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ERZÄHLUNG/001: Ein Schimmer aus fernen Tagen, Teil 1 (Julia Barthel) (SB)


Koordinaten aus einer anderen Welt

von Julia Barthel


Eben war er noch da gewesen, der Zipfel einer Erinnerung, verborgen in den Tiefen eines Traums, aber zum Greifen nahe... Mit einem Schlag war ich hellwach, lag mit weit aufgerissenen Augen in meinem Bett und fühlte nur noch meinen rasenden Herzschlag. Ein jäher Schock hatte mich mitten aus dem Tiefschlaf gerissen, mein ganzer Körper fühlte sich an wie eine lebende Starkstromleitung. Während mein Bewußtsein noch unter dem dumpfen Echo des Anfalls begraben lag, wurde mir klar, wie gut ich diese Symptome kannte. Sie waren ein Teil von mir, so etwas wie ein alter Bekannter, der manchmal für Wochen oder sogar Monate verschwand, nur um dann urplötzlich mitten in der Nacht wieder aufzutauchen. Ich hatte schon versucht, ihn mit Medikamenten aus meinem Leben zu verbannen, nur um regelmäßig durchzuschlafen wie alle anderen auch. Allerdings verlor ich unter dem Einfluß der Tabletten auch den Zugang zum Träumen. Die Nächte waren erholsam, aber leer, als hätte ich den Geist einfach ausgeknipst. Keiner von meinen Freunden hatte verstanden, warum ich die Medizin absetzte und es vorzog, die heftigen Attacken von Schlaflosigkeit weiterhin zu ertragen. Niemand konnte das begreifen, am wenigsten mein Therapeut der mich weiterhin mit allen möglichen Gegenmaßnahmen zu heilen versuchte, von starken pflanzlichen Beruhigungstees bis hin zu Hypnose, bis ich anfing, ihn zu belügen. Mittlerweile schwieg ich mich über diesen Teil meiner Existenz einfach aus. Es war so etwas wie eine chronische Krankheit, vergleichbar mit Epilepsie oder Asthma, schwerwiegend und aufreibend, aber daran hing ein unsichtbarer Faden, eine Verbindung in mein früheres Leben. Deswegen ließ ich diesen alten Bekannten immer wieder in mein Haus, weil an seiner Kleidung der Geruch nach etwas Vertrautem haftete, nach Dingen die ich nicht vergessen wollte.

Ich lag also in meinem Bett, heftig atmend mit wildem Puls und einer elektrischen Spannung in allen Gliedmaßen. Das Adrenalin toste durch meine Adern, doch allmählich begann der Strom schwächer zu werden. Ob des groben Erwachens leicht frustriert wartete ich, bis nur noch ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen und an den Fußsohlen übrig war. Mit dem Klopfen meines Herzens verlangsamte sich auch das Rasen der Gedanken im Kopf, bis sie schließlich ein Tempo erreicht hatten, in dem ich sie wieder entziffern konnte. Von Klarheit konnte man zwar noch nicht sprechen, aber zumindest war mein Gehirn wieder empfänglich für einfache Befehle.

Langsam sah ich mich im Zimmer um, suchte in der schwindenden Dunkelheit nach vertrauten Anhaltspunkten und fand mir gegenüber den Raumteiler, der meine sorgfältig gepflegte Pflanzensammlung beherbergte. Die Konstruktion bestand aus einem speziellen, milchigweißen Kunststoff und hatte begonnen, sanft in beruhigenden Gelb- und Grüntönen zu leuchten, als ich mich aufrichtete. Durch die durchsichtigen Töpfe und das transparente Substrat konnte ich die Wurzeln meiner grünen Schützlinge erkennen, wie sie sich je nach Art der Pflanze wirr, verknäuelt oder pfahlartig durch den Untergrund wanden. Die Sensoren in meiner Wohnung hatten mein koordiniertes Bewegungsmuster sowie die Vitalfunktionen als Aufwachen gedeutet, weshalb der kleine Bildschirm auf dem Nachttisch zur Rechten sich deutlich aufgehellt hatte. Ich beugte mich hinüber, um einen Blick auf die Uhrzeit zu werfen, die dort groß in blauer Fluoreszenz angezeigt wurde. Es war 5.45 Uhr, noch ziemlich früh und eine dreiviertel Stunde vor der Weckzeit. Ich strich mit der Fingerkuppe über den Schirm, wodurch sich die Beleuchtung wieder ausschaltete. Mit einem Tippen auf meine Universalfernbedienung unterbrach ich den simulierten Sonnenaufgang auf dem Sideboard an der rechten Wand. Dann ließ ich die Lamellen des Rollos am Fenster hochfahren, um das natürliche Licht des anbrechenden Tages hinein zu lassen. Beim Zurücksinken in die zahlreichen Kissen am Kopfende machte sich ein leichtes Ziehen in der Muskulatur bemerkbar, die üblichen Nachwirkungen meiner Freizeitgestaltung. Ein Wochenende voller Fahrradtouren und zwei Besuche im Fitnessstudio lagen hinter mir, die normalerweise sehr gut gegen meine innere Anspannung wirkten. Da ich mich nun wieder in einer Ruheposition befand, verblasste das Schimmern des kleinen botanischen Kunstwerks recht schnell und ließ nichts als ein geheimnisvolles Halbdunkel um mich herum zurück. Meine Augen entspannten sich, während ein feines, undurchdringliches Netz aus finsteren Partikeln sich auf alle Gegenstände legte. Im Grunde bin ich ein eher sachlich veranlagter Mensch, doch in diesem Zwielicht sprang die Phantasie in den Windungen meines Gehirns an wie auf Knopfdruck. Innerhalb der gedämmten Wände meines Apartments herrschte Stille, so daß meine Aufmerksamkeit in keiner Weise von der unmittelbaren Umgebung abgelenkt wurde. Schon nach Bruchteilen von Augenblicken bemerkte ich, daß der erste Eindruck von hermetischer Dunkelheit täuschte. Je länger ich hinsah, desto mehr zerfiel diese feste Masse in eine Vielfalt von Schatten. Manche Konturen wie die kompakten Umrisse des Sideboards traten deutlich hervor, als ein massiver, schwarzer Klumpen von fragwürdiger Identität. Der Boden unter mir schwamm in einem grauen Halbschatten, der die übliche Trittfestigkeit des Grundes in Frage stellte. In den Ecken des Raumes, unterhalb des Fensters, zwischen den Treffpunkten der Wände auf dem Holzparkett und neben dem Raumteiler sammelten sich die nebelhaften Teilchen zu pechschwarzen, obskuren Untiefen, in die man nicht hineinblicken konnte. Selbst die geraden, weißen Flächen der Wände verloren im Spiel dieses Halblichtes ihre Festigkeit, wurden sie doch von vielen Flecken unterschiedlichster Grauschattierungen in helle und dunkle Areale zersplittert und verschoben. Alles um mich herum war in Bewegung, die universelle Gültigkeit der normalen Realität schien in diesen Momenten gegenstandslos zu werden. Wie ein Kind stellte ich mir vor, daß sich mit den festen Formen meines Mobiliars auch die Wirklichkeit meines jetzigen Daseins einfach auflösen könnte. Es war immerhin möglich, daß die Mauern um mich herum auf einmal durchlässig wurden, um eine andere Welt hindurch zu lassen. Der instabile Boden unter mir konnte sich augenblicklich als das nachgiebige Terrain eines Dschungels erweisen, überwachsen von gewundenen Baumwurzeln, voller Kriechtiere und dichtem Gebüsch. Jedenfalls war es derzeit nicht sicher, meine nackten Füße auf diesen fremden Untergrund zu setzen. Statt dessen beobachtete ich argwöhnisch, aber auch gespannt das schwarze, geduckte Sideboard rechts von mir, um nichts zu verpassen, falls es plötzlich anfangen sollte, seine neu entdeckten Glieder zu strecken. Den hellen Flecken auf der Tapete entnahm ich aus dem Augenwinkel, daß diese Brüche im Licht ein Hinweis auf eine Veränderung vor dem Fenster sein konnten, wo die Welt inzwischen vielleicht vollkommen anders aussah als gestern. Trotz der gesteigerten Aufmerksamkeit fühlte sich mein Kopf merkwürdig frei an. Die üblichen Sorgen und Zwänge schienen wie weggeblasen zu sein, während sich für kurze Zeit die Illusion manifestierte, daß nichts endgültig festgelegt war, als gäbe es wirklich so etwas wie Freiheit hinter den Gitterstäben meines Universums.

Dann begann sich der Wald der Schatten zu lichten, die Helligkeit weitete sich aus und füllte die dunklen Ecken mit klaren Strukturen. Nachdem das helle Parkett unter mir nun sicher begehbar war, drängte auch die Uhrzeit mich zum Aufstehen. Inzwischen war ich hellwach, schob die Decke beiseite und ließ diesmal die ausgeklügelte Technologie im Haus ihr Werk tun. Die Wohnung war mit Ausnahme des Bades wie ein Loft aufgebaut, der nur durch Teilwände durchbrochen wurde. Zwischen meinem Schlafbereich, dem Wohnzimmer und der halboffenen Küche existierten keine störenden Türen, daher konnte ich von hier aus schon das verlockende Blubbern des Kaffeevollautomaten hören. Das Leben war in ihn gefahren, sobald ich mich vom Bett in die Senkrechte begeben hatte und so pochte das Herzstück meines morgendlichen Rituals schon kräftig vor sich hin, als ich unter die Dusche schlurfte. In wilder Vorfreude auf den ersten Cappuccino des Tages hielt ich es nur die allernötigsten fünf Minuten unter dem nassen Schauer aus. Noch tropfend warf ich mir anschließend einen weißen Frotteebademantel über den Leib, um am Küchentisch endlich das dampfende, schwarze Lebenselexier in mich hineinzuschlürfen. Noch hatte ich keinen Blick in den großzügigen Spiegel im Bad geworfen, also berührte ich schnell das Touchpad der Kaffeemaschine, befahl ihm, noch einmal die doppelte Menge Wachmacher zu produzieren und begann dann, meine kurzen, kupferroten Haare in Form zu föhnen. Am Fußende meines großen Bettes ragte ein kleiner Vorsprung heraus, auf dem ich bereits gestern Abend penibel meine Kleidung zurechtgelegt hatte. Eine sehr teure Jeans in einem mittleren Blau, einigermaßen robust, aber dennoch seriös, dazu ein zartes Unterhemd aus warmen, weichen Fasern in Puderrosa und darüber ein anschmiegsamer, dünner Pullover im edlen Naturbraun. Zuletzt schlüpfte ich in einen perfekt sitzenden Blazer von hellem Frühlingsgrün, der mir den angemessen offiziellen Anstrich verlieh. Spießig, unaufdringlich, neutral, aber immer noch besser als Anzug oder Kostümzwang. Nach dem, was mein Chef mir am Samstag in einer knappen Mail mitgeteilt hatte, würde ich meinen Tag heute außerhalb des Büros verbringen, daher war diesmal eine flexible Arbeitskleidung angebracht. Vielleicht wäre es besser gewesen, mir unter solchen Umständen nicht soviel Kaffee hinter die Binde zu gießen, doch in dieser Hinsicht bin ich unverbesserlich. Kaum steckte ich in meinem sorgfältig durchdachten Outfit, da fiel mir ein, daß ich etwas Wichtiges vergessen hatte. Leise vor mich hin fluchend stürzte ich zurück in die Küche, pflückte meinen doppelten Cappuccino aus dem Automaten und stellte die Tasse neben dem großen Spiegel im Bad ab. Sich gleichzeitig zu schminken und eine große Menge heißen Espresso in sich hinein zu kippen, ist beinahe unmöglich. Während ich mit Schwämmchen, Bürsten, Tagescréme und Lidschatten hantierte, beugte ich mich immer wieder über den Rand der Tasse oder hob sie mit den Fingern der linken Hand zu den Lippen. Das Gefäß schwankte ein paarmal bedrohlich, wenn ich in meinen fahrigen Bewegungen dagegen stieß, aber es stabilisierte sich jedesmal kurz vorm Umkippen wieder. Eigentlich nervt mich das ständige Herumfuhrwerken an meinem Gesicht gewaltig, doch mein Job verlangte von mir das Betonen der weiblichen Attribute. Es war ein Opfer an den Traumberuf, aber ohne einen guten Schuß schwarzer Energiesubstanz kaum zu ertragen. Nachdem das verhaßte Ritual beendet war, bestand mein Blut sicher zu großen Teilen nur noch aus Milchschaum und konzentriertem Kaffee, so daß es mehr brodelte als floß. Dennoch wirkte ich nun auf eine leicht künstliche Weise ausgeruht und frisch wie der junge Morgen. Noch blieb etwas Zeit, um im Wohnzimmer am großen Bildschirm ein paar Daten abzurufen. Draußen herrschten laut Wetterbericht schon eher herbstliche Temperaturen, Wolken verdeckten den Himmel, aber mit Regen war nicht zu rechnen. Wir schrieben den 17. September im Jahr 2034 und hoffentlich den Beginn meiner viel versprechenden Karriere als Journalistin bei den "Harbour City News", dem bedeutendsten Medium der Metropolzone Hamburg.

