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FRAGEN/005: Gespräch mit Günter Grass über "Die Box" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2008

Gespräch mit Günter Grass über sein neues Buch "Die Box"
"So muss ich lügen, damit ihr mir glaubt"

Von Hanjo Kesting


Vor zwei Jahren legte Günter Grass den ersten Band seiner Lebensgeschichte vor: Beim Häuten der Zwiebel. Mit dem neuen Buch Die Box setzt er das autobiografische Projekt fort, doch erzählt er sein Leben in den drei Jahrzehnten zwischen 1960 und 1990 mit Hilfe eines magischen Fotoapparates und aus der Perspektive seiner Kinder. Am 31. August hat er im Hamburger Thalia-Theater zum ersten Mal öffentlich aus der "Box" gelesen. Hanjo Kesting hat ihn bei dieser Gelegenheit zum neuen Buch befragt.


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NG/FH: Herr Grass, Sie sind spät daran gegangen, Ihr eigenes Leben zu beschreiben. Liegt dem gleichwohl ein älterer Plan zugrunde?

GÜNTER GRASS: Entgegen dem Zeitgeisttrend, dass relativ junge Männer oder Frauen bereits ihre Autobiografie schreiben, bin ich der Meinung, dass man ein bestimmtes Alter erreichen sollte. Und dann stellt sich natürlich nach wie vor die Frage: Wie fragwürdig ist die Form der Autobiografie? Wenn wir uns erinnern, haben wir ein Chaos von Erinnerungsfetzen vor uns, und wenn wir versuchen zu erzählen, woran wir uns erinnern, treffen wir bereits eine Auswahl, beginnt eine Verfremdung, vielleicht auch eine Beschönigung dessen, woran wir uns erinnern. Diese Fragwürdigkeit muss man mitdenken, wenn man sich ans autobiografische Schreiben wagt. Das habe ich Beim Häuten der Zwiebel gemacht. Bei meinen jungen Jahren hatte ich das Gefühl, ich hätte genügend Distanz dazu, da war ich im Werden, wurde geprägt und verformt durch die Zeitläufe, konnte auch mit der mir fremd gewordenen Person des Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährigen in literarischer Form umgehen, indem ich ihn in dritter Person ansprach. Das Buch Beim Häuten der Zwiebel endet mit dem Erscheinen der Blechtrommel. Danach war ich Familienvater mit einer immer größer werdenden, manchmal unübersichtlichen Familie, schrieb Buch nach Buch und war in politische Geschehnisse verwickelt, alles Mögliche. Darüber direkt zu reflektieren und zu schreiben, also auch über meine Bücher, hätte mich überhaupt nicht gereizt. Aber einen anderen Blick auf mich und mein Tun werfen, zum Beispiel in diesem Fall aus der Sicht meiner Kinder, wenn auch auf Grund meiner Erfindung, das hat mich dann doch gereizt und so ist dieses Buch entstanden.

NG/FH: Die Box - das unterscheidet sie von Beim Häuten der Zwiebel - hat ausgesprochen märchenhafte Züge. Einmal, weil es darin oft wunderbar und geheimnisvoll zugeht. Zum anderen der Form wegen: die Lebensgeschichte wird in Märchenform erzählt. Der erste Satz beginnt mit den Worten: "Es war einmal ein Vater..." So beginnen Märchen. Ist es die Verwandlung der Lebensgeschichte in ein Märchen?

GRASS: Für mich ist die Märchenform immer reizvoll gewesen, auch in umfänglichen epischen Prosakonzepten wie der Blechtrommel. Ein Kapitel "Glaube Hoffnung Liebe", in dem es hart realistisch, auf bösartige Weise zugeht, ist die Schilderung der Kristallnacht, wie sie in Danzig und vielen deutschen Städten stattfand, und da ist sofort der Märchenton angeschlagen: "Es war einmal ein Spielzeughändler..." - aus der Erkenntnis heraus, dass Märchen den Realitätsgehalt des wirklichen Geschehens noch erhöhen und verdeutlichen können. So auch in diesem Buch, wo die Hauptperson solche Züge trägt.

NG/FH: Ist das Bedürfnis vorhanden, das eigene Leben, in dem es ja auch Brüche, Zerwürfnisse, familiäre Wirrnisse gibt, durch den Märchenton für sich selbst annehmbarer, zustimmungsfähiger zu machen?

