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REZEPTION/035: Humboldt-Spezialisten vermessen die Romanwelt von Daniel Kehlmann (idw)


Universität Potsdam - 29.10.2012

May the real Alex Humboldt please stand up!

Humboldt-Spezialisten vermessen die Romanwelt von Daniel Kehlmann



Am 25. Oktober startete "Die Vermessung der Welt" in den deutschen Kinos. Nach dem Millionenerfolg in Buchform lässt Daniel Kehlmann - der zusammen mit dem Regisseur Detelv Buck das Drehbuch schrieb - abermals Humboldt und Gauß einander und die Welt vermessen. Anlässlich des Filmstarts erscheint ein Sonderdossier der Internationalen Zeitschrift für Humboldt-Studien "HiN - Humboldt im Netz" (ISSN: 1617-5239). Die renommierten Humboldt- Spezialisten Ottmar Ette, Frank Holl und Eberhard Knobloch zeigen, dass es - gerade nach Kehlmanns Roman - die Wissenschaftler und Menschen Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt neu zu entdecken gilt. Prof. Dr. Ottmar Ette, Professor für Romanische Literaturen an der Universität Potsdam, macht sich auf die Suche nach "Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Welt".

Auszug aus Ottmar Ette: Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Welt, in: "HiN - Humboldt im Netz" (ISSN: 1617-5239) XIII, 25 (2012):

Wie stark sich im Verlauf des zurückliegenden Vierteljahrhunderts der Bekanntheitsgrad Alexander von Humboldts in der deutschsprachigen Öffentlichkeit verändert hat, zeigen nicht nur Fernsehumfragen zu den berühmtesten Deutschen, in denen Alexander von Humboldt mittlerweile figuriert, oder Fernsehserien, die über aktuelle Expeditionen berichten und auf Humboldts Namen zurückgreifen. Am deutlichsten vielleicht belegt dies der enorme Erfolg von Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt, der ohne die zuvor skizzierte Entwicklung nicht denkbar gewesen wäre. Es ist vor diesem Hintergrund nicht nur reizvoll, sondern aufschlussreich, sich mit dem großen Erfolg dieses kleinen Romans zu beschäftigen. Worum geht es in "Die Vermessung der Welt?"
[...]
Der junge Autor, der zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Romans so alt war wie Alexander von Humboldt bei seinem Aufbruch in die Neue Welt, hat eine Gelehrtensatire vorgelegt, ein Genre, das schon immer bei den Lesern hoch im Kurs stand, um später nur allzu leicht in Vergessenheit zu geraten. Die Vorteile dieser Gattung liegen auf der Hand: Größen der Geschichte werden leicht aufs Menschlich-Allzumenschliche reduziert, Götter der Wissenschaft gehen ihrer Unnahbarkeit verlustig, schwerfällige Theoretiker kommen wunderbar luftig und lustig daher.
[...]
Ein gefundenes Fressen also für einen, der wie Kehlmann zu erzählen versteht. Leicht sei ihm dieses Schreiben gefallen, und viel gelacht habe er dabei. Köstlich in der Tat die Szene, in der Alexander von Humboldt am Orinoko von einem der Ruderer gebeten wird, doch etwas zum Besten zu geben. Geschichten könne er keine, so Humboldt, denn er möge das Erzählen nicht. Aber er könne "das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt." Wir kennen es alle:
Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Diese Passage ist nicht nur köstlich, sie ist auch charakteristisch für Kehlmanns Verfahren. Man nehme das althergebrachte Klischee, demzufolge Alexander von Humboldt für Literarisches wie für Künstlerisches gänzlich unsensibel gewesen sei, spitze es genüsslich zu und übergehe geflissentlich nicht nur Goethes Respekt vor den erzählerischen Fähigkeiten des Jüngeren der beiden Humboldt-Brüder, sondern auch den heutigen Kenntnisstand. So wird Alexander von Humboldt abgefertigt und fertig gemacht: der Autor des Kosmos, ganz einfach ein literarischer Vollidiot.
[...]
Im Zentrum dieses sattsam bekannten Abzieh-Bildes, dessen Kehlmann sich bediente, aber steht das Scheitern Alexander von Humboldts und zugleich das Scheitern seiner Art, Wissenschaft zu betreiben. Kein Wort darüber, dass Humboldt immer wieder selbstironisch mit der Vorstellung des Scheiterns gespielt und sein eigenes Scheitern hintergründig inszeniert hat, insofern er betonte, dass er weder den Gipfel des Chimborazo noch die Tiefen der Höhle des Guácharo noch den Abschluss seines gewaltigen Reisewerkes je erreichte. Keine Rede ist von der schriftstellerischen Sensibilität, mit der Humboldt in französischer wie in deutscher Sprache experimentelle Schreib- und Buchformen schuf. Keinerlei Erwähnung der Tatsache, dass Humboldt selbst sich bei aller empirischen Fundierung seiner Forschungen vehement gegen jedwede Wissenschaft wandte, die sich auf ein bloßes Messen und Vermessen, auf ein geduldiges Fliegenbeinzählen beschränkt. Kein Gedanke daran, dass die Humboldtsche Wissenschaft und ihr Verständnis der Moderne etwas mit uns heute noch zu tun haben könnte. Dafür eine Anthologie gängiger Gemeinplätze, vorzüglich in leichtes, buntes Erzählpapier eingeschlagen.
[...]
Und darin liegt nach der Kehlmannisierung eine wirkliche Hoffnung: Dass zumindest ein Teil der Leserschaft Interesse nicht an den hysterischen, sondern an den historischen Figuren entwickelt und sich im Falle Humboldts auf eine Entdeckungsreise durch die Werke eines der großen Autoren und Denker des 19. Jahrhunderts einlässt.
(http://www.uni-potsdam.de/u/romanistik/humboldt/hin/hin25/ette_deu.htm)


Weitere Informationen im Internet:
http://www.uni-potsdam.de/u/romanistik/humboldt/hin/

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution156

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Potsdam, Birgit Mangelsdorf, 29.10.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2012