Kurz vorm Ausschalten bemerkte ich noch, wieviel Werbung sich wieder in meinem virtuellen Briefkasten angesammelt hatte. Darunter befand sich speziell an meine Bedürfnisse angepasste Sportbekleidung für die kalte Jahreszeit, nach den persönlichen biometrischen Daten auf meine Körpermaße abgestimmt. Ein Glückwunsch zu meinem beruflichen Aufstieg war hereingeflattert, noch bevor ich das erste Wort geschrieben hatte, daran hing eine Liste mit ausgesuchten Softwareempfehlungen, die meine Arbeit in Zukunft optimal unterstützen sollten. Eine bunt aufgemachte Nachricht von Amazon ließ mich wissen, daß sie die alten Kampfkunstfilme, welche ich so oft ansah, nur noch für kurze Zeit im Programm haben würden. Schließlich wollte meine Apotheke mir ein Vorsorgepaket mit fiebersenkenden Mitteln, Hustensaft und Aspirin gegen eine zu erwartende Grippewelle im Oktober zuschicken. Ich runzelte die Stirn wegen der heranschleichenden Epidemie, denn es kam im Augenblick für mich nicht in Frage, krank zu werden. Ein Vermerk in meinem Mobiltelefon sollte mich später daran erinnern, die Risikovorhersagen für die kommenden Wochen herunterzuladen, vielleicht halfen sie mir, den Gefahren aus dem Weg zu gehen, wie einem Regenschauer.

Nach der kleinen Ablenkung hatte sich der Espressorausch wieder etwas gelegt, doch ich brannte darauf, endlich die Wohnung zu verlassen. Aufgeregt dachte ich an das Treffen mit meinem Chef und daran, was mich an diesem Tag wohl alles erwarten würde. Der Fahrstuhl brachte mich hinunter ins Foyer des Apartmenthauses, wo ich beim Hinausgehen die diskrete Sicherheitszone des Gebäudes passierte. Unmerklich wurde ein 3D-Scan meines Gesichts durchgeführt, sowie andere Kleinigkeiten, die meine Identität als regulärer Bewohner bestätigten. Die Türen öffneten sich automatisch vor mir und entließen mich auf den von Wasser gesäumten Weg zum nahe gelegenen Bürogebäude der "Harbour City News". In dem kleinen Abschnitt zwischen den Reihen der Wohnhäuser war es noch relativ ruhig, doch durch die Lücken inmitten der schimmernden Glaskonstruktionen konnte ich bereits die Promenade am Hafenbecken erkennen. Dort strömten schon viele Menschen in ausgesprochen schicken Anzügen, uniformen Kostümen und anderen zurückhaltenden Kombinationen aus gedeckten Farben zur Arbeit. Zumindest traf dies auf den größten Teil der Leute zu, doch mir war klar, daß sich unter der genormten Oberfläche und zwischen den Zeilen jede Menge interessante Facetten verbargen. Neben mir versperrte jetzt eine spiegelnde Fassade die Sicht auf die anderen, also nutzte ich die Gelegenheit für einen letzten prüfenden Blick auf mein eigenes Erscheinungsbild. Unter dem knabenhaften Haarschnitt blickten mir zwei große, grüne Augen entgegen, die ein wenig weiblichen Charme in mein blasses Gesicht zauberten. Unter den weichen Stoffen brachte mein durchtrainierter Körper eine aufrechte Haltung zu Stande. Zufrieden wandte ich mich ab und war mit wenigen Schritten an dem Gebäude vorbei gelaufen.

Dann trat ich aus der Deckung der Nebenstraße heraus, mischte mich unter die Menge und ließ den suchenden Blick schweifen. Es dauerte nicht lange, bis mir die ersten Besonderheiten an den Menschen um mich herum förmlich ins Auge sprangen. Einige Schritte rechts von mir lief eine auffallend schlanke Frau, deren extrem kurzes Haar in einem sehr hellen Blond erstrahlte. Ihre Bewegungen waren trotz einer Körpergröße von fast 1,80 Meter fein aufeinander abgestimmt und völlig gelassen. Die ausgesprochen ebenmäßigen Gesichtszüge wurden von einem Paar strahlend blauer Augen gekrönt, deren Blick gleichzeitig konzentriert und abwesend erschien. Wirklich auffällig war jedoch der Hosenanzug, den sie trug, dessen satt glänzendes Blau ihr zwar hervorragend stand, aber keinesfalls für einen Tag im Büro geeignet schien. Am Nacken ließ der Stoff einen Teil ihrer Haut frei, auf der ein filigranes Muster aus Strichen und Punkten funkelte, die Farbe wechselte und wieder verschwand, um nach Bruchteilen von Sekunden erneut aufzutauchen. Wie groß das Nanotattoo tatsächlich war, ob es sich vielleicht über den ganzen Rücken zog, war nicht zu erkennen, aber es lief bis unter den Haaransatz aus. Offenbar war diese Frau ein Model, das es nicht nötig hatte, unter der einförmigen Masse von Lohnempfängern zu verschwinden. Allein die flimmernden, metallischen Nuancen ihres Hautschmucks, welche von Gold über Grün bis zu eisigem Blau und Silber changierten, verrieten mir, daß sie auffallen wollte. Wer weiß, vielleicht warb sie mit ihrem Auftritt sogar für einen der großen Konzerne, die immer neue Variationen dieser Microtechnologie auf den Markt warfen. Viele der Leute, die jeden Morgen hier entlang gingen, hatte ich schon einmal gesehen, zumindest jene, deren Wohnsitz in Hafen City lag. Die blonde Schönheit war mir neu, daher zog ich aus ihrem abwesenden Blick einen logischen Schluß: Mit hoher Wahrscheinlichkeit war sie gerade online und blickte durch künstliche Linsen auf die projizierte Wegbeschreibung zu irgendeinem Job oder Casting. Für Personen, die ständig in fremden Städten überall auf der Welt unterwegs waren, mußte dieses System wirklich eine enorme Zeitersparnis bedeuten. Man konnte einfach aus der Haustür fallen und loslaufen in dem sicheren Wissen, das angepeilte Ziel auf dem effizientesten Wege zu erreichen. Bei diesem Gedanken entfleuchte mir ein leises Seufzen, denn ich sehnte mich selbst danach, einmal als Journalistin durch fremde Länder reisen zu können, die dem Durchschnittsbürger verschlossen blieben. Allerdings brauchte man für solche Abenteuer ein ganz spezielles Visum, das einen als vertrauenswürdigen Bürger einstufte. Manche Orte waren sogar nur mit einem besonderen Auftrag von Seiten der Regierung zu erreichen. Eine steile Karriere in der schreibenden Zunft war für mich der einzige Weg, an solche Privilegien heranzukommen. Deshalb war dieser Tag für mich so enorm wichtig und die Aussicht darauf trieb mich zu einem schnelleren Schritt an. Vor der Frau mit dem blonden Haar kam der Verkehr kurzzeitig ins Stocken, also überholte ich die Erscheinung und wandte mich im Gehen anderen Gestalten zu. Wenige Zentimeter links von mir schob ein junger Mann in grauem Anzug ständig den rechten Ärmel seines Sakkos nach oben, damit er die rot leuchtenden Ziffern auf seinem Unterarm studieren konnte. Er wirkte nervös, zappelte ständig vor sich hin und reckte den Kopf, um zu sehen, ob es nicht möglich war, sich irgendwo vorbei zu quetschen. Derweil liefen immer neue Zahlen auf seinem Arm entlang, was seine Unruhe noch zu steigern schien. Ich schielte auf die Hautstelle hinüber, daran interessiert, zu erkennen, ob es sich um Börsendaten handelte, doch als er meinen Blick auffing, starrte der Mann mich böse an und zog den Ärmel wieder herunter. "Gott im Himmel", dachte ich mir verärgert, "wenn du schon deine Linsen zu Hause liegen läßt, dann mußt du eben damit leben, daß man deine kostbaren Zahlen aufschnappt..." Er war ein blöder kleiner Angeber, der seine Position unbedingt öffentlich zur Schau stellen mußte, kein sonderlich professioneller Zug. Seine Vorgesetzten würden ihn sicher bald rausschmeißen, wenn er weiter so öffentlich mit sensiblen Daten herumprahlte. Die Zahlen mußten von einem internen Server kommen, sonst hätte der Blödian nicht so hektisch reagiert.

An der Wasserseite tauchte jetzt kurz eine blasse Sonne hinter dem neblig grauen Wolkenvorhang auf. Ihr schwaches Licht fing sich im zarten, weißen Netzwerk, welches das Unilever Gebäude einhüllte und es reichte aus, um das ganze Gebilde zum Strahlen zu bringen. Für einen Moment verlor ich mich im Anblick der eingefangenen Leuchtkraft, die alle Flächen ringsum mit spiegelndem Glanz überzog, bis hinunter zum grauen Nass. Zwischen den gläsernen Hüllen der würfelförmigen Bauwerke wurde der Widerschein von Himmel und Wasser in alle umliegenden Straßen weitergeleitet, bis die Reflexion fast das ganze Viertel erfasst hatte. An diesem Effekt konnte ich mich nicht sattsehen, er sorgte dafür, daß man sich selbst an düsteren Herbsttagen nicht wie ein Gefangener der grauen Stadt vorkam.

Kurzfristig vergaß ich all den Trubel neben mir. Mein Geist schwebte in beflügelter Stimmung davon, während der Körper sich auf Autopilot weiter vorwärts bewegte. Eine etwas unglückliche Kombination, wie sich bald herausstellte, als ich mit der Nase in der Luft gegen einen kleinen, schwarzhaarigen Mann rannte, der auf meinem Kurs stehengeblieben war. Zwar konnte ich die Kollision in der letzten Sekunde noch dämpfen, doch der Herr nahm mir mein unhöfliches Benehmen sichtlich übel. Ich hatte mit meinem ungehobelten Anrempeln ein ungeschriebenes Gesetz der zivilisierten Stadtbewohner verletzt. Eigentlich durfte man sich im steten Fluß der Bewegung nur eines nicht erlauben, nämlich im Weg zu stehen. Gleich danach bestand die zweite Todsünde darin, einem Hindernis nicht rechtzeitig auszuweichen und damit alle anderen zu irritieren. Ich schaffte gleich beides auf einmal. Das Opfer meiner Achtlosigkeit drehte sich langsam zu mir um. Es handelte sich um einen Japaner, den ich flüchtig auf irgendein Alter jenseits der Fünfzig schätzte. Er war nicht groß, aber in seiner Körperhaltung steckte die geballte Autorität einer hochrangigen Führungspersönlichkeit. Obwohl der Mann sich bewegte, verharrten Rücken und Beine in einer kerzengeraden Linie, als bestünde er aus Stein. So kompakt und kalt wie eine Statue stand dieser Mensch im dunklen Anzug vor mir, ohne mit der Wimper zu zucken. Keine Regung huschte über die zahlreichen Linien seines gebieterischen Gesichts und dennoch sprang mir seine Verachtung förmlich entgegen. Er verlor natürlich kein einziges Wort an mich, doch der Blick aus lackschwarzen Augen ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Die tödliche Wut, mit der er mich anstarrte, stand in keinem Verhältnis zu meinem kleinen Vergehen. In der eisigen Klammer des Augenblicks schoß mir das Bild einer schuppigen, grünen Echse durch den Kopf. Wie der Basilisk aus alten Legenden transportierte der alte Japaner nicht nur seine Gefühle, er wäre fähig gewesen, mich gleich an Ort und Stelle zu töten.

Dann war plötzlich alles vorbei, der Herr im Anzug drehte sich weg, als links von uns eine Gruppe seiner Landsleute auftauchte. In den makellosen Zügen der jungen Männer und Frauen war trotz der berühmten asiatischen Selbstbeherrschung ein Hauch von Hektik zu erkennen, während sie sich im Laufschritt näherten. Offenbar war der ältere Herr ihr Vorgesetzter und hatte am Treffpunkt auf seine Mitarbeiter warten müssen. Als sie sich tief vor ihrem Boss verbeugten, wirkten die adrett gekleideten Erwachsenen plötzlich wie geknickte Schulkinder. Nach einer stark unterkühlten Begrüßung strebte der ganze Pulk in Richtung Überseequartier davon und ließ mich mit einem flauen Gefühl im Magen mitten auf den Magellanterassen stehen. Ich sah ihnen noch einige Sekunden lang leicht befremdet nach. Die meisten von ihnen sprachen im Gehen eifrig in ihre implantierten Mikrophone, sehr darauf bedacht, die Zeit so effizient wie möglich zu nutzen. Das ganz normale Verhalten eingefleischter Karrieremenschen. An ihnen war eigentlich nichts Auffälliges, sie bildeten eine perfekte Synthese aus harmonischem Äußeren, kultiviertem Benehmen und unermüdlicher Leistungsfähigkeit.

