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REZENSION/001: "Richard Voß 1850-1918. Revoluzzer, Männerfreund, Bestsellerautor" von Christiane Baumann (Katarzyna Grzywka)


Christiane Baumann
Richard Voß 1850-1918. Revoluzzer, Männerfreund, Bestsellerautor


von Katarzyna Grzywka (Universität Warschau), August 2018

Als ich in den Jahren 1991-1996 Germanistik studierte, hörte ich von Richard Voß nichts. Er wurde weder in den Vorlesungen noch in den Seminaren erwähnt. Weder sein Pazifismus noch der mit dem Ersten Weltkrieg in Verbindung stehende Patriotismus, weder seine Italienfaszination noch Reiselust, weder die dem Naturalismus verpflichteten Werke noch seine als Unterhaltungsliteratur einzustufenden Bestseller-Romane fanden Beachtung der Seminarleiter. Zufall? Eher nicht. Aber dies wird erst dann verständlich, wenn man sich mit diesem auch heute wenig populären Schriftsteller genauer auseinandersetzt, seine Vita eingehend studiert und sein Werk vor dem Hintergrund der Politik-, Wirtschafts- und nicht zuletzt der Kulturgeschichte seiner Zeit liest und deutet. Denn im Falle von Richard Voß scheinen Lebenslauf und Schaffen äußerst eng miteinander verknüpft zu sein, so wie sein Schaffen und die politische, wirtschaftliche und kulturelle Situation seiner Heimat oder Heimaten, was unterstellt, dass er mehr als eine Heimat hatte und Italien ihm mehr als eine wichtige und ziemlich lange dauernde Episode im Leben bedeutete.

Richard Voß ist keine leicht zu erschließende und zu enträtselnde Gestalt am deutschen Literaturhimmel, was nicht nur aus dem Gesagten resultiert, sondern auch aus seiner Neigung, das Leben zu stilisieren, die wahre Identität zu verschleiern und ehrlicher im Subtext der Werke als in den eigenen Memoiren zu sein. Was jedoch nicht erstaunt, liest man sein Oeuvre durch das Prisma seiner Homosexualität, die das Leben im Wilhelminischen Deutschland erschwerte. Camouflage, Maske, Spiel, Doppelbödigkeit - es sind typische Motive seiner Überlebensstrategie als Mensch und Literaturschaffender in der Zeit, in der der Paragraph 175 rechtsverbindlich war. All das macht die Beschäftigung mit seinem Leben und Werk zweifelsohne schwierig und mühsam. Und diese bedarf nicht nur jahrelanger Vorbereitungsstudien, sondern auch langwieriger Recherchen in Archiven und nicht zuletzt eines großen Maßes an Disziplin und Geduld. So mindestens mein Eindruck nach der Lektüre des im Paderborner mentis Verlag herausgegebenen Buches Richard Voß 1850-1918. Revoluzzer, Männerfreund, Bestsellerautor von Christiane Baumann, die sich in ihrem Voß-Opus als akribische Forscherin und ausgezeichnete Kennerin nicht nur ihres Helden, sondern auch des Lokalkolorits seiner Wohnorte, der komplizierten Mäander der damaligen Politik, der alles andere als beneidenswerten Situation der Homosexuellen, der bunten Landschaft des Vereins- und Pressewesens sowie des schillernden Bekanntenkreises von Richard Voß erweist. So entstand ein aufschlussreiches, klug komponiertes Werk, das viel mehr als eine klassische Biographie bietet. Nicht zuletzt deswegen, weil die Autorin darin auch sein umfangreiches Schaffen auswertet, auf autobiographische Reflexe hinweist und intertextuelle Bezüge einfängt. Detaillierte Arbeit steckt hinter diesem 331-seitigen Buch, und dies lässt sich in allen seinen Kapiteln spüren, denn alle wurden mit derselben Detailliebe und Akribie verfasst.