GRASS: Bei mir herrscht seit meinem siebzehnten Lebensjahr die Erkenntnis vor, dass ich nur zufällig lebe. Ich habe in diesen wenigen Wochen vor Kriegsende erlebt, wie viele meines Alters einfach weg waren, zerfetzt waren, ein Haufen Fleisch und Knochen. Und es ist ein Zufall, dass ich das überlebt habe. Diese Erkenntnis mag dazu beitragen, dass ich gelegentlich darüber staune, dass es mich überhaupt gibt. Dass ich die Möglichkeit hatte, im Gegensatz zu vielen anderen, die ihr Leben nicht leben konnten, aus den Dingen, die mir mitgegeben waren, aus meinen Talenten etwas zu machen. Aber immer mit der unterschwelligen Erkenntnis, dass ich nur zufällig lebe und mir dessen bewusst sein sollte.

NG/FH: Ruth Klüger hat sinngemäß gesagt: "Autobiografie ist Geschichtsschreibung". Bei Ihnen ist sie eher fabulierende Ausschmückung des eigenen Lebens, das Leben wird Teil eines Fabulieruniversums. Am Ende des 7. Kapitels heißt es: "So muss ich lügen, damit ihr mir glaubt." Eine Paradoxie, aber sie hat etwas Programmatisches.

GRASS: Es ist ein Stück Erkenntnis im Lauf der Jahre über etwas, was ich anfangs vielleicht instinktiv gemacht habe: Den Wirklichkeiten, auch meinen eigenen Wirklichkeiten gegenüber, bin ich am genauesten, wenn ich lüge. Verstehen Sie? Ich lüge von Berufs wegen, Literatur ist im günstigsten Fall eine höhere Form der Lüge. Ein Erfinden von Wahrheiten, das sich im Gegensatz zu dem, was sich als realistisch gibt, oft genug als genauer darstellt. Literatur ist kein Abklatsch des Lebens, Literatur ist Gestaltung von Leben, und wenn ich das Wort "Lüge" jetzt in Anführungsstrichen benutze, ist es eine Verdeutlichung von Wahrheiten.

NG/FH: Die Box der Hauptfigur Maria, Mariechen genannt, ist "allsichtig", sie hat die magische Fähigkeit, in die Vergangenheit und Zukunft blicken zu können. Hier wird ja nicht nur einfach die Märchenebene bedient, Die Box ist auch das Instrument, um die verschiedenen Zeitebenen zu verklammern.

GRASS: Das geht von einer Erfahrung oder Grunderkenntnis aus, dass wir der Zwangsvorstellung der Chronologie unterliegen, dabei wissen wir - jeder kann es an sich beobachten -, dass sich in unserem Kopf die Zeitebenen, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, mitsamt Zukunftsängsten und Zukunftshoffnungen, mischen. Ich habe daraus den Begriff "Vergegenkunft" gemacht, in dem diese drei Zeitebenen miteinander verschränkt sind und sich überlappen, eine vierte Zeit bilden, wenn man so will. Was im Grunde wieder eine Märchenform ist.

NG/FH: Das Buch wird größtenteils durch Gespräche Ihrer Kinder erzählt, das heißt Sie legen den Kindern bei neun Treffen diese Dialoge in den Mund und nennen es, eher abschwächend, "in Vaters Regie". Wie haben die Kinder darauf reagiert?

GRASS: Nun, in dieser - wie ich schreibe - "zusammengestückelten Familie" gibt es einen ziemlichen Zusammenhalt, wunderbarerweise. Und so habe ich, weil es dort gelegentlich demokratisch zugeht, die zweite Maschinenfassung den Kindern geschickt. Das Echo war kritisch, äußerst kritisch bei einigen. Manche sagten, über mich kannst Du schreiben, was du willst, andere waren empfindlich, zu meiner Überraschung. Ich hatte geglaubt, das sind alle inzwischen Erwachsene, haben selber Kinder, so dass sie das, was sie selber als Kinder erfahren haben, aus einer gewissen Distanz sehen können. Das war zum Teil nicht der Fall, und es gab dann ein zum Teil heftiges Gespräch, wobei ich versucht habe zuzuhören, was mir auch streckenweise gelungen ist. Und wo ich ein Einsehen hatte, und das war oft der Fall, habe ich entweder Dinge weggelassen oder sie genauer dargestellt, aber doch darauf bestanden, dass ihr Leben zu meinem, aber auch mein Leben zu ihrem gehört, und dass ich, wenn ich autobiografisch schreibe, und das Recht steht mir zu, die Kinder nicht verschweigen kann, auch nicht in ihrer Vielzahl und auch nicht mit dem Hintergrund, aus dem heraus sie entstanden sind. Wenn man so will, ist dann die dritte und vierte Fassung des Buches unter anderem auch Ergebnis dieser kritischen Auseinandersetzung mit den Kindern. Aber die neun Treffen, die sind von mir rein erfunden, weil ich, wie gesagt, genauer bin, wenn ich lüge.