Ihr jugendlich frisches Aussehen mochte darüber hinwegtäuschen, doch sie hatten mit Sicherheit schon etliche Jahre auf der Karriereleiter ihres Konzerns hinter sich. Das Parkett des globalen Marktes betreten zu dürfen war ein Vorrecht, das man sich hart erarbeiten mußte. Der Umstand, daß sie es bis hierher geschafft hatten, sagte mir viel mehr über ihr wahres Alter, als das Auge erfassen konnte. Zerstreut versuchte ich, zu erraten, wie alt sie tatsächlich sein mochten. Auf den glatten Gesichtern fanden sich jedenfalls keinerlei brauchbare Hinweise, man rutschte einfach an den subtilen, kosmetischen Modifikationen ab. Keine Spuren von Müdigkeit und nicht die geringste Falte waren an der ebenmäßigen Haut zu erkennen. Dem Schein nach konnten diese Menschen nicht älter als 27 sein, doch davon ließ ich mich nicht täuschen. Indem ich ihren Firmenstatus mit den teuren Accessoires der Frauen und einigen Merkmalen der Bewegungsmuster verrechnete, kam ich zu dem Schluß, daß viele die Grenze von vierzig Jahren schon überschritten hatten. Mein Reflex, andere Personen beinahe automatisch genau zu taxieren, um dann Vermutungen über sie anzustellen, ließ sich nur schwer unterdrücken. Ein spezieller Charakterzug, der mich wahrscheinlich zu einer guten Profilerin gemacht hätte, aber auch für Journalisten sehr nützlich sein konnte. "Sollte der Tag heute total schieflaufen, kann ich mich wenigstens nach einer guten Ausbildung bei der Polizei umschauen", dachte ich im Weitergehen müßig... Da rückte plötzlich das wichtigste Puzzleteilchen aus meinen Beobachtungen an den richtigen Platz und ich blieb abrupt stehen. Erst durch den Anblick der künstlich verjüngten, genormten Gruppe von Mitarbeitern war mir bewußt geworden, was das wirklich Frappierende an dem alten Japaner in ihrer Mitte war. Er hatte die Zeichen des Alters offen zur Schau gestellt, obwohl es ein Leichtes für ihn gewesen wäre, die Falten und Linien einfach unsichtbar machen zu lassen. In den zahlreichen Furchen und Runzeln hatte so unglaublich viel Leben gesteckt, daß mir der Schreck durch alle Glieder gefahren war. Ich war von der Macht seiner Mimik abgeprallt wie von einer massiven Wand, ohne daß es ihn auch nur die geringste Anstrengung gekostet hätte. Was ich dort sah, fiel doch sehr aus dem Rahmen des üblichen Straßenbildes, es war wie der Zusammenstoß mit einem leibhaftigen Ungeheuer, jedenfalls wenn man die Maßstäbe meiner Weltsicht zugrunde legte. Mit seinem ungefilterten Aussehen stach dieser Mann extrem aus dem uniformen Kollektiv moderner Geschäftsleute heraus. In diesem Haifischbecken traute sich eigentlich niemand mehr, auf die neuesten kosmetischen Errungenschaften zu verzichten. Jedes Zeichen von Schwäche wurde schnellstmöglich kaschiert, denn wer bei einer Besprechung müde wirkte, mußte sich unangenehme Fragen gefallen lassen. Harte Arbeit war obligatorisch, danach auszusehen weckte nur den Fressinstinkt der anderen Raubtiere. Dennoch hatte der Herr im dunklen Anzug entschieden, sich der stromlinienförmigen Ästhetik des dritten Jahrtausends zu widersetzen. Merkwürdigerweise hatte der Schachzug seinem Ansehen nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Mit der damit verbundenen Ausstrahlung wirkte er sicherlich auf Angestellte ebenso furchteinflößend, wie auf seine Konkurrenten. Möglicherweise war dies auch der ganze Grund für seine ungewöhnliche optische Erscheinung. Ich verließ nun den feinen, sandfarbenen Boden der Magellanterrassen, um zwischen den vielen Firmensitzen und Bürogebäuden eine Seitenstraße zu durchqueren. Währenddessen wollten meine Gedanken nicht aufhören, um das eigenartige Verhalten des alten Mannes zu kreisen. Er mußte irgendwelche besonderen Gründe haben, in unserer Scheinwelt so offenkundig ganz er selbst zu sein, sich nicht hinter einer angenehmen Fassade zu verstecken. "Möglicherweise ist er einfach nur ein radikaler Traditionalist, dem gewisse Aspekte des Fortschritts zuwider sind", meldete eine leise, naive Stimme in meinem Innern. "Ja klar", gab der analytische Teil meiner Persönlichkeit ironisch zurück, "deswegen begibt er sich auch absichtlich auf einen Laufsteg der Eitelkeiten, statt von einem abgeschotteten Büro in seiner Heimat aus zu arbeiten. Nein, es steckt mehr dahinter, er profitiert irgendwie von seinem Äußeren." Der Gedanke an das vollkommen furchtlose Gebaren, mit dem er sich öffentlich in Szene gesetzt hatte, ließ mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterrieseln. Im Stillen verfluchte ich meine blöde Angewohnheit, Menschen zu beobachten. Glücklicherweise waren zwischen den nüchternen Gebäuden um mich herum nur noch normale Personen mit Aktentaschen und durchschnittlichem Aussehen unterwegs. Es war ja ganz witzig, ab und zu mal zwischen den Zeilen des täglichen menschlichen Versteckspiels zu lesen, aber diesmal hatte ich deutlich mehr erfahren, als ich wissen wollte. Für heute hatte ich wirklich genug davon. Gut, daß ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung davon hatte, wie sich der Tag weiterentwickeln würde. Die merkwürdige Begegnung auf der Promenade war nur der Auftakt zu dem, was noch auf mich zukommen sollte. Hätte ich den Hauch einer Idee gehabt, wäre ich auf der Stelle umgekehrt und schreiend zur Polizei gerannt, um doch noch den Sicherheitskräften beizutreten.

Der Eingangsbereich im Hauptquartier der "Harbour City News" war ganz von hellem, silbriggrauen Tageslicht erfüllt. Nach außen hin machte es mit seiner gläsernen Oberfläche zwar einen zugänglichen und transparenten Eindruck, doch es war nicht so, daß die Tür für jeden sperrangelweit offenstand. Niemand, weder Angestellte noch Besucher, konnte einfach so hier hineinspazieren. Nachdem ich meinen Daumen auf den Scanner an der Außenwand gelegt hatte, öffneten sich die Pforten des Hauses für mich, denn mein Termin mit dem Chefredakteur war im System erfasst. Im Innern sorgten kühle Farben von hellem Lichtblau bis zu dunklem Azur für eine sehr nüchterne Atmosphäre. Der Blickfang des Raumes war jedoch die Rezeption, ein langer Tresen aus einem wundervollen, dunklen Edelholz, an dem eine Empfangsdame mit sehr eleganter Hochsteckfrisur saß. Hinter ihr ragte eine strahlend weiße Wand bis zur hohen Decke hinauf. Ein teures Blumenarrangement mit Orchideen und grünem Blattwerk rundete den Eindruck von unantastbarer Perfektion ab. In der alles durchdringenden Lichtflut schienen sich die glasklaren Wände des Foyers endlos in die Höhe zu schrauben. Der Ort wirkte ebenso imposant wie einschüchternd auf Menschen, er ließ sie die Macht des Medienimperiums spüren, das man soeben betreten hatte. Mich ließ es gerade ziemlich kalt; nach der denkwürdigen Begegnung des heutigen Morgens war diese Umgebung nicht mehr als ein Hintergrundrauschen. Ich ließ den Empfang links liegen und ging zielstrebig auf die nächste Grenzlinie zu. Hier waren die Sicherheitsvorkehrungen wesentlich aufdringlicher gestaltet als in meinem Wohnhaus. Während die technischen Schutzvorrichtungen weitgehend unsichtbar blieben, waren sowohl am Eingang als auch bei der Schleuse aus poliertem Metall Wachleute postiert. Beim Durchqueren der Zutrittskontrolle überprüfte ein Mann in schwarzer Uniform mit implantierten Handdetektoren meinen Körper auf versteckten Sprengstoff, unerlaubte Ausrüstung, Krankheiten und was weiß ich sonst noch alles. Es ging alles sehr schnell, doch als ich endlich in den Fahrstuhl nach oben einstieg, kam es mir vor, als befände ich mich nun in einem Hochsicherheitstrakt. Genau genommen war das mehr als ein fixer Gedanke. Es entsprach der Wahrheit, denn in dieser Zentrale liefen jeden Tag Unmengen an Informationen zusammen, von denen viele so heiß waren, daß sie niemals nach außen dringen durften. Im dritten Jahrtausend waren Daten die wichtigste Währung überhaupt und hier wurden sie gehandelt, verarbeitet und für die Öffentlichkeit aufbereitet. Der Wert des Rohmaterials erforderte einfach gewisse Vorsichtsmaßnahmen. In dem luftigen Aufzug glitt ich lautlos an der Außenseite des riesigen Komplexes aus transparenter Materie empor. Um mich herum versorgte sich die Anlage pausenlos selbst mit Wärme und Frischluft wie ein eigenständiger Organismus. Im Vorbeifahren konnte ich auf den einzelnen Stockwerken Menschen an ihren Schreibtischen arbeiten sehen und auf jeder Etage den frischen Schimmer zahlreicher Grünpflanzen. Beinahe meinte ich, das Gebäude leise atmen hören zu können. Fast alle Bauwerke in diesem Teil der Stadt verfügten über eine solche autarke Energieversorgung. Als der Fahrstuhl anhielt, beglückwünschte ich mich dafür, in einer so fortschrittlichen Welt leben zu dürfen.

Oben angekommen, war mein Gehirn nur noch auf das vor mir liegende Treffen fokussiert. Alle Gedanken an rätselhafte Menschen mit tödlichem Blick und zerfurchter Haut blieben unten auf der Straße zurück. Auch der heimatliche Geruch meines alten Bekannten war längst aus meiner Wahrnehmung verschwunden. In der Chefetage bedeckte ein dicker, flauschiger Teppich von kühlem Lichtblau den Boden, der das Geräusch meiner Schritte verschluckte. Auf dem gläsernen Gang zum Hauptbüro fiel mir auf, daß die Wände in diesem Bereich anders aussahen als dort, wo ich normalerweise arbeitete. Nicht alle waren durchsichtig. Durchsetzt von feinen Partikeln versperrten manche davon vollständig die Sicht auf den dahinter liegenden Raum.