Die Publikation besteht aus dreißig Hauptkapiteln, denen ein Siglenverzeichnis vorangestellt wird und sich ein Anhang anschließt. In diesem befinden sich u.a. das erstmals gesicherte Werkverzeichnis zu Richard Voß und ein tabellarischer Lebenslauf. Die ersten drei Kapitel haben einen einleitenden Charakter: Das erste führt in Leben und Werk von Richard Voß ein, verweist auf seine Popularität zu Lebzeiten, die Vielfalt seiner Produktivität, die Spezifik seines als oppositionell empfundenen Frühwerks, die nur vermeintlich im Gegensatz zum Außenseitertum stehenden geselligen Aktivitäten. So betrachtet ihn Christiane Baumann als "eine schillernde Persönlichkeit, die vielfältig vernetzt im Literatur- und Theaterbetrieb ihren Weg suchte und dabei geradezu exemplarisch literarische Entwicklungen und Strömungen registrierte" (S. 12). Sie deutet ebenfalls auf die zu verfolgenden Hauptziele ihrer Monographie hin und will sein Schaffen "in der Gesamtschau der ihn prägenden Einflüsse, zu denen zweifellos seine Ibsen-Rezeption gehört, und im Kontext frühnaturalistischer Gruppenzusammenhänge [...] beurteilen" (S. 13), sich dabei auf sein "unterschätzte[s] Frühwerk" (S. 17) mit besonderer Intensität konzentrierend. Im zweiten Kapitel geht die Autorin auf den Forschungsstand zu Voß ein und nähert seine Strategie der Biographie-Verhüllung dem Leser an. Denn: "Seine Autobiographie bezieht insbesondere von ihren Aussparungen ihre Brisanz. Das nahezu unveröffentlichte Handschriftenmaterial belegt, wie sorgfältig Voß Biographisches aus Kindheit und Jugend sowie persönliche Beziehungen, die für ihn bedeutsam waren, ausklammerte, wie er an seinem literarischen Frühwerk im privaten Raum festhielt, es jedoch offiziell als »bedenklich jugendlich« und als Schöpfung eines Phantasten abklassifizierte und wie er jeden Hinweis auf seine Beziehungen zur naturalistischen Bewegung und literarischen Moderne tilgte" (S. 19). Und somit hebt die Forscherin auf jenes das Voß-Werk leitmotivisch durchziehende Motiv ab, auf das sie in weiteren Passagen der Monographie noch mehrmals zu sprechen kommt, nämlich das der "Maske, hinter der sich das wahre Ich verbirgt" (S. 20). Dank dem dritten Kapitel lernt der Leser die Geschichte des Voß-Nachlasses kennen, aus der ersichtlich wird, warum die Forscherin so oft Archivdokumente heranzieht. Voß erscheint hier als ein fleißiger Briefeschreiber, der imstande war, zwanzig Briefe täglich zu verfassen und dessen Handschrift "auf eine zerfahrene, unruhige Persönlichkeit, auf Unentschiedenheit, permanentes Schwanken und damit auf Facetten, die auch für sein Werk charakteristisch sind" (S. 22), weist.

