der Biografie Hammerstein oder der Eigensinn, die die Lebensgeschichte des Reichswehroffiziers Kurt von Hammerstein und seiner Familie erzählt. Ein Buch auf der Grenzlinie zwischen Dokumentation und historischem Roman, weder hier noch dort ganz glücklich operierend.

Unter deutschen Intellektuellen ist Enzensberger schon dadurch ein besonderer Fall, dass er seit seinen frühen Jahren viel durch die Welt gekommen ist. Er hat in vielen Ländern gelebt, hat alle Kontinente bereist, unterstützt durch seine Kontaktfreudigkeit und immense Sprachkenntnis. Sein intellektuelles Renommee erstreckt sich nicht nur über Westeuropa und Amerika, sondern auch in die spanisch sprechenden Länder sowie nach Japan und China. Er ist auch ein guter Kenner der arabischen Welt, in die er oft gereist ist. So wurde er im zurückliegenden Halbjahrhundert zu dem (west-)deutschen Intellektuellen par excellence. Jede seiner öffentlichen Einmischungen fand die Beachtung, die einem Autor dieses Ranges gebührt, auch wenn er dabei nicht immer jene Genauigkeit der Wahrnehmung und jenes untrügliche Gespür für kommende Entwicklungen bewies, die ihn früher zur intellektuellen Leitfigur, zum Vordenker kommender Entwicklungen gemacht hatte. So unterstützte er 2003 ohne Einschränkung den Irak-Krieg, im scharfen Dissens zum intellektuellen Mainstream, den er schon beim ersten Golf-Krieg 1991 durch den Vergleich Saddam Husseins mit Hitler verstört hatte. Später hat er seine Fehleinschätzung der amerikanischen Politik unter Bush junior eingestanden.

Sein Werk ist reich und vielfältig und in seiner Vielfalt kaum zu überschauen: Es besteht aus Gedichten, Erzählwerken, Essays, Reportagen, Übersetzungen, Theaterstücken, Hörspielen und Textcollagen. Integraler Bestandteil des Werks sind die Sammlungen, Editionen und Anthologien, die er herausgegeben hat, vom Museum der modernen Poesie bis zu den rund 270 Bänden der von ihm begründeten Anderen Bibliothek, der schönsten Buchreihe der letzten 30 Jahre. Seine Editionen von Werken Montaignes und Alexander von Humboldts waren Glanzstücke seiner Findigkeit, aber auch der Brillanz, mit der er auf der Klaviatur der Medien zu spielen weiß - kaum ein anderer Autor kann sich darin mit ihm messen.

In einem späten Essayband beschäftigte er sich mit den Elixieren der Wissenschaft: Tribut an den Umstand, dass Mathematik, Physik, Biologie und Genetik unsere Welt in atemraubendem Tempo verändern. Für Enzensberger ist es ausgemacht, dass Poesie und Wissenschaft nicht nur eine gemeinsame Wurzel haben, sondern dass ihre Begegnung auf Augenhöhe mehr denn je zukunftsträchtig und notwendig ist. Das hat auch seine späten Gedichte geprägt, in denen unterschiedliche Erfahrungen präsent sind: die Höhenräusche der Erkenntnis ebenso wie die Niederlagen des Alltags. Den Poeten, der mit der Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer vor über 50 Jahren durchaus politisch-polemisch begann, interessiert in seinen fortgeschrittenen Jahren vor allem eine lyrische Artistik, die der eigenen Vergänglichkeit mit leiser, gar nicht gehobener Stimme ein paar letzte schwerelose Kunststücke abgewinnt.

Dieser Autor - wir maßen uns nicht an, sein wahres Gesicht zu kennen, der Proteus scheint immer durch - hat alles Bescheidwissen von sich abgetan, die Welt stellt sich ihm als Rätsel dar, und die Literatur wird zum Versuch, dieses Rätsel wenn nicht zu entziffern so doch abzubilden. Der letzte Gedichtband, im Frühjahr 2009 publiziert, heißt Rebus. Rebus ist der Name für ein Rätsel, das aus Bildern und Zeichen besteht. Ewige Wahrheiten, letzte Willenserklärungen oder testamentarische Verfügungen sind von unserem Dichter also kaum zu erwarten, eher gelungene Schwebezustände, ein Unsicherheitsidiom, das man nicht als Spott oder Arroganz missverstehen darf. Das deutet bereits die Ironie so vieler Gedichttitel an: Zukunftsmusik, Schöne Aussichten, Alles Gute, Gleichgewichtsstörung. Ein Gedicht trägt - in Anspielung auf Immanuel Kant - den Titel Zum ewigen Frieden. Bei Enzensberger lässt sich, wie bei jedem ernst zu nehmenden Ironiker, auch immer etwas von dem Ernst des Vorbildes wiederfinden, auf das er sich bezieht. Und welcher endlose Frieden wäre gesicherter als die lautlose Apokalypse?


Zum ewigen Frieden

Dieses Zeug, das aus dem dunklen
Himmel hell fällt, leicht,
gleichmäßig, lautlos, ohne
Aufenthalt tänzelnd, setzt sich

auf alles, ohne Eile, was eckig
ist, Hochhaus, Briefkasten, Sarg.
Alles, was eckig war, wird
rund, langsam bauschen sich

Mauern, der Abdruck der Schuhe
füllt sich, geht unter, mild,
es versinkt die Schaufel,
langsam, langsam, alles, was

zählbar war, spitz, distinkt,
fließt ineinander, Dachziegel,
Köpfe, behaupt sich, es unterliegt
das Schroffe dem Weichen, es weicht

der Unterschied, niedrig, hoch,
flach, erhaben, böse, gut. Da
der Hügel war vor Wochen, Tagen,
Minuten ein Puff, eine Bretterbude,

ein Schneepflug. Auch die Zeit
ist zu Watte geworden. Hie und da
noch ein Wetterhahn, eine Antenne.
Die leichte Wölbung am Horizont

undeutlich, von Flocken verschluckt,
muß das Matterhorn sein, oder
der Ararat. Es verschwindet der Krieg
im Frieden, weiß und vollkommen

Alles gleichmäßig wie der Schnee,
nur der Schnee nicht. Jeder Kristall
für sich, verschieden von
jedem Kristall. Ein Blick

durch das Mikroskop genügt, nur
schade, daß es versunken ist,
das Mikroskop, und das Auge
verdunkelt vom Schnee.


Hanjo Kesting (* 1943) ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift.
2008 erschien bei Wallstein: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.



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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009, S. 63-65
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2009