Um Punkt 8.14 Uhr, eine Minute vor dem vereinbarten Zeitpunkt, stand ich vor der undurchdringlich grauen Tür des Chefredakteurs. Einige Sekunden lang war nichts zu sehen oder zu hören, dann glitten die Scheiben lautlos auseinander, so daß ich eintreten konnte. "Beniko Kobayashi", stellte eine kalte Stimme aus der Mitte des Zimmers trocken fest. "Guten Morgen, nehmen Sie bitte Platz", fuhr sie in einem Tonfall fort, der die höflichen Worte an der Oberfläche Lügen strafte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich an dem länglichen Schreibtisch aus dunklem Kirschholz Platz nahm und ich brachte zunächst nicht mehr als ein stummes Nicken zustande. Dann bekam ich wieder ein wenig Luft: "Guten Tag, Herr Graf, ich danke Ihnen vielmals für diese besondere Gelegenheit, etwas schreiben zu dürfen." Er musterte mich aus schmalen, eisblauen Augen, die aus seinem asketischen Gesicht hervorstachen wie zwei grelle Blitze. Sein Haar war ungewöhnlich lang, glänzte in einem eleganten Grauton und wurde hinten von einer silbernen Spange zusammengehalten. Er überging meine sorgfältig gewählten Worte zunächst und musterte mich unverwandt von oben bis unten: "Sie sehen überhaupt nicht aus wie eine Japanerin", meinte er dann mit einem spöttischen Unterton. "Nun, ich...", hob ich zu einer Erklärung an, doch Herr Graf winkte mit einer knochigen Hand ab. "Es interessiert mich nicht wirklich, Ihre Familiengeschichte zu hören, Frau Kobayashi. Machen Sie sich bitte nichts vor, wenn es nach mir ginge, würden Sie hier bestimmt nicht sitzen. Erst seit neun Monaten bei uns im Hause in der Ausbildung und bilden sich tatsächlich ein, schon etwas Vernünftiges für die "Harbour City News" schreiben zu können, unglaublich." Trotz seiner schlanken Erscheinung verfügte Herr Graf über eine tiefe, durchdringende Stimme, die mich in meinem Stuhl buchstäblich zusammenschrumpfen ließ. Inzwischen traute ich mich nicht mehr, noch irgendeine weitere Bemerkung zu machen. "Aus mir unverständlichen Gründen", fuhr er sichtlich genervt fort, "wurde vor einigen Wochen Ihr Portfolio von ganz oben angefordert. Schließlich bat mich Frau Kassiopi höchstpersönlich darum, Ihnen eine bestimmte Aufgabe zu übergeben." Mit spitzen Fingern reichte er mir einen weißen USB-Stick über den Tisch. "Dieser Datenträger enthält detaillierte Informationen zu einer geplanten Lifestyle-Reportage für unser Magazin. Allerdings ist auch Frau Kassiopi bewußt, daß Sie als blutige Anfängerin mit einer solchen Verantwortung überfordert sind. Daher wird sie sich in einer Stunde mit Ihnen treffen und dafür sorgen, daß Sie auf Ihrem ersten Außeneinsatz nicht den Ruf der Zeitung beschädigen." Während ich die wesentlichen Teile seiner überheblichen Rede aufzunehmen versuchte, konnte ich mir ein genaueres Bild von meinem Boss machen. Alles in allem erinnerte er mich ganz stark an einen berühmten Designer aus der Vergangenheit, dessen Markenzeichen lange, weiße Haare gewesen waren. Das elitäre Verhalten der beiden ähnelte sich doch sehr und ich mußte trotz meiner prekären Situation ein Grinsen unterdrücken. "Lilian Kassiopi, der Name ist Ihnen doch hoffentlich ein Begriff?" fragte Herr Graf mit angehobenen Augenbrauen. Ich schüttelte stumm den Kopf, senkte die Lider und erwartete die nächste Beschimpfung. Statt dessen seufzte Monsieur nur resigniert: "Nun, das war zu erwarten, es bestätigt meinen Eindruck von Ihnen nur. Frau Kassiopi", erklärte er widerwillig, "ist die Tochter des Unternehmers Guillaume Kassiopi, ihm gehört eine Gruppe von Konzernen, zu denen auch diverse europäische Mediengesellschaften zählen. Ich lasse Sie das nur wissen, damit Ihre Unfähigkeit kein schlechtes Licht auf mich wirft..." Mitten in seinem Monolog sprang plötzlich eine Tür auf der Rückseite des Raumes auf und ein junger Mann stürmte auf uns zu. Völlig außer Atem rief er: "Chef, das müssen Sie sich ansehen, gerade haben wir die neuesten Bilder von unserem Satelliten über Afghanistan reingekriegt und Sie werden nicht glauben, was..." Blitzschnell fuhr sich Herr Graf mit der Handkante über die Kehle, dann brüllte er, daß die Wände wackelten: "Herrgott, Williams, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen oder was!? Wir sind hier nicht alleine, wie Sie sehen, und wenn Ihnen so ein Schwachsinn noch mal unterläuft, werfe ich Sie achtkantig raus! Und jetzt raus aus meinem Büro, aber schnell!" Nachdem der Mann, offensichtlich ein Techniker, hastig die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Herr Graf wieder mir zu. Glattzüngig sprach er weiter, als wäre nichts geschehen: "Wie auch immer, Sie haben da eine ganz unverdiente Chance erhalten, Beniko, die Ihnen vermutlich schneller das Genick brechen wird, als Sie gucken können. Meiner Meinung nach sind Sie noch lange nicht so weit, einen Artikel für uns zu verfassen. Frau Kassiopi trifft sich mit Ihnen um Viertel nach neun bei Starbucks an der Promenade. Einen schönen Tag, ich glaube nicht, daß wir uns noch einmal wiedersehen." Damit stand er von seinem Schreibtisch auf, deutete zum Ausgang und drehte sich zur Rückwand seines Büros um. Jedes weitere Wort wäre überflüssig gewesen, also machte ich mich wieder auf den langen Weg nach unten. Unterwegs dachte ich über den Vorfall mit dem Techniker nach. Zuerst fiel mir auf, wie gedrechselt sich Herr Graf auch in einem Moment des Zorns noch ausgedrückt hatte. Das sagte einiges über seine Persönlichkeit, vor allem aber darüber, warum er diesen Laden leitete. Sicher, es machte nur ein winziges Element seiner Qualifikation aus, doch er war offenbar ein Sprachfanatiker mit fast zwanghaften Neigungen. Was immer auch um ihn herum passierte, er konnte nicht aus seiner Haut. Ich machte mir eine innere Notiz dazu, für unser nächstes Treffen. Viel interessanter war jedoch die Tatsache, daß die "Harbour City News" anscheinend geheime Informationen über firmeneigene Satelliten bezog. Auf den oberen Etagen dieser Firma gingen Dinge vor, die auch jene getönten Scheiben erklärten, hinter denen nichts zu erkennen war.

Das Starbucks Café mit Blick aufs Wasser hatte ich schnell erreicht, da es nicht weit von meinem Arbeitsplatz entfernt lag. Den ganzen Weg dorthin war ich fast gerannt, um die Anspannung abzuschütteln, welche sich bei dem fürchterlichen Gespräch mit Herrn Graf in meinen Gliedern aufgebaut hatte. Als er mich in seinem Büro nach allen Regeln der Kunst abgefertigt hatte, war alle Nervosität unter einer Maske aus stillem Gehorsam verschwunden. Kaum, daß sich die Tür der glitzernden Medienzentrale hinter mir geschlossen hatte, brach meine Abschirmung jedoch zusammen. Noch vor wenigen Stunden war ich in freudiger Erwartung eines Abenteuers aus dem Haus gestürmt, nun stand mir ein Kampf ums Überleben bevor. Bis zum Treffen mit der mysteriösen Lilian Kassiopi blieben noch etwa zehn Minuten Zeit, mich wieder einzukriegen. Das Café verteilte sich auf zwei Stockwerke, doch in meinem seekranken Zustand schien es ratsam, unten zu bleiben. Auf wackeligen Beinen stakste ich zu einem runden Holztisch am Fenster und sackte dankbar auf dem Kunstlederstuhl davor zusammen. Es wäre unhöflich gewesen, mich hier vor dem Eintreffen meiner Verabredung mit einem Getränk breit zu machen, also legte ich mein ultraleichtes IBM Notebook auf die Tischplatte und schob den weißen Datenträger in einen freien Slot. Sofort vertiefte ich mich in die Informationen über drei hochinteressante Persönlichkeiten, die für meine Reportage befragt werden sollten. Nach ungefähr acht Minuten warf ich einen Blick in das Gewühl der Menschen im Café, damit mir die Ankunft von Frau Kassiopi nicht versehentlich entging. Ein buntes Gemisch aus Leuten saß an den anderen Tischen, viele davon natürlich in Anzug und Kravatte, überwiegend in dunklem Blau und meistens über eine Zeitung gebeugt. Ich schluckte, als mir klar wurde, daß es sich dabei größtenteils um die "Harbour City News" handelte, dem Blatt, für das ich bald wohl nicht mehr arbeiten würde. Vor sich einen Becher mit schaumbedecktem Kaffee, ließen sie ihre neutralen Mienen über die Papierseiten wandern. Andere wiederum hingen schon die ganze Zeit am Telefon, während sie einen überdimensionalen Latte oder seltsam riechenden Chai Tee in sich hinein kippten, als ginge es um ihr Leben. Ein großer, breitschultriger Mann in einem langen, schwarzen Trenchcoat quetschte sich gerade durch den engen Gang zwischen Theke und Stühlen, doch Lilian Kassiopi konnte ich unter dem durchschnittlichen Publikum nicht ausmachen. Auf ihre Weise wirkten die Menschen an diesem Ort alle abwesend, kommunizierten mit Personen, die sich ganz woanders befanden oder verschanzten sich hinter ihrer Lektüre. Manche starrten mit leerem Ausdruck ins Nichts, andere plauderten mit Tischnachbarn vor sich hin, während die Gedanken offensichtlich abschweiften. Über allem lag der betäubende Geruch von Kaffeebohnen, den ich auf einmal kaum noch ertragen konnte.

Dann öffnete sich die Eingangstür wieder und ich wußte sofort, daß die hereinkommende Person Lilian sein mußte. Sie blieb nach wenigen Schritten unvermittelt stehen und hob sich überdeutlich vom Mittelmaß aller Anwesenden ab. Ihre wachen Augen blieben schnell an mir hängen, der Mund verzog sich zu einem freundlichen Lächeln. Lilian kam an meinen Tisch, warf eine braune Ledertasche auf die Sitzbank am Fenster und streckte mir die Hand entgegen. "Hallo, ich bin Lilian Kassiopi und du mußt Beniko sein", sagte sie recht formlos, um dann hinzuzufügen: "Wie ich sehe, hast du noch gar nichts getrunken, aber wir brauchen doch dringend einen Kaffee für unser Gespräch, n'est ce pas?" Von dieser warmherzigen Begrüßung war ich so überrascht, daß mir kurz die Stimme versagte, aber schließlich brachte ich krächzend hervor: "Keinen Kaffee mehr bitte, den kann ich nicht trinken." - "Oh, nun es steht dir auch förmlich ins Gesicht geschrieben, diese Blässe sieht gar nicht gesund aus. Sie haben hier einen speziellen Tee, der müßte helfen", erwiderte Lilian. Ein kurzer Wortwechsel mit dem Angestellten am Tresen folgte. Wenig später stellte man eine große Schale Milchkaffee und ein Glas auf unseren Tisch, in dem sich zur Hälfte heißes Wasser befand. Darunter schwebte eine leuchtend grüne Substanz, die wie konzentriertes Chlorophyll aussah. Langsam wirbelte sie durch das ganze Gefäß, bis Lilian meinte: "So, jetzt müßte es trinkbar sein." Schon nach den ersten Schlucken begann mein Geist sich zu klären und mein Magen entkrampfte fühlbar. "Nichts gegen Koffein", erklärte Lilian, als mein Gesicht allmählich Farbe zurückgewann, "aber man sollte es doch besser in Maßen genießen." Trotz der vornehmen Ausdrucksweise wirkten ihre Worte weder spöttisch noch hintergründig. Ich kam mir vor wie ein dummes Kind, das literweise Spülwasser getrunken hatte. Lilian hingegen machte einen überaus erwachsenen Eindruck auf mich. Ihre langen, schwarzen Locken waren gebändigt und streng nach hinten gebunden worden. Der Teint des dezent geschminkten Gesichts war um viele Nuancen dunkler als meiner, was darauf hindeutete, daß sie eher aus den südlichen Breiten der Welt stammen mußte. Der halblange, ockerfarbene Mantel, ein elegantes Wickeltop aus Kaschmir und die perfekt geschnittene Stoffhose ließen meine Alltagskleidung wie wild zusammengewürfelte Lumpen aussehen. Lilian rückte sich auf der Bank in eine sehr aufrechte Position, bevor sie im sachlichen Tonfall weiter sprach: "So, nun sollten wir zum Geschäftlichen kommen, denn wir müssen noch heute alle drei Interviewpartner aufsuchen, die auf deiner Liste stehen. Offenbar hast du schon ihre Profile studiert und kannst mir demnach sagen, um welchen Lifestyle-Aspekt sich die Reportage dreht?" Der plötzliche Wechsel in Lilians Gangart und das merkwürdige, grüne Getränk brachten mich schlagartig wieder auf Zack. Innerlich sagte ich der abwertenden Beurteilung meines Chefs den Kampf an. "Nun, die Personen auf der Liste haben alle eines gemeinsam: Sie leben auf Hausbooten, die im Moment an drei verschiedenen Adressen in den Gewässern von Hamburg vor Anker liegen. Daher geht es sicherlich darum, von ihnen etwas über das Wohnen auf dem Wasser zu erfahren." - "Richtig, die "Harbour City News" will eine ganze Reihe von Berichten über das facettenreiche Leben in der Metropolregion bringen. Da die Stadt seit langem als "Venedig des Nordens" gilt, liegt es recht nahe, mit dem Thema Wasser anzufangen. Die drei Leute, mit denen du heute sprechen wirst, kennzeichnen sich durch sehr verschiedene und besonders interessante Hintergründe, danach habe ich sie ausgewählt. Aber genug zur Theorie, die erste Kandidatin liegt mit ihrem Schiff auf einem großen Kanal in Barmbek, also müssen wir ein Stück weit fahren. Hast du noch irgendwelche Fragen, bevor wir aufbrechen?" - "Naja", murmelte ich etwas befangen, "vielleicht ist die Frage unpassend, aber wie komme ich eigentlich zu der Ehre, diesen Artikel schreiben zu dürfen, Frau Kassiopi?" - "Lilian, bitte. Und... diese Entscheidung habe ich getroffen. Ich bin dafür zuständig, die Inhalte aller Magazine unserer Mediengruppe zu koordinieren und bei der Suche nach einer frischen Feder fiel mir dein Profil in die Hände. Das Portfolio ließ vermuten, daß du über eine präzise Beobachtungsgabe verfügst, was für diese Aufgabe eine gute Voraussetzung ist und hier sind wir nun." Ich räusperte mich unbehaglich, bevor ich zu bedenken gab: "Heute morgen hat mir der Chefredakteur in seinem Büro deutlich zu verstehen gegeben, er würde mich für absolut unfähig halten. Er schien ziemlich wütend darüber zu sein, daß ich überhaupt etwas für die "News" schreiben soll. Ich habe den Eindruck, er wird mich bei der ersten Gelegenheit rausschmeißen." Zu meiner Überraschung warf Lilian den Kopf zurück und ließ ein lautes Lachen hören. "Na, dann hast du deine journalistische Feuertaufe ja schon erlebt", stieß sie schließlich hervor. "Jedenfalls klingt es für mich ganz nach dem klassischen ersten Zusammenstoß. Wußtest du nicht, daß es in diesem Gewerbe dazu gehört, erstmal in Grund und Boden gestampft zu werden? Ich wäre geradezu enttäuscht gewesen, wenn Herr Graf dich mit offenen Armen empfangen hätte. Aber wenn du wirklich Angst hast, er könnte dich feuern, dann mußt du ihm eben den gebührenden Widerstand entgegensetzen." Ihre leichtherzige Reaktion befremdete mich, denn ich konnte absolut nichts Komisches an der Situation finden. Bedrückt schaute ich mich im Café um und bemerkte, daß die anderen Besucher merkwürdig weit weg zu sein schienen. Seit das Gespräch mit Lilian begonnen hatte, waren sie irgendwie verstummt. Es kam mir vor, als säßen wir völlig allein an diesem kleinen, runden Tisch, irgendwo im Universum. Als Lilian wieder anhob zu sprechen, floß ihre warme Stimme dick und süß durch die Luft, wie flüssiger Honig. Der hypnotische, sinnliche Klang fesselte meine Aufmerksamkeit, legte sich über meine zerrütteten Nerven wie Balsam. "Außerdem", meinte sie lakonisch, "mag Herr Graf es einfach nicht, wenn sich jemand in seinen Kompetenzbereich einmischt, aber das ist sein Problem." Lilian löste sich aus ihrer geraden Haltung und kramte in ihrer Ledertasche herum.