Die weiteren Kapitel widmen sich dem Leben und Schaffen des 1850 in Neugrape (heute Nowe Chrapowo, Polen) geborenen Stammhalters der Familie Voß in chronologischer Folge. Von einem gut situierten, "protestantisch-konservative[n] Elternhaus" (S. 29) ist hier die Rede, aber auch von der Übersiedlung nach Berlin und dem Heimatverlust des Sechseinhalbjährigen. Die frühen Jahre der Kindheit auf dem elterlichen Gut werden als einfach und schlicht betrachtet und als eine relevante Basis für "seinen Blick für die sozialen Unterschiede und Unterschichten" (S. 31) empfunden. Das Berlin der 1850er Jahre des 19. Jahrhunderts steht zur paradiesisch anmutenden pommerschen Heimat im krassen Gegensatz, mit dem der hochsensible Junge kaum zurechtkommt, woraus seine Fluchtmanöver resultieren: "Er flüchtete in die Welt der Bücher, in bizarre Phantasmagorien und permanente Krankheit" (S. 34). Am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin findet Voß keinen Gefallen, so wird er in das Andreas-Institut nach Bad Sulza geschickt. In die hier verbrachte Zeit fallen sowohl die Anfänge seiner Begeisterung für Richard Wagners Musik und die Entdeckung der homosexuellen Identität als auch der Tod des Vaters. Die Rückkehr nach Berlin bedeutet für den jungen Voß vor allem das Ausleben seiner Theaterfaszination und die erste Reise nach Italien, die Christiane Baumann als "Beginn seiner leidenschaftlichen Liebe" (S. 38) zu diesem Land interpretiert. Theaterbesuche, Klassiker-Lektüre, Wagners Musik und Reisen machen relevante Momente der ästhetischen Erziehung von Voß aus - dem "Entwurzelten" ohne Schulabschluss, "dem es nie gelang, in der Großstadt Berlin Fuß zu fassen und den es immer wieder ins ländliche Milieu zog" (S. 39). Ein entscheidendes Ereignis der nächsten Jahre bildet der Deutsch-Französische Krieg, dessen Ausbruch er als aufopferungswilliger Patriot erlebt, um bald - nach der Konfrontation mit dessen Grausamkeit - ein überzeugter Pazifist zu werden. Christiane Baumann hält es für eine Zäsur im Leben des knapp Zwanzigjährigen, die nicht ohne Bedeutung für seine weitere Entwicklung ist. Denn nun möchte er studieren, statt Landwirt zu werden, und geht nach Jena, wo er mit jenen Ideen konfrontiert wird, die seine Identität und seine literarische Tätigkeit prägen werden: "Das Bekenntnis zum Darwinismus und zu Haeckels Entwicklungslehre bedeutete für Voß [...] den Bruch mit einem religiösen Weltbild, das er mit seiner Erziehung im Elternhaus vermittelt bekommen hatte" (S. 42). Seine Weltanschauung wird in dieser Zeit nicht nur materialistisch, sondern auch immer mehr sozialkritisch. 1871 verfasst er seine Nachtgedanken auf dem Schlachtfelde von Sedan, was Christiane Baumanns Meinung nach "die Geburtsstunde des Schriftstellers Richard Voß" (S. 46) bedeutet und die sie als "ein frühes Dokument oppositioneller Literatur im neuen Reich" (S. 47) und als "eine Ausnahmeerscheinung" (S. 50) auffasst. Die Forscherin bewahrt dabei die Objektivität und verweist auch auf "politische Indifferenz" (S. 52) von Voß, die sich in seinen späteren Werken offenbarte: "Aus dem sozialkritischen Sedan-Bild Über Leichen zum Ruhm von 1871/1879 wurde in der Autobiographie schließlich das patriotische Sedan »für deutschen Ruhm, für deutsche Heldenherrlichkeit«, wenngleich auch hier die naturalistische Schilderung der Kriegsschrecken noch den Pazifisten Richard Voß erkennen ließ, der er im Deutsch-Französischen Krieg geworden war" (S. 53).