NG/FH: Im Häuten der Zwiebel kommt einmal der Satz vor, ziemlich am Anfang: "Weil ich das letzte Wort haben will".

GRASS: Na ja, sicher, ich bin der Autor. Wem soll ich das letzte Wort überlassen?

NG/FH: Es gibt ein paar Aspekte, die in dem Buch nicht vorkommen oder zu kurz kommen: die politische Tätigkeit, die Verbindung mit Willy Brandt, der Wahlkampf für die EsPeDe, auch Ihre literarischen Kontakte und die eigenen Bücher, ihre Entstehung, die Ideenfindung, der Schreibprozess. Ich gestehe, dass ich das bei der Lektüre vermisst habe. War es nicht in die Perspektive der Kinder einzubringen?

GRASS: Das wäre aus der Perspektive der Kinder unmöglich gewesen. Die haben das von außen gesehen und miterlebt, zum Teil darunter gelitten, wenn ich auf Wahlkampfreise war. Was Sie ansprechen und vermissen: Das wäre ein anderes Buch geworden. Aber Sie kennen ja den Schluss des Buches: "... bei mir tickt immer was..." Vielleicht kommt noch was. Es wäre falsch, alles in ein Buch hineinzupacken, was dieser Erzählperspektive nicht entsprechen kann.

NG/FH: Es gibt einige Züge im Persönlichkeitsbild, die ich mir angemerkt habe. Die haben Sie natürlich auch erfunden, insofern sind es Selbstaussagen, auch wenn sie den Kindern in den Mund gelegt sind. Sie werden zum Beispiel "extrem harmoniesüchtig" genannt, und von "konfliktscheuem Weglaufen" ist die Rede. Das passt nun gar nicht zum öffentlichen Bild, das man von Ihnen hat; da gelten Sie als ausgesprochen konfliktbereit und konfliktfähig.

GRASS: Also Streit genug gibt es in der Welt und blutige Auseinandersetzungen auch, und so habe ich vielleicht das egoistische Bedürfnis gehabt, zumindest zuhause, umgeben von den Menschen, die ich liebe - das war immer der Fall -, auch diese Ruhe und ein Stück Harmonie zu erleben. Die Konflikte, die in dem Buch angedeutet werden, spielten ja in einer Zeit, in der es offenbar ein Bedürfnis gab, jedes Problem, auch die Anschaffung einer Geschirrspülmaschine, zu "problematisieren". Das ging mir auf die Nerven, und ich hatte manchmal die Neigung, das zu ironisieren, was dann gelegentlich zu Streitwolken geführt hat.

NG/FH: Ein Kapitel des Buches heißt "Kuddelmuddel", und das bezieht sich auf die familiären Wirrnisse vor allem zwischen 1968 bis 1977. Ich habe den Eindruck, dass die von Ihnen gewählte Kinderperspektive es Ihnen auch erspart, den ganzen Schmerz, den ganzen Streit, das ganze Leiden dieser Zeit zu schildern und auszumalen.

Grass: Nicht das Leiden. Nur was ich nicht wollte und schrecklich finde in sogenannten autobiografischen Ergüssen, dass sie dazu benutzt werden, abzurechnen. Also es gibt in dem Buch keine Schuldzuweisungen. Das kam alles über uns, es hatte seine Gründe, die aber nicht an die Öffentlichkeit gehören, mit all dem Leid, das für die Kinder dadurch entsteht. Auch mit dem Bedürfnis, den Streit nicht auf dem Rücken der Kinder fortzusetzen. Auch das ist wie ein Märchen, aus meiner Sicht, dass diese acht Kinder, von verschiedenen Müttern, mit verschiedenem Herkommen, doch eine große Familie geworden sind. Und da bin ich dann, was mir auch nicht träumte als zufällig Überlebender, in die Rolle des Patriarchen hineingerutscht, und ich gebe zu, dass ich diese Rolle gelegentlich auch gerne spiele.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2008, S. 73-76
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2008