"Zu dem ersten Treffen werde ich dich begleiten, um deine Arbeit zu überwachen, danach habe ich einen wichtigen Termin. Du wirst also den zweiten Besuch allein erledigen müssen. Von dort hole ich dich später wieder ab, damit wir gemeinsam zum letzten Boot fahren können. Wir nehmen mein Auto, unterwegs hast du dann Zeit, dir die Informationen zu den einzelnen Personen noch einmal durchzulesen." Mit diesem Worten war Lilian bereits von ihrem Platz aufgesprungen, dann schien ihr etwas einzufallen. "Ach ja, ehe ich es vergesse...", sie entnahm ihrer Handtasche eine durchsichtige Plastikdose, "du mußt etwas essen, sonst nimmt der Tag ein unrühmliches Ende im Krankenhaus." Damit reichte sie mir das Gefäß, in dem zwei große, weiße Kugeln lagen, die aussahen wie chinesische Brötchen. Da fiel mir siedend heiß ein, daß ich tatsächlich nichts gefrühstückt hatte und ich biss noch im Laufen in eines der weichen Teile. Es schmeckte überraschend gut nach einer undefinierbaren Mischung aus süßem Reis und grünem Gemüse. Die Füllung kam mir zwar fremdartig vor, doch wie schon vorhin der Tee, so hatte auch dieses Nahrungsmittel einen unglaublich wohltuenden Effekt auf meinen Körper. "Meine Güte, was ist das, so etwas habe ich noch nie gegessen!?", entfuhr es mir, als Lilian das feurig rote Auto aus einer Parklücke manövrierte. "Oh, diese Kost enthält ganz spezielle Zutaten, die nicht für jeden zugänglich sind", erwiderte sie geheimnisvoll. "Überaus gesund, aber schwer zu bekommen. Das ist mehr als ein einfaches Essen, du wirst es schon merken... Vielleicht erfährst du später mehr über diese Dinge." Darauf ließ sie es beruhen und während der restlichen Fahrt versenkte ich mich so tief in den Lebenslauf der Bootsbewohner, daß ich erst wieder aufsah, als wir schließlich an einem breiten Kanal zum Stehen kamen. Am Himmel über uns hatten sich die Wolken noch dichter zusammengezogen und tauchten das trübe Wasser in ein dämmriges Licht. An den Ufern dümpelten braune Blätter auf der Oberfläche herum, hier und da schwammen einige grüne Pflanzen im schlammigen Naß. Als wir ausstiegen, scheuchten unsere Bewegungen ein paar Enten auf, die sich quakend über die Störung beschwerten. Dann sah ich das Schiff an einem hölzernen Steg vor uns liegen und war ehrlich verblüfft. Ich hatte ja keine Ahnung von Seefahrt, aber das Gefährt wirkte auf mich gar nicht wie ein gemütliches, träges Hausboot. Es sah ausgesprochen robust aus, eine zweckmäßige, olivgrüne Verkleidung machte den Rumpf widerstandsfähig gegen Wind und Wetter. Das Deck war penibel aufgeräumt, nur einige größere Geräte standen auf den sauberen Planken, fest angebunden mit dicken Seilen. "Sieht aus, als könnte man damit sogar zur See fahren...", staunte ich, während wir auf den Steg zu gingen. "Mach dich auf das Unerwartete gefasst, wenn du es mit Freigeistern zu tun bekommst", entgegnete Lilian. "Es ist eben einer der großen Vorzüge für Wissenschaftler, daß so ein Boot sie nicht zwingt, an einem einzigen Ort festzusitzen. Sie leben ohnehin für ihre Arbeit, warum also nicht gleich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?" Mittlerweile standen wir auf den Brettern, die das Deck mit dem Land verbanden, aber noch immer war niemand aufgetaucht, um uns zu begrüßen. "Also, bevor wir dort hineingehen, noch ein wichtiger Hinweis", sagte Lilian. "Die Daten und Fakten über diesen Menschen hast du bereits im Computer stehen. Ich möchte, daß du darauf achtest, so viel wie möglich darüber zu erfahren, was nicht im Profil steht. Verwickle sie in ein Gespräch, gib ihr Raum, über ihre Träume und Wünsche zu reden, darüber, was sie dazu veranlasst hat, auf genau diesem Schiff zu leben. Gut, auf geht's, die Dame sollte uns eigentlich längst bemerkt haben, Kameras gibt es hier ja genug. Sie wird uns wohl nicht erschießen, wenn wir die Klingel betätigen."

Auf einem kleinen Metallschild neben dem Eingang zur Kabine stand der Name der Besitzerin: Dr. Maria Fischer, dipl. Hydrologin. Erst nach mehrmaligem Klingeln ertönten von drinnen Schritte, dann öffnete sich die Tür und eine unwirsch dreinblickende Frau starrte uns mit zusammengekniffenen Augen an. Geblendet vom hellen Tageslicht fragte sie: "Was wollen Sie hier? Ich möchte bei meiner Arbeit nicht gestört werden." Sie trug rote Schutzhandschuhe an den Händen, etwas zu große Jeans an den schlanken Beinen und ein simples, weißes T-Shirt mit einem stilisierten blauen Wal über der rechten Brust. Dr. Fischer war dünn, beinahe hager, wirkte aber zäh wie altes Leder. Aus ihrem von der Sonne gebräunten Gesicht ließen sich die vielen Stunden ablesen, die sie an der frischen Luft verbrachte. Die grünen Augen sahen uns weiterhin irritiert an, als wären wir ungebetene Poltergeister, während sie auf eine Antwort wartete. "Guten Tag, Frau Fischer, wir kommen von der "Harbour City News" und tatsächlich haben wir heute einen Interviewtermin mit Ihnen", sprang Lilian ein, als ich keinen Ton herausbrachte. Wieder fiel mir der melodiöse Klang ihrer Worte auf, der seine Wirkung auch bei der genervten Wissenschaftlerin nicht verfehlte. Man konnte sehen, wie sie im Geiste eine Checkliste durchging, dann kam sie wohl zu dem Schluß, daß es diesen Termin wirklich gab. "Tut mir Leid", sagte sie knapp, "diese Verabredung ist mir völlig entfallen, also müssen Sie damit vorlieb nehmen, daß ich Ihre Fragen während der Arbeit beantworte. Mir fehlt nämlich bei all den Gutachten die Zeit, um mit Ihnen Kaffee zu trinken." Bei dem Wort "Kaffee" zog sich mein Magen unwillkürlich zusammen. Plötzlich schien sich ein Pfad vor mir aufzutun und als wir Frau Fischer unter Deck folgten, fand ich endlich meine Sprache wieder und wagte einen Vorstoß: "Welche Art von Gutachten erstellen Sie hier, Frau Fischer?", fragte ich den Rücken vor meiner Nase. Auf den Stufen der kurzen Metalltreppe konnten wir nur hintereinander gehen. "Wie Sie wissen, bin ich studierte Hydrologin, außerdem Spezialistin für ökologische Chemie, wollte mich aber nicht in einem sterilen Labor festketten lassen. Also habe ich mich selbstständig gemacht und überprüfe nun regelmäßig die Qualität des Wassers in urbanen Räumen." Die Antwort war kurz und bündig, aber ich spürte, daß eine Geschichte dahinter steckte, also fragte ich unverdrossen weiter. "Warum ist es besser, die Ergebnisse hier auszuwerten als in einem voll ausgerüsteten... oh Mann!" Gerade hatte ich nach der technischen Ausrüstung an Bord fragen wollen, da tat sich vor uns das Innenleben des Schiffes auf. Im hinteren Bereich hingen mehrere flache Bildschirme von der Decke, auf denen sich im geheimnisvollen Grün des Unterwasserreichs zahlreiche kleine Lebewesen tummelten. "Aufnahmen, die ich mit meinen Spezialkameras gemacht habe", kommentierte Dr. Fischer meinen Blick. "Es ist sowas wie ein Hobby von mir, kleine Dokumentationen über das zu drehen, was am Grund unserer Flüsse oder im Meer noch vom Leben übrig geblieben ist." Ihre Worte klangen jetzt bitter und ich nahm mir vor, in dieser Richtung später noch einmal nachzuhaken. "Was das Labor angeht, so habe ich hier unten alles, was nötig ist, wie Sie sehen", fuhr sie unvermittelt fort, wandte sich einer Reihe von hell beleuchteten Reagenzgläsern zu und meinte: "In diesen Gläsern untersuche ich die heutigen Proben auf bestimmte Giftstoffe und so weiter, dann werte ich die Ergebnisse abends am Rechner aus." Ich ließ meine Augen durch den abgedunkelten Raum wandern. Überall standen aktive Monitore, blinkende Kontrollvorrichtungen und komplizierte Instrumente. Auf einmal fühlte ich mich wie in einem Film über Unterwasserexpeditionen an Bord eines U-Bootes. Dies war eine ganz eigene Welt, weit weg von den profanen Bürokomplexen der Stadt. Dr. Fischer schien den abrupten Wechsel meines Gemütszustandes bemerkt zu haben, denn plötzlich stand sie dicht hinter mir und raunte in mein Ohr: "20.000 Meilen unter dem Meer, wo jeden Tag neue Wunder vor dem Fenster auftauchen und es möglich ist, von einer besseren Welt zu träumen, da ist mein eigentliches Zuhause. Diese profitgeilen Idioten an der Oberfläche verstehen nichts davon, deshalb bin ich hier, wo sie mich wenigstens in Ruhe lassen", fügte die Wissenschaftlerin wütend hinzu. Ich drehte mich zu Lilian um, die mit einem leisen Lächeln in einer Ecke stand und dem Gespräch lauschte. Jetzt wußte ich, was sie damit gemeint hatte, daß die nüchternen Daten für diese Reportage kaum von Belang seien. Dr. Fischer beugte sich inzwischen über ein riesenhaftes Mikroskop, wodurch sie mit gerunzelter Stirn auf einen gläsernen Objektträger schaute. Nach mehreren Minuten nachdenklichen Schweigens sah sie von den Kleinstlebewesen im Wassertropfen auf. Das zusammengebundene, glatte Haar fiel in einer dicken Strähne über ihre Schulter und nahm für einen Augenblick die Härte aus dem bejahrten Gesicht. Jetzt erst fiel mir auf, daß es schon grau war, mit einem eisernen Hauch überzogen, aber ganz anders als das künstliche, eitle Silber auf dem Haupt meines Chefs. Über die hohen Wangenknochen zog sich ein feines Netz aus zarten Knitterfalten, doch in den grünen Augen leuchtete das Leben. Schnell überschlug ich in Gedanken die Jahreszahlen aus ihrem Profil. Maria kam aus einer völlig anderen Generation, trug seltsames Gedankengut mit sich herum und sprach über Dinge, die mir absolut fremd waren. Jedenfalls nahm sie wirklich kein Blatt vor den Mund, was ihre Ansichten über die moderne Welt betraf. "Woher kommt diese Wut auf den Fortschritt, warum hängt sie so sehr einer Fantasie aus der Vergangenheit nach?", fragte ich mich im Stillen. "Wissen Ihre Arbeitgeber, was Sie von ihnen halten?" Diese Frage führte mich auf gefährlich dünnes Eis und konnte sogar zum Rausschmiß führen. Allerdings war ich noch nie zuvor mit einer Aussage konfrontiert worden, wie Maria sie gerade von sich gegeben hatte, daher konnte ich nicht an mich halten. "Sie wissen es genau", antwortete die Wissenschaftlerin ruhig "und es kümmert niemanden, was ich persönlich denke, solange die Untersuchungen präzise durchgeführt werden. Darin bin ich, nebenbei bemerkt, ausgesprochen gut. Schließlich ist es ja nur eine unbedeutende Meinung, nicht besonders populär. Den hohen Tieren in der Regierung ist es egal, denn meine wilden Zeiten sind längst vorbei. Früher, da habe ich ihre Labore in Brand gesteckt, auf hoher See gegen Walfangschiffe gekämpft und laut gegen all das Unrecht protestiert, für das sie verantwortlich sind... aber das war einmal", brach sie plötzlich ab. "Nein, heute müssen sie sich nicht mehr vor meinen "terroristischen Gewaltakten" fürchten, der Widerstand ist gebrochen, das genügt ihnen vollkommen", fügte sie mit beißendem Zynismus hinzu. Lilian ließ einen Moment vergehen, ehe sie fragte: "Dr. Fischer, ich sehe, daß die Archivaufnahmen von ihrem schönen Schiff doch ziemlich veraltet sind. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich noch einige Fotos für unseren Artikel schieße? Schließlich ist das hier so etwas wie eine "Homestory" über besonders einfallsreiches, kreatives Wohnen und da liegen Sie mit Ihrem Boot ganz weit vorne, würde ich sagen", schmeichelte sie in einem unwiderstehlichen Singsang. "Oh, natürlich, tun Sie sich keinen Zwang an, schließlich habe ich nichts zu verbergen, nicht wahr?", gab Dr. Fischer halb scherzhaft zurück. "Wissen Sie was, ich denke, eine kleine Führung durch mein Domizil kann wohl nicht schaden", meinte sie dann und zeigte uns zunächst ihr penibel aufgeräumtes, aber gemütliches Schlaflager in der oberen Kabine. Die nächsten Stunden verbrachten wir damit, das Deck zu besichtigen, wo die Wissenschaftlerin mit glühender Begeisterung all die Spezialgeräte erklärte, die uns schon vom Land aus aufgefallen waren. Ich war erstaunt, wieviel militärische Ausrüstung sich in dem alten Kahn verbarg. Radar, Aufklärungsdrohnen und Tiefseeroboter gaben sich hier die Klinke in die Hand. Am Ende zeigte die Hydrologin uns sogar noch ihr wundervolles Tauchboot, das mit allen technischen Spielereien ausgestattet war. Über diese Führung vergaß ich komplett die Zeit, bis Lilian zu verstehen gab, daß wir nun aufbrechen mußten. Offensichtlich hatte Dr. Maria Fischer mittlerweile doch Spaß an unserer Gesellschaft gefunden, denn sie wollte gar nicht mehr aufhören, zu reden. Mit viel Fingerspitzgefühl zogen Lilian und ich uns zurück, bis wir schließlich wieder auf dem festen Boden des Stegs standen. Frau Fischer lehnte mit einem versonnenen Ausdruck an der olivgrünen Reling ihres Bootes, von wo sie träumerisch in die Ferne blickte: "Als kleines Mädchen habe ich mir immer ausgemalt, eines Tages mit einem Schiff wie diesem aufs weite Meer hinaus zu fahren, fremde Küsten zu entdecken und mich niemals wieder umzuschauen. Wissen Sie, Beniko", dabei sah sie mich so eindringlich an, daß mir ein unruhiges Prickeln über den Rücken lief, "irgendwo hinter dem Horizont gibt es sie noch, die große Freiheit. Man muß nur mutig genug sein, die Grenzen zu überschreiten." Es schien, als ob hinter diesen orakelhaften Worten der alten Frau eine Wahrheit verborgen lag, die jene Saite in mir zum Klingen brachte, auf der auch mein alter Bekannter zu spielen pflegte. Dann war der Moment verflogen und Maria winkte uns lachend hinterher: "Wenn ich eines Tages nicht mehr aufzufinden sein sollte, dann wissen Sie ja, wo ich bin!", rief sie vergnügt und verschwand in die Dunkelheit ihres eigenen Reiches unter Deck.