In den Herbstmonaten 1872 beginnt die bayerische Periode in seinem Leben: Obwohl er in München Philologie studiert, scheint nicht die Universität der Hauptgrund für den Ortswechsel gewesen zu sein. Die liberale Atmosphäre Homosexuellen gegenüber und die Nähe zu Italien, "dessen Gesetzgebung die gleichgeschlechtliche Liebe nicht unter Strafe stellte" (S. 54), waren allem Anschein nach entscheidender. Die darauffolgenden Jahre sind durch Ruhelosigkeit gekennzeichnet: Seine Reiselust führt ihn nach Italien, Breslau, Berlin, Frankfurt am Main und Zürich, wo er wahrscheinlich in Kontakt mit seinem späteren Verleger Lukas Schabelitz tritt, den die Verfasserin für eine "der ersten Verlagsadressen der deutschen Naturalisten" (S. 58) hält. In dieser Zeit entstehen u.a. seine offiziell verbotenen Visionen eines deutschen Patrioten: "Wenn Voß' Visionen an Dantes Inferno erinnern, so ist damit ein klassisches Vorbild benannt, das bis zu seinem letzten Werk Die Erlösung, in dem sich die Schrecken des Ersten Weltkriegs niederschlugen, in seinem Schaffen nahezu durchgängig einen geistigen Bezugspunkt bildete" (S. 62). Im Jahre 1874 schreibt Voß in Breslau sein erstes Schauspiel Unfehlbar. Die kommenden Jahre sind mit Wien verbunden, wo er dank seinem Freund und Gönner Adolf Wilbrandt in die Welt des Theaters und der Salons eingeführt wird. Er verkehrt nicht nur in Wilbrandts Haus, sondern auch in den anderen schillernden und in kultureller Hinsicht bedeutenden Häusern der Donau-Metropole und denkt immer öfter an die journalistische Laufbahn, wovon seine Feuilletons im naturalistischen Stil in der Neuen Freien Presse ein beredtes Zeugnis ablegen. Auch wenn seine journalistischen Karrierepläne scheitern, entwickelt er mit seinen Skizzen jene moderne Form des Feuilletons, "die als Momentaufnahme einen Wirklichkeitsausschnitt wiedergab und dem naturalistischen Anspruch, die natürlichen Vorgänge zu dokumentieren, entsprach. Diese Form erlangte in seinem Schaffen zentrale Bedeutung, wurde zu einem seiner Markenzeichen" (S. 89). Ohne Beruf, finanziell unsicher, vom Kriegserlebnis desillusioniert wird er zum "Außenseiter" (S. 89) und Morphinisten. In eine tiefe Krise getrieben macht er einen Selbstmordversuch. Die nächsten Passagen des Buches schildern die Kulissen seiner Bekanntschaft mit Paul Heyse sowie die verwickelten Umstände der Eheschließung mit Mélanie und somit des Skandals um ihre Scheidung. "Das gemeinsam erfahrene Leid wurde zum Band, das die Ehe zusammenhielt" (S. 97). Christiane Baumann sondiert ferner die Situation und das Spezifikum der naturalistischen Generation und ihrer Presseorgane, um Voß und seine Texte in dieser Landschaft zu verorten: "Während im deutschen Reich tonangebende und etablierte Zeitschriften [...] 1878 seine Neuerscheinungen nicht rezensierten, feierten die Harts, Henzen, Proelß und Silvester Frey in ihren Blättern Voß mit seinen Werken als neuen Stern am Dichterhimmel. [...] Die frühen naturalistischen Zeitschriften boten, wie am Beispiel von Voß deutlich wird, jungen oppositionellen Autoren eine Plattform, um »durchzudringen«" (S. 102-103). Während in dem nächsten Kapitel die Scherben-Sammlungen und die Ursachen ihrer Popularität unter die Lupe genommen werden, konzentriert sich das nächste auf Voß' bisher "unveröffentlichtes Gesuch" (S. 116), das Christiane Baumann nun auch zitiert, an die Deutsche Schillerstiftung, "von der er sich Unterstützung erhoffte" (S. 115). Der gescheiterte Versuch fällt übrigens in dasselbe Jahr (1878), in dem Voß den Entschluss fasst, als freier Schriftsteller zu arbeiten.

Mit dieser Entscheidung begibt er sich nach Rom, wo er sich dank dem Ehepaar Heyse am geselligen Leben der nicht nur deutschsprachigen Kulturschaffenden beteiligt. Er lernt hier "Weltbürger" kennen: "enttäuschte Aktivisten und Parteigänger der 1848er Revolution, Freidenker, die für eine politische Liberalisierung und fortschrittliche Ideen standen. Toleranz und meist ein unangepasster Lebensstil gehörten zu ihrem intellektuellen Habitus ebenso wie eine liberale Gesinnung und herrschaftskritisches Denken. Rom als Ort der »Internationalität der Geselligkeit« und der »kosmopolitischen Kontakte« musste Voß 1878 für einen persönlichen und künstlerischen Neuanfang geradezu ideal erscheinen" (S. 126-127). Und trotzdem zieht er sich zurück: in die Albaner Berge nach Frascati, um hier in der Villa Falconieri sein Refugium und Paradies zu finden. 1881 erlebt er die erste Theaterinszenierung eines seiner Bühnenwerke. In demselben Jahr beendet er seinen Roman-Erstling Bergasyl, in dem Christiane Baumann den "Versuch einer ersten Lebensbilanz des 31- jährigen Voß" (S. 135) erblickt. So markieren dieses Werk und Messalina den Abschluss seiner "erste[n] Schaffensphase" (S. 137). Seine gesellschaftliche Stellung verbessert sich, er verkehrt in den bekanntesten Berliner Salons, findet Zugang zu Berühmtheiten des Literaturbetriebs: "Dabei ging die Etablierung im Literaturbetrieb mit einer sozialen Anpassung einher, die sich auch bei anderen Mitstreitern aus dem frühen naturalistischen Autorennetzwerk nach dem Erlass des Sozialistengesetzes und dem Scheitern ihrer Zeitschriften nachverfolgen lässt" (S. 139), resümiert die Autorin. Eine "innere Zerrissenheit" (S. 141) des Literaten diagnostiziert sie: "zwischen sozialkritischem Anspruch und Suche nach dem »Falken«, zwischen naturalistischem Wahrheitsstreben und idealistischer Schönheitssuche" (S. 141). Eine Dualität zeichnet sich ab, die sich ebenfalls in seiner Berliner Lebensweise 1882 "zwischen Bohéme und Berliner Salon" (S. 150) widerspiegelt. Voß etabliert sich als Bühnenautor und scheint diesen Ruf nicht aufopfern zu wollen. Er zieht sich vielmehr aus der naturalistischen Protestbewegung zurück.

Über Voß' Bibliothekar-Episode auf der Wartburg und über die Kontakte zum Großherzog Carl Alexander ist dann die Rede, wobei seine Rolle als "Kunstvermittler und Netzwerker" (S. 160) nicht außer Acht gelassen wird, aber auch über seinen Rückzug nach Italien und den "erste[n] große[n] Band mit Italien-Bildern: Erlebtes und Geschautes" (S. 164). Italien wird zur relevanten Inspirationsquelle für mehrere Werke von Voß, denn "[a]bgesehen von Paul Heyse hat kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller Italien so häufig beschrieben wie er" (S. 165). Auch wenn er von tradierten Motiven Gebrauch macht, verleiht er ihnen ein unverwechselbares Gepräge: "Italienrausch und wirklichkeitsdurchtränktes Leben, Sinnenlust und Wahrheitssuche - zwischen diesen Polen bewegte sich Voß' Italienwahrnehmung" (S. 169), schlussfolgert Christiane Baumann. Was in diesem Bild hervorsticht, ist die Schilderung der Alltagswirklichkeit, die Konzentration auf den Außenseiter und einfachen Italiener, sein Elend und seine Not. All das verursacht, dass Voß - nach Meinung der Forscherin - als Begründer des "naturalistische[n] Italienbild[es] in der deutschen Literatur" (S. 171) angesehen werden darf. Eine interessante Ergänzung dieses Porträts bilden fiktionale Werke, in denen der Schriftsteller Italien zur "Chiffre" stilisiert, "in der die verdrängte politische und sexuelle Identität ihren künstlerischen Ausdruck fand" (S. 182).