Lilian hatte es jetzt sehr eilig, zu ihrem Termin zu kommen, weshalb wir vorerst nicht weiter über das Erlebte sprachen. Für mich war die kurze Fahrt zur nächsten U-Bahnstation eine willkommene Gelegenheit, wenigstens einen Teil der Eindrücke von diesem Zusammentreffen zu verarbeiten. Das dichte Wolkenmeer am Himmel hatte sich während unseres Aufenthaltes an Bord zu einem fahlen, nebelhaften Schleier verdünnt, der jedoch keine Sonne hindurch ließ. Unter dem halbseidenen Grau trug ein leichter Wind herbstliche Feuchtigkeit heran, strich durch die Bäume am Straßenrand und wirbelte loses Blattwerk von den Gehwegen auf. Das Wetter kam mir vor wie eine Manifestation meiner Überlegungen, denn in meinem Kopf flogen die Gedanken wild durcheinander. In dem Gespräch mit Dr. Fischer waren Worte wie "kämpfen" und "Widerstand" gefallen. Es war die Rede von zerstörten Lebensräumen im Meer gewesen. Natürlich waren solche Begriffe mir nicht fremd, als hypothetische Konstrukte. Ich kannte die Geschichten von blutigen Auseinandersetzungen und Hungeraufständen, die zu Beginn dieses Jahrtausends die Welt an den Rand des Abgrunds getrieben hatten. Nach wie vor gab es wohl viele Menschen, die unter schwierigen Bedingungen leben mußten, aber alles in allem hatte das neue System doch einen Status quo hervorgebracht, der besser war als Krieg. Wer dumm genug war zu glauben, er könnte die Gesellschaft neu erfinden, der sollte erstmal eine attraktivere Lösung für all die Probleme aus dem Hut ziehen, so war es doch, oder etwa nicht? Ich war nicht blöd, wußte genau, daß ich am privilegierten Ende der Gemeinschaft lebte, doch diese Unterschiede hatte es schon immer gegeben. Jedenfalls gefiel mir mein Dasein. Bislang hatte ich nie einen Grund gesehen, die herrschenden Verhältnisse in Zweifel zu ziehen. Erst die heißblütigen Bekundungen der Hydrologin brachten mich für einen Moment dazu, Kampf als ein echtes Gefühl wahrzunehmen. Ganz kurz war das Blut in meinen Adern schneller geflossen, hatte meine Haut erhitzt und in meinem Gehirn Bilder von toten Walen heraufbeschworen. Diese starken Empfindungen waren physischer Natur gewesen, so wirklich wie der Boden unter meinen Füßen. Noch nie zuvor war ich jemandem begegnet, der tatsächlich mit Leib und Leben für seine Überzeugungen eingetreten war. Ihr Zorn hatte mich regelrecht in einen Bann geschlagen, den ich auch jetzt nicht richtig abzuschütteln vermochte. Das kleine, rote Auto glitt lautlos über den Asphalt, während draußen der klamme Wind in die Zweige der Bäume griff. Ich versuchte, mich gegen jene fremden Empfindungen zu wehren, die durch das Interview in meine Welt eingedrungen waren, aber sie tobten in meinem Innern wie chaotische kleine Blitze und gaben keine Ruhe. Plötzlich erschien mir der Raum im Fahrzeug viel zu eng, als müßte ich gleich explodieren. In diesem Augenblick bog Lilian um eine Ecke. Dort hielt sie an, um mich bei einer Bahnstation rauszulassen. Dankbar sprang ich aus dem Auto, raffte mein Zeug zusammen und sah sie erleichtert davonfahren. Ein bißchen Zeit für mich alleine, das war es, was ich jetzt brauchte. Im Zug würde man mich mit meinen Gedanken in Ruhe lassen, damit ich mich wieder sammeln konnte. Doch kaum dort angekommen, begann eine andere Sache an mir zu nagen, die Frau Fischer gesagt hatte: "Irgendwo hinter dem Horizont gibt es sie noch, die große Freiheit...". Wovon zum Teufel hatte sie da gesprochen? Meinte die verrückte Alte etwa ein Traumgebilde, wie mein Hirngespinst von heute morgen, in dem das Zwielicht mir weismachte, es gäbe eine Welt jenseits meiner Realität? Wo sollten diese Grenzen zu finden sein, die man mutig überschreiten könnte und wenn ich sie fand, wollte ich wirklich wissen, was dahinter lag? War denn die Welt, in der ich lebte, nicht gut genug? Fragen über Fragen kreisten in meinem Kopf wie ein mächtiger Strudel im Fluß des Seins. "Jetzt ist es aber genug!", schalt ich mich, als mir klar wurde, daß die eigenartigen Ideen an meinem Weltbild nagten wie gefräßige Ratten an einem Stück Käse. Dennoch konnte ich nicht umhin, darüber nachzudenken, ob das alles nur ein Zufall war. Schon bei unserem ersten Gespräch hatte Lilian mir keine genaue Auskunft darüber erteilt, warum sie zum Schreiben der Reportage ausgerechnet mich auswählte. Im Neonlicht des U-Bahn Abteils erwachte eine unterschwellige Paranoia in mir und schlug seltsame Kapriolen. Wahrscheinlich lag es an dem geheimnisvollen Flair des heraufziehenden Herbstwetters, aber irgendwie war mir der ganze Tag schon vorgekommen wie eine Reise ins Ungewisse. "Unter Umständen", sagte ich mir, "lag es sogar in Lilians Absicht, mich all den merkwürdigen Einflüssen auszusetzen. Weshalb bringt sie mich mit Leuten zusammen, die eine so zweifelhafte Vergangenheit haben? Welche Gründe mag sie für ihr Handeln haben und kann es wirklich ein Zufall sein, daß ausgerechnet heute nacht mein alter Bekannter wieder aufgetaucht ist?" Bevor das Mißtrauen gegen Lilian sich weiter auswachsen konnte, konterte der analytische Teil meines Ichs: "Ja klar, und Selbstgespräche sind das erste Anzeichen von Wahnsinn, egal ob laut oder leise. Du solltest wirklich darauf achten, daß deine emphatische Veranlagung dich nicht völlig aus der Bahn wirft. Jetzt mach mal halblang und steig wenigstens rechtzeitig aus, damit dir der nächste Termin nicht durch die Lappen geht!"

Nichts hätte mich besser wieder auf den Teppich bringen können als die Begegnung mit dem zweiten Hausbootbewohner. Es handelte sich um einen russischen Millionär, der aus Moskau stammte, wo er sein Vermögen mit Erdgas gemacht hatte. Unter anderem gehörten ihm Anteile an der Exportfirma Gazprom und die Nord-Stream Pipeline in der Ostsee war sein geistiges Kind. Roman Orlow verfügte über einen klangvollen Namen, aber der war leider auch schon das einzig Kultivierte an diesem Menschen. In meiner Studienzeit hatte ich eine gute Freundin aus Rußland gehabt, die nach unserer Ausbildung leider fortgegangen war, um in London zu arbeiten. Sie und ihr Freund waren unglaublich warmherzige Menschen gewesen, in deren Wohnung ich unzählige Stunden bei Tee und Kuchen verbracht hatte. Beide beherrschten gleich mehrere Sprachen perfekt und hatten mir auf sehr charmante Weise die angenehmen Seiten der russischen Kultur gezeigt.

Bei Roman Orlow war von dieser Gastfreundschaft nicht das Geringste zu spüren. Sein Domizil war ein hochmodernes Haus auf dem Wasser, eine kühle Konstruktion aus Stahl und Glas. Ich saß im bleichen Licht des späten Nachmittags auf einem unbequemen Lederkissen, während Herr Orlow ruhelos vor mir auf und ab tigerte. Ein Bediensteter trug mehrere Teller mit teuren Delikatessen wie Beluga Kaviar auf und es kostete mich alle Überwindung, ein wenig von dem Zeug hinunterzuwürgen. Der Tee aus einem silbernen Samowar wurde in exquisitem Porzellan serviert, das ich nur mit gespreiztem Finger anzufassen wagte, doch der Hausherr rührte nichts von alldem an. Statt mit mir zu trinken, wanderte er in seinem maßgeschneiderten Armani-Anzug umher und langweilte mich mit den einzelnen Stationen seiner Erfolgsstory zu Tode. Penibel zählte er eine endlose Reihe von Dingen auf, die ihn dorthin gebracht hatten, wo er heute war. Es fiel mir äußerst schwer, mich auf seine Worte zu konzentrieren, wobei mein Blick ständig durch die bodentiefen Fenster nach draußen schweifte. Schwache Lichtspiegelungen tanzten auf den Wellen ringsumher und der Boden des kantigen Glaswürfels schwankte leicht über dem Wasser der Binnenalster, wo Orlow sein schwimmendes Luxusapartment geparkt hatte... "und wenn man bedenkt, wie geschmacklos die Gebäude in Deutschland gebaut sind, dann liegt es ja auf der Hand, warum ich mich dagegen entschieden habe, hier eine feste Immobilie zu erwerben", stellte Orlow gerade in einem blasierten Tonfall fest. Ich schreckte aus meiner Abwesenheit auf und bemühte mich, in den folgenden Minuten ein paar brauchbare Anhaltspunkte für meinen Bericht aus der Umgebung herauszufiltern. Weder die offenkundige Abneigung des Millionärs gegen dieses Land noch seine langatmige Karrierebeschreibung eigneten sich dafür, aber schließlich ließ er sich dazu herab, mir einige Kunstwerke seiner privaten Sammlung zu erläutern. Beinahe durchsichtige, abstrakte Skulpturen bevölkerten das großzügige Wohnzimmer. Da es draußen langsam dunkler wurde, erglühten in dem speziellen Material nach und nach zahlreiche, organische Lichteffekte, die an tanzende Glühwürmchen erinnerten. An den wenigen blickdichten Wandabschnitten hingen einige großformatige, nichtssagende Bilder und ich vertrieb mir die Zeit damit, die Namen der Maler aufzunehmen. Um es kurz zu machen, am Ende der Führung landeten wir im Schlafzimmer von Herrn Orlow. Inzwischen glaubte er wohl, mich genügend beeindruckt zu haben und offenbar gefiel ich ihm recht gut. Seine Blicke blieben immer länger an meinem schlanken Körper hängen. Als seine Kommentare unangenehm anzüglich wurden, gab ich ihm zu verstehen, daß unser Interview nun beendet sei, bedankte mich für den angenehmen Nachmittag und verließ hastig den fabrikneuen Glaskasten.