In den Jahren 1883-1886 ist Voß vielseitig produktiv und erfolgreich. Er tritt in Kontakt mit dem Meininger Theater des liberalen und toleranten Herzogs Georg II., seine Alexandra wird hier während der Aufsehen erregenden Festwoche 1886 aufgeführt: "Es war sein Durchbruch in Meiningen, wo bis 1899 nahezu in jeder Spielzeit eines seiner Dramen auf dem Spielplan stand" (S. 190). In den darauffolgenden Jahren pendelt er zwischen Italien, Berlin, dem geliebten Haus Bergfrieden in Berchtesgaden, reist nach Skandinavien. Da er u.a. dem Berliner Verein Durch! nicht beigetreten ist, liegen seine "Beziehungen zu den »Modernen« [...] auf Eis" (S. 193). Den erhofften Schillerpreis bekommt er auch nicht, aber als Dramatiker ist er in der Spree-Metropole populär. Er laviert "zwischen politischer Macht und Opposition, zwischen sozialer Anpassung und sozialkritischem Anspruch" (S. 197). Voß gerät, aufgerieben von seinem Doppelleben, in eine Krise, Ruhelosigkeit und Angstzustände melden sich. Schließlich geht er in die Nervenheilanstalt Mariagrün von Richard Krafft-Ebing - für den Schriftsteller eine Tortur. Die Krise 1889 deutet Christiane Baumann als "Voß' »Coming-out«. Seine Neigung zum gleichen Geschlecht führte zu einem daran angepassten Lebensstil, was bis zur lilafarbenen Garderobe reichte" (S. 201). Er wird Teil einer "aristokratisch-homoerotische[n] Subkultur" und zum "Autor, der sich der Möglichkeiten der literarischen Massenproduktion bediente und im unauffälligen trivialen Muster seine homosexuelle Identität camouflierte" (S. 204). Es ist - am Rande bemerkt - weder der erste noch der letzte Nervenzusammenbruch in Voß' Leben. In dieser Zeit ist er ständig auf der Sache nach Schönheit: sowohl im ästhetischen als auch im körperlichen Sinne. "Die »Einbettung in die Rede über ,Schönheit' und ,Ästhetik' kann als typisches Strategem seiner homoerotischen Disposition gelten" (S. 209). Ende 1890 schreibt er das Drama Schuldig, seinen, wie die Autorin beurteilt, "größten Bühnenerfolg" (S. 213). Darüber hinaus arbeitet er an Werken, die Christiane Baumann "zu den frühen literarischen Zeugnissen der Nietzsche-Rezeption in Deutschland" (S. 217) rechnet. Und er reist, ist unermüdlich beschäftigt und ruhelos, trotz all der Erfolge, die er erntet. Im Jahre 1890 wird die "erste umfangreiche Würdigung seines Schaffens" (S. 220) publiziert. Aber schon bald lassen sich Anzeichen des Endes seiner Bühnenkarriere bemerken. Voß stürzt in die nächste Nervenkrise, 1895 verfasst er den Roman Villa Falconieri, den die Forscherin als seine "Halbbiographie" (S. 228) auffasst. 1896 werden seine Römischen Dorfgeschichten im renommierten Cotta-Verlag neu herausgegeben, und 1897 markiert die nächste Zäsur in seinem Leben: "Das Entsagen als Schriftsteller bedeutete die Aufgabe des künstlerischen Anspruchs" (S. 232). Er taucht in das Münchener Künstlerleben ein, begründet die Münchener Literarische Gesellschaft mit, unterzeichnet eine Petition von Magnus Hirschfeld zur Abschaffung des Paragraphen 175. Im Jahre 1902 wird er Ehrenbürger der Stadt Frascati. Voß sucht nach "Erneuerung in der Kunst" (S. 240) und setzt sich mit Kunstwerken der englischen Präraffaeliten und des Jugendstils auseinander, fühlt sich von Künstlerkolonien angezogen und engagiert sich bei der Errichtung eines Hamburger Heine-Denkmals.

1909 beginnt die vierte Etappe seines Lebens, die von finanzieller Unabhängigkeit, Weltreisen, von gesundheitlichen Problemen und von der Produktion zahlreicher Unterhaltungsromane gekennzeichnet ist. Einen besonderen Platz wird in dieser Hinsicht seinem Bestseller Zwei Menschen eingeräumt. "Selbstverleugnung wurde zum »ästhetischen Programm«. Aus dem doppelten Spiel entstanden Brechungen, die Voß' Unterhaltungsromane vom gewohnten Muster der Trivialliteratur unterschieden, mitunter aber dem uneingeweihten Leser auch manche Wendung unverständlich erscheinen ließ: "Erfolgreich waren seine Unterhaltungsromane dann, wenn Oberflächen- und Subtext zu einer kongenialen Symbiose fanden" (S. 249). Christiane Baumann untersucht den Roman, fragt nach Ursachen seiner Popularität, verweist auf Verfilmungen.

Das letzte Kapitel widmet sich Voß in den letzten Jahren seines Lebens: es deutet auf sein besessenes Arbeiten, Reiselust, Ruhelosigkeit und Einsamkeit hin. In dieser Zeit lässt er sich eine Schriftstellerklause, das "Waldhaus" neben dem Haus Bergfrieden, erbauen - "Symbol seines Außenseiterdaseins" (S. 256). Das Salonleben Münchens beschäftigt ihn nun beinahe nicht mehr, im Zentrum seiner Interessen stehen Kunst, Literatur, Natur, obgleich er sich - trotz seines Pazifismus' - zum Dienst im Roten Kreuz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldet: "Jetzt konnte er sich als »nützliches Glied« der Gemeinschaft - ein häufiger Topos in späten Texten - fühlen" (S. 267). Die Jahre 1914-1915 bringen "schwere Verluste" (S. 269), auch Enttäuschungen mit sich. Obwohl Voß im Großen und Ganzen den Krieg ablehnt, bleibt seine Haltung ambivalent: "Die Distanz zur Kriegspolitik Wilhelm II. stand der patriotischen Selbstinszenierung nicht im Wege und wurde durch sein affirmatives Agieren am Buchmarkt konterkariert" (S. 273). Er schreibt an seinem dem Pazifismus verpflichteten Werk Die Erlösung und seinen Memoiren. Beide Texte beendet er 1918, in demselben Jahr stirbt er an einem Herzinfarkt in seinem Waldhaus in Berchtesgaden.

Die Publikation Christiane Baumanns ist eine reiche Quelle von Informationen zum Leben und Werk von Richard Voß. Neben dem systematisch erforschten, aufgrund von eingehenden Archivrecherchen und genauen Studien des autobiographischen Materials rekonstruierten Lebenslauf des Schriftstellers bietet sie gewichtige Aufschlüsse zu seinem Oeuvre an. Sie zeigt u.a., dass er intellektuell befruchtende Impulse aus dem Schaffen von Sokrates, Platon, Kant, Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Arthur Schopenhauer, Eduard von Hartmann, Friedrich Nietzsche, Jacob Moleschott, John Stuart Mill, Pierre Joseph Proudhon oder Sigmund Freud schöpfte. Die Forscherin entschlüsselt ferner autobiographische, aber auch intertextuelle Bezüge in seinem Werk: sowohl zum Schaffen von Dante Alighieri, Jean Paul, Georg Büchner, Iwan Turgenjew, Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe, Henrik Ibsen, Herman Grimm, Richard Wagner, Franz Grillparzer, George Gordon Byron, Émil Zola, Bret Harte, Eugène Sue, Charles Dickens, Adolf Stahr, Ferdinand Gregorovius, Gerhart Hauptmann, Gottfried Keller, aber auch zur Odyssee wie zum Märchen. Mehrmals verweist die Autorin auf typische Themen und Motive des Schaffens von Voß, zu denen u.a. Maske, "Ablehnung des Kirchendogmas" (S. 34), Archäologie, Doppelgänger als "Sinnbild des Auseinanderbrechens einer Wirklichkeit, die das Ich ratlos zurücklässt" (S. 61), Helena, Wüstenprediger, Mönch, antike Statuen und ihre Verlebendigung, nächtliche Vision, der römische Karneval, Nymphe, Nixe, Sphinx und madonnenhafte Frauengestalt gehören. An mehreren Stellen des Buches beschäftigt sich Christiane Baumann mit dem Forschungsstand zu Voß-Werk. So reflektiert sie zum Beispiel über die Ursachen von Voß' Abwesenheit in den Standardwerken zur Trivialliteratur in Deutschland. Sie bewahrt dabei Objektivität dem Wert der literarischen Produktion von Voß gegenüber. So wirkt das Volksstück Der Väter Erbe auf die Forscherin irritierend, sie bemerkt auch "die schwankende Qualität" (S. 222) in seinem Schaffen der ersten Hälfte der 1890er Jahre.