Wieder auf festem Boden angekommen, fühlte ich mich wie nach einer langen Wanderung durch sengende Hitze. Das Treffen mit Herrn Orlow war so staubtrocken gewesen, daß ich beinahe versucht hätte, die Langeweile wie feinen Sand aus meiner Kleidung zu klopfen. Erst seine plumpe Anmache hatte mich leicht aus dem Tritt gebracht und hart auf dem Boden der Tatsachen landen lassen. Die Realität war doch nicht mehr als eine Aneinanderreihung ziemlich vorhersehbarer Ereignisse und Verhaltensweisen. Langsam wanderte ich ein paar Schritte am betonierten Ufer entlang, hinein in die blaue Stunde der Abenddämmerung. Mit jedem Schritt breitete sich die Ernüchterung in mir aus, nach der ich im Zug so vergeblich gesucht hatte. Meine wilden Spekulationen von vorhin wirkten im Lichte der letzten Stunden doch eher lächerlich. Vermutlich war ich es selbst, die hinter den Worten von Dr. Fischer eine geheime Bedeutung suchte. "Herrje, ein paar stürmische Erinnerungen und zwei, drei vage Andeutungen reichen schon, damit du Gespenster siehst! Für eine Journalistin ist es wirklich peinlich, sich so leicht von einigen seltsamen Gestalten beeinflussen zu lassen. Kaum begegnen dir mal ein paar ungewöhnliche Leute, da bildest du dir schon ein, in eine finstere Verschwörung verstrickt zu sein", schimpfte mein Verstand. Erleichtert atmete ich auf, als mir klar wurde, daß dies bloß ein langer, anstrengender Arbeitstag bleiben und sich bestimmt nicht als Reise ins Ungewisse entpuppen würde.

Zehn Sekunden später tauchte auch schon Lilians roter Wagen aus dem Halbdunkel auf. Sie hielt am Straßenrand, öffnete die Beifahrertür von innen und ich fiel dankbar auf den bequemen Ledersitz neben ihr. Erst hier, im Innern des Fahrzeugs, fiel mir auf, wie stark die Temperaturen draußen in den letzten Stunden gefallen sein mußten. Sofort hüllte mich eine angenehme Wärme von den Füßen bis zu den Fingerspitzen ein. Ich seufzte leise, als der kühle Film auf meiner Haut langsam zu tauen begann. Obwohl die neu gewonnene Nüchternheit meinen Geist beflügelte, machte sich bei mir langsam eine gewisse Erschöpfung breit, war ich doch das lange Unterwegssein nicht gewohnt. Von der Seite musterte ich Lilian auf der Suche nach Anzeichen von Müdigkeit, doch sie wirkte noch immer wie aus dem Ei gepellt. Nur sehr subtile Hinweise kündeten von den langen Stunden, die sie bereits hinter sich hatte. Ihre dunklen Locken schienen unter dem Einfluß der allgegenwärtigen Feuchtigkeit noch dichter geworden zu sein. Eine Strähne hatte sich gelöst und fiel in Kringeln am rechten Ohr herab, der Rest ihres Haares steckte noch in der festen Umklammerung einer Spange, begann jedoch, darunter hervorzuquellen wie ein wilder Wasserfall. Man konnte also sehen, daß einige Fragmente des Tages an ihr hafteten, aber Lilian machte insgesamt einen sehr geordneten Eindruck. Aus ihren gefaßten, leicht verhärteten Gesichtszügen ging hervor, daß der zurückliegende Termin nicht besonders angenehm gewesen sein konnte, allerdings dennoch zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war. Mit knappen, methodischen Bewegungen lenkte sie das Auto vom Rand der Fahrbahn weg und fädelte sich wieder in den fließenden Verkehr ein, bevor sie sich mir zuwandte: "Und, wie war es, den Nachmittag in Gesellschaft eines russischen Millionärs zu verbringen?", fragte sie mich. Ein erwartungsvolles Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, die undurchdringliche Miene wich einem entspannten Ausdruck. "Immerhin", fügte sie hinzu, "war Roman Orlow mit seinem edlen Wasserhaus schon in mehreren Architekturmagazinen abgebildet, weil all die technischen Spielereien darin auf ungewöhnlich vornehme Weise in dem gläsernen Gehäuse verborgen bleiben. Außerdem gilt er als Kunstsammler mit einem erlesenen Geschmack und soll ein ausgesprochen charmanter Gastgeber sein." - "Nun, ich würde sagen, bei einem derart transparenten Haus fällt es schwer, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden. Dieser Effekt hat zumindest dafür gesorgt, daß ich mich mit diesem Mann nicht eingesperrt gefühlt habe. Orlow legt großen Wert darauf, hier in Deutschland ein möglichst neutrales Quartier zu haben, denn er verachtet unseren Baustil. Als Gastgeber dürfte er für Frauen nur angenehm sein, wenn sie sein anzügliches Verhalten als charmant empfinden", gab ich trocken zu Protokoll. "Tatsächlich...", sagte Lilian und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. "Roman Orlow ist also ein Frauenheld, wie? Ist der Mann während deines Besuchs aufdringlich geworden?", fragte sie offen. Ein intensiver Blick ergründete meine Gesichtszüge wie eine Sonde, als ich antwortete: "Nur auf verbaler Ebene. Die Führung durch sein Haus endete im Schlafzimmer vor einem riesigen Bett, wo seine Sprüche immer eindeutiger wurden. Dort habe ich ihn dann auch verlassen, bevor er handgreiflich werden konnte. Natürlich", gab ich zu, "kann man nicht mit Sicherheit sagen, ob Orlow so weit gegangen wäre, aber wer in der Höhle des Löwen steht, der kann es riechen, wenn das Tier sein Maul aufreißt." - "Ein hübsches Bild", gab Lilian grinsend zurück, dann schlug ihr Tonfall plötzlich um. "Ich wette, du hättest ihm in dem Moment gerne eine verpasst", meinte sie mit schroffer Stimme, deren Klang mich sofort an die rauhe Oberfläche von scharfkantigen Felsen erinnerte. "Ehrlich gesagt, ist mir der Gedanke gar nicht gekommen", erwiderte ich ohne Umschweife. "Dort, wo ich aufgewachsen bin, löst man seine Probleme nicht mit der Faust. Die Vergangenheit hat die Menschen gelehrt, körperliche Gewalt aus unserer Gesellschaft zu verbannen und ich halte dieses Gebot für sinnvoll." Noch während die Worte aus meinem Mund kamen, wurde mir klar, daß der letzte Satz nicht ganz aufrichtig war. Lilian hatte mich mit ihrer harten Ansage einfach überrumpelt, also spuckte ich automatisch aus, was man mich gelehrt hatte. Sie witterte die Unsicherheit in meiner Haltung und spielte den Ball zurück: "Mag sein, daß wir dem Gesetz nach in einer gewaltfreien Gemeinschaft leben, aber niemand ist imstande, die Aggression in der menschlichen Natur einfach verschwinden zu lassen. Jeder drittklassige Psychologe kann nachweisen, wie sehr wir von niederen Trieben geleitet werden." Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte ich mich irgendwie von fremden Ansichten unter Druck gesetzt, die unangenehme Zweifel in mir aufkommen ließen. "Ich persönlich baue meine Wut beim Sport ab, wie es jeder vernünftige Mensch tun sollte." - "Ja, es scheint als würde sich bei dir doch Einiges anstauen, wenn man deine Freizeitaktivitäten so betrachtet", hakte Lilian ein, wie wenn sie nur auf dieses Argument gewartet hätte. "Drei Abende in der Woche verbringst du im Fitnessstudio, am Wochenende findet man dich schon am frühen Morgen beim Laufen im Park und danach in der Schwimmhalle. Soviel überschüssige Energie ist schon bemerkenswert, man könnte es fast als "exzessiv" bezeichnen." Wir hielten gerade an einer roten Ampel, wo Lilian das Lenkrad losließ und den Kopf zu mir herüber drehte. "Wie ich hörte, bist du ein großer Fan von alten Kampfkunstfilmen, Beniko...", sagte sie sanft lächelnd, indem sie die Bemerkung leichthin im Raum stehen ließ. Ich zuckte mit den Achseln, als wäre das Thema für mich nicht weiter von Bedeutung. "Naja, ich interessiere mich eben für jede Form von Bewegung und in diesen Martial-Arts-Streifen gibt es haufenweise Actionsequenzen. Mich fasziniert die Dynamik, mit der die Darsteller ihre Körper einsetzen, sowohl kraftvoll als auch ästhetisch. Es sind eben nicht nur rein sportliche Abläufe, sie führen das Schwert auch mit dem Geist und boxen mit ihrem Verstand. Diese Einheit finde ich spannend, was ist dagegen einzuwenden?" Inzwischen fuhren wir wieder, so mußte Lilian ihren durchdringenden Blick von mir abwenden, was mich ungemein erleichterte. Eigentlich war die private Atmosphäre unter der Abschirmung des kleinen Wagens nach all den aufregenden Eindrücken des Tages eine wohlige Erholung. Alle Geräusche von draußen drangen nur gedämpft zu uns herein und die Dunkelheit prallte an den Scheiben ab. Im Grunde hätte ich mich auf der Fahrt zum nächsten Treffen gut entspannen können, doch Lilians Blicke hinterließen ein seltsames Brennen auf meiner Haut. Ich wurde das Gefühl nicht los, mich mitten in einem freundlichen, aber bestimmten Kreuzverhör zu befinden. Lilian ließ sich etwas Zeit mit ihrer Antwort und so konnte ich vorher einen Seitenblick auf sie werfen. Es war offensichtlich, daß sie mich jetzt dort hatte, wo sie mich haben wollte, denn in ihren bernsteinfarbenen Augen sah ich ein gefährliches Glitzern wie bei einem Raubtier vor dem Sprung. "Oh, dagegen ist nichts einzuwenden", erwiderte sie gedehnt. "Ich denke nur, du könntest dich im Kampfkunsttraining wahrscheinlich so richtig austoben. Es würde sogar ganz hervorragend zu dir passen, etwas zu tun, womit sich gleichzeitig Körper und Geist besänftigen lassen, meinst Du nicht?"

Nie zuvor hatte jemand so gezielt in meinem Seelenleben herumgestochert, um einen wunden Punkt zu finden. "Treffer, versenkt", konnte ich nur denken, als mich eine alte Sehnsucht nach Dingen packte, die vor langer Zeit untergegangen waren und nur noch in alten Legenden existierten. Der Rausch des Abenteuers auf der Suche nach Erkenntnis, das wilde Gefühl, wirklich lebendig zu sein, statt nur am Leben, und mit dem Schwert in der Hand für etwas zu kämpfen, wofür es sich zu sterben lohnte... All das zog in Sekundenbruchteilen an mir vorbei, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. So leicht würde ich es Lilian nicht machen, an verbotenen Träumen zu rühren. Sarkastisch entgegnete ich: "Tja, leider ist es seit 20 Jahren offiziell verboten, Kampfkunst zu praktizieren, daher würde es mir wohl schwerfallen, irgendwo noch einen qualifizierten Lehrer aufzutreiben, selbst wenn ich es unbedingt wollte. Der Großteil der alten Meister dürfte inzwischen ausgestorben sein." Mit einem müden Seufzen fügte ich hinzu: "Es ist also müßig, darüber nachzudenken, es sei denn, man möchte sich dem Militär anschließen." Lilian ließ die Sache damit auf sich beruhen, sie hatte genug gehört. Trotz meiner Bemühungen, kalt zu bleiben, war ihr die Enttäuschung in meiner Stimme nicht verborgen geblieben. Nur wenige Worte reichten, um sie die mysteriöse Fessel sehen zu lassen, die mich an längst verlorene Geheimnisse aus der Vergangenheit band. Das rote Auto rollte weiter über dunkle Straßen und ich blickte zum Fenster hinaus auf die Lichter der Stadt.

Wir befanden uns irgendwo in einer mir unbekannten Gegend, doch Lilian schien keine Probleme mit der Orientierung zu haben. Ein Weilchen konzentrierte sie sich ganz auf die Straße, während ich hinausschaute. Auf den Bürgersteigen hasteten viele Leute, in Mäntel und bunte Schals gehüllt, von der Arbeit nach Hause. Um diese Uhrzeit begann für die meisten der Feierabend, denn mittlerweile war es bereits halb acht. Trotzdem waren die Fenster der verglasten Bürotürme ringsum noch hell erleuchtet, dahinter bewegten sich dunkel gekleidete Gestalten hin und her. Das gleißende Neonlicht aus den trostlosen Gebäuden wirkte noch bis zu mir herunter extrem hell, so daß ich mich fragte, wie die Leute dort oben es aushielten, ohne blind zu werden. Aus der Straßenperspektive machte die Welt manchmal einen wunderlichen Eindruck. Neben mir tauchten immer wieder schattenhafte Bäume am Fahrbahnrand auf, in Szene gesetzt von dem weißgelben Leuchten der Laternen. So vertieft war ich in den Anblick der hereinbrechenden Nacht, daß ich vor Schreck zusammenfuhr, als Lilian mich erneut ansprach. Wieder einmal schnitt sie ohne Vorwarnung ein Thema an, das mich innerlich oft beschäftigte: "Kobayashi, hm? Ein ungewöhnlicher Familienname, vor allem für eine Europäerin mit grünen Augen und roten Haaren, nicht wahr? Wie kommt es, daß du einen japanischen Namen trägst, Beniko?" Früher oder später stellte mir jeder diese Frage einmal, es war sozusagen unvermeidlich, aber wenigstens nicht verfänglich. Zumindest dachte ich das zunächst und erkannte die wahre Absicht dahinter erst, als es zu spät war. "Dazu kann ich nicht besonders viel sagen, weil meine echten Eltern es mir als Kind nicht genau erklärt haben, also bleiben nur Vermutungen übrig", hob ich an. "Ich weiß bloß aus Unterlagen, die lange nach meiner Adoption aufgetaucht sind, daß er aus der Linie meiner Vorfahren väterlicherseits stammt. Gerüchte besagen, eine der Frauen aus seiner Familie sei vor langer Zeit nach Japan ausgewandert, um dort einen Mann namens Kobayashi zu heiraten. Nach seinem Tod kehrte sie nach Europa zurück, bestand aber darauf, den Namen zu behalten. Aus unerfindlichen Gründen wurde er, ihrem Wunsch gemäß, von Generation zu Generation weitergegeben, bis er schließlich bei mir landete. Keine Ahnung, warum meine Pflegeeltern ihn nicht ändern ließen, jedenfalls reicht die Tradition sehr weit zurück." Im konfusen Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit konnte ich Lilians Gesichtsausdruck nicht richtig deuten, doch es kam mir vor, als ob ich mit diesen ungesicherten Daten soeben irgendeine Mutmaßung von ihr bestätigt hatte. In unregelmäßigen Abständen wurde die Kabine des Wagens vom Schein der Neonreklamen und Leuchtkörper an der Straße erfasst. Wie schon am frühen Morgen in meiner Wohnung zerfiel die Welt in Splitter, als wären die festen Konturen zerbrochen wie Glas. "Eigentlich ist das, was du mir eben erzählt hast, schon eine ganze Menge an Information...", warf Lilian nachdenklich ein. "Jedenfalls ergibt sich aus ihnen eine plausible Erklärung für die Herkunft deines Namens, aber man kann noch sehr viel mehr daraus schließen." Ich sah sie fragend an und konnte die wachsende Aufregung in ihrer Stimme deutlich hören, während sie fortfuhr: "Dir ist schon klar, welchen Grund es dafür geben könnte, einen bestimmten Familiennamen über viele Generationen hinweg zu bewahren, nicht wahr?" Natürlich wußte ich nicht, was sie damit andeuten wollte und hatte wieder einmal das Gefühl, voll auf der Leitung zu stehen. Als sie sah, daß der Groschen nicht von selbst fallen würde, erklärte Lilian: "Früher war es üblich, einen Namen zu hüten, wenn sein ursprünglicher Träger beispielsweise der Begründer eines eigenen Kampfkunststils war, der innerhalb der Familie weitergegeben wurde. Es wäre möglich, daß damit einmal ein wertvolles Erbe verknüpft gewesen ist. Vielleicht wußten deine Pflegeeltern etwas darüber und brachten es aus Respekt vor der Tradition nicht über sich, dich aus dieser Verbindung zu reißen. In welchem Alter wurdest du adoptiert, Beniko?" Mein Kopf schwebte nach all den Enthüllungen in einem dichten Nebel und es fiel mir schwer zu sprechen, doch ich antwortete: "Ich muß ungefähr sieben Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern bei einem schrecklichen Brand ums Leben kamen. Man konnte mich vor den Flammen retten, aber unser Haus brannte vollkommen aus... Laut den Akten gab es keine Verwandten, zu denen ich ziehen konnte, doch der Schirmherr einer Stiftung für begabte Kinder holte mich am folgenden Tag ab. Er brachte mich bei meinen Adoptiveltern unter und förderte meine Ausbildung mit viel Geld, obwohl ich ihn bis heute nie kennengelernt habe." Ich räusperte mich, denn es fiel mir zusehends schwerer, in meiner Vergangenheit herumzuwühlen. Lilians nächste Frage brachte dann das Fass zum Überlaufen: "Beniko, kannst du dich daran erinnern, ob deine Eltern dir als Kind jemals etwas über Kampfkunst beibrachten? Hat in eurem Haus vielleicht noch jemand diese alte Tradition gepflegt? Falls dein Vater oder deine Mutter sich damit beschäftigt haben, dann ließen sie dich bestimmt beim Training zusehen..." Lilians Fragen wurden immer bohrender, drängten sich von meinen Ohren bis in die Tiefen meines Gehirns und plötzlich tauchte vor meinem inneren Auge eine Erinnerung auf, wie ein Stroboskopeffekt. Blaue Blitze zuckten durch meinen Kopf und dazwischen sah ich loderndes Feuer, Rauch stieg mir in die Nase, bis die Augen tränten. Ich hörte die verzweifelten Schreie einer Frau. Dann, ganz kurz nur, erschien ein großer, weiß tapezierter Raum, in dessen Mitte sich ein Mann in schwarzer Trainingskleidung bewegte. Auf seiner Brust prangte ein roter Kreis mit einem Symbol darauf, doch bevor ich erkennen konnte, was er genau tat, war alles verschwunden. Ich hatte das Gefühl, mit voller Geschwindigkeit gegen eine Wand gerannt zu sein. Ich stöhnte unterdrückt und faßte mir mit der Hand an den Kopf. "Oh Gott!", ächzte ich, diese verdammten Schmerzen!" - "Was ist passiert?", fragte Lilian besorgt. "Ich kann mich nicht erinnern! Das war schon immer so, wenn ich versucht habe, an die Jahre meiner Kindheit zurückzudenken. Es ist unmöglich, als ob zwischen mir und dem, was früher geschehen ist, eine undurchdringliche Barriere existiert. Sie reicht bis in meine Träume, also gibt es absolut keinen Weg zu sehen, was dahinter ist, es gibt ihn einfach nicht!", stieß ich mühsam hervor. Hämmernde Kopfschmerzen machten sich in meinem Schädel breit und was ich gesehen hatte, kam mir vor wie ein Trugbild. "Es tut mir leid, daß ich dich gedrängt habe", murmelte Lilian leise. Dann reichte sie mir eine Kautablette gegen die Schmerzen aus dem Handschuhfach mit den Worten: "Leider haben wir noch diesen letzten Termin, aber das hier wird dich wieder aufbauen." Ich verzichtete darauf, ihr zu antworten. Statt dessen sah ich diese Unbekannte auf dem Fahrersitz nur böse an, weil sie an Dinge gerührt hatte, die mir Angst einjagten. Trotz des seltsamen Vorfalls bemühte ich mich, die Flut von paranoiden Gedanken zurückzuhalten, denen soeben wieder Tür und Tor geöffnet worden waren. Beinahe wünschte ich mich zu Roman Orlow zurück, der mich für kurze Zeit glauben ließ, hier einen ganz normalen Arbeitstag zu absolvieren.

Für den Rest der Fahrt versuchte ich, mehr oder weniger an gar nichts zu denken und war froh, daß Lilian einfach nur schwieg. Wenigstens schien die Tablette genauso effektiv zu wirken wie der gefüllte Reisball vom Vormittag. Nicht nur die Kopfschmerzen verschwanden nach kurzer Zeit sondern auch meine Nerven beruhigten sich zusehends. Als wir schließlich auf dem Kanalplatz in Harburg, dicht vor dem Rand einer Wasserstraße parkten, war die Panik aus meinem Geist gewichen. Meine Gliedmaßen fühlten sich seltsam leicht an, als ich Anstalten machte, auszusteigen, aber Lilian hielt mich noch zurück. "Wenn dich das ungehobelte Verhalten von Herrn Orlow verärgert hat, dann wird dieses Treffen dir den Glauben an gute Manieren wiedergeben. Der Mann, den wir jetzt aufsuchen werden, ist sowohl ein berühmter Wissenschaftler als auch ein Gentleman der alten Schule. In diesem Fall", versicherte sie glaubhaft, "handelt es sich nicht um eine bloße Annahme, denn ich kenne ihn persönlich seit vielen Jahren. Außerdem", fügte Lilian mit einem Augenzwinkern hinzu, "ist er Engländer, demnach liegt ihm die Höflichkeit ebenso im Blut wie eine gewisse Exzentrik. Du kannst dir also sicher sein, daß er mehr zu bieten hat als nur das Werk eines teuren Innenausstatters." Dann öffnete sie die Wagentür und stieg aus.

Schnell kramte ich aus meinem Gedächtnis zusammen, was mir über den dritten Interviewpartner in Erinnerung geblieben war. Obwohl es schon einige Stunden her war, daß ich in seinem Profil geblättert hatte, halfen mir die Hinweise von Lilian schnell wieder auf die Sprünge. "Sir Arthur Woodruff", seines Zeichens ein gefeierter Botaniker, dem es zu Beginn des dritten Jahrtausends gelungen war, hochwirksame Pflanzenstoffe auf eine bahnbrechende Weise für Medizin und Kosmetik nutzbar zu machen. Mir fielen die faltenfreien Gesichter der japanischen Geschäftsleute wieder ein, denen ich heute morgen auf der Straße begegnet war. Obwohl sie für ihr Alter und im Hinblick auf die stressigen Arbeitsbedingungen unnatürlich jung wirkten, gab es doch an ihrer perfekten Oberfläche keine konkreten Hinweise auf operative Eingriffe oder dergleichen. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte man an einer faltenfreien Gesichtshaut den Gebrauch von Botox ablesen können, da der Preis dafür eine unverkennbar starre Mimik gewesen wäre. Verräterische Kleinigkeiten wie leicht verknitterte Hände, stärker hervortretende Adern am Hals oder zu maskenhaft gefärbte Haare hätten das wahre Alter dieser Personen enthüllt. Das wahrhaft Fortschrittliche an den subtilen Modifikationen bestand darin, daß man sie an nichts festmachen konnte, weil sie zu umfassend waren. Ihre natürliche Ausstrahlung sowie die Charakteristika der persönlichen Erfahrungen blieben den Menschen erhalten, daher sahen sie einfach aus wie eine jüngere Ausgabe von sich selbst. Ich hatte im Laufe meines Lebens schon viele dieser alterslosen Wesen getroffen und mich ebenso daran gewöhnt wie alle anderen auch. Inzwischen beherrschten sie in Gegenden wie Hafen City das Straßenbild so sehr, daß mich der Anblick eines zerfurchten, verlebten Mannes viel mehr erschreckte. Angeblich verdankten sie ihr fabelhaftes Erscheinungsbild den speziellen Naturprodukten von Professor Arthur Woodruff. Gerüchten zufolge verschwanden ihre Falten durch eine besondere Creme, die Schatten unter den Augen wurden wie von Zauberhand weggewischt, ebenso Schwellungen und andere Zeichen von Müdigkeit. Zurück blieb eine seidige Textur, die der leuchtenden Außenseite einer jungen Pflanze glich, abgesehen von der Farbe natürlich. Es hieß, der berühmte Botaniker Woodruff habe der Pflanzenwelt noch andere Geheimnisse entlockt wie zum Beispiel die Fähigkeit, für lange Zeit pralle Feuchtigkeit unter ihrer Hülle zu speichern. Wilde Spekulationen besagten, er hätte sogar Untersuchungen über die biblische Lebensdauer von Bäumen angestellt, die ihn dann zur Herstellung von hoch effizienten Salben und Tinkturen inspiriert