Im Hintergrund seiner Vita und seiner literarischen Tätigkeit breitet Christiane Baumann ein vielschichtiges, facettenreiches wirtschafts- und kulturgeschichtliches Panorama aus, in dem der Leser u.a. über die Entfaltung der studentischen Reformbewegung, die Ursachen und Folgen des Gründerkrachs 1873, aber auch über die Wiener und die Berliner Salons, die Münchener Geselligkeit, die Treffpunkte der Deutschen in Rom oder die Geschichte der Pension Moritz am Obersalzberg informiert wird. Angesichts der Homosexualität von Voß schenkt die Autorin auch der Situation der Homosexuellen im Wilhelminischen Deutschland, Richard Krafft-Ebing und seinen Methoden ihrer Behandlung sowie den Anfängen ihrer Emanzipationsbewegung ihre Aufmerksamkeit. Auch über aktuelle literarische Tendenzen sowie die Situation des Literaturbetriebs wird berichtet: über den Deutsch-Französischen Krieg als literarisches Sujet, literarische Vereine und Zeitschriften, Verleger und Kritiker; die Spezifik der jungen Naturalisten-Generation und die Goethe-Rezeption im deutschen Naturalismus.

So nimmt es nicht Wunder, dass Christiane Baumanns Buch auch als eine Erzählung von Voß' Freunden und Bekannten gelesen werden kann: Johannes Proelß, Wilhelm Henzen, Karl Kehrbach, Heinrich Brunn, Max Kalbeck, Richard Plüddemann, Adolf Wilbrandt, Josephine von Wertheimstein, Paul Heyse, Franz von Lenbach, Sophie Todesco, Hugo Wittmann, Heinrich und Julius Hart, Fanny Lewald, Malwida von Meysenbug, Ferdinand Gregorovius, Stephan Sinding, Carolyne zu Sayn-Wittgenstein, Marie von Bunsen, Babette Meyer, Hedwig und Marie von Olfers, Anna vom Rath, Hermann Sudermann, Ernst von Wildenbruch, Max Klinger, Conrad Ferdinand Meyer, Silvio della Valle di Casanova, Richard Kandt, Alfred Walter Heymel, um nur einige aus dieser bunten Reihe Revue passieren zu lassen. Die Sichtung der bisher nicht publizierten Materialien, die die Verfasserin kritisch auswertet, erlaubt es ihr, Fehler in Voß' Autobiographie zu korrigieren und neue Bezüge herzustellen: so macht sie sich beispielsweise Gedanken über die Bedeutung des Journalisten Hugo Wittmann für die Entwicklung von Voß' Interesse an der französischen Literatur oder über den möglichen Einfluss von Hermann Hettners Schrift Das moderne Drama auf das dramatische Schaffen von Voß.

All das macht die Publikation Christiane Baumanns zu einem in vielerlei Hinsicht hochwertigen Opus, dessen aufmerksame Lektüre ich nicht nur Germanisten empfehle, sondern auch allen Lesern, die an der Kulturgeschichte der Zeit zwischen 1848 und 1918 interessiert sind. Treue Leser wird sie bestimmt unter denjenigen finden, die sich mit den deutsch-italienischen Kulturbeziehungen beschäftigen und die Geselligkeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegen in den Fokus ihres Interesses rücken. Und dass es ein Muss für die Forscher des deutschen Frühnaturalismus ist, bleibt sicher.


Christiane Baumann
Richard Voß 1850-1918.
Revoluzzer, Männerfreund, Bestsellerautor
Mentis Verlag, Paderborn 2018
331 S.

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Quelle:
© 2018 by Katarzyna Grzywka
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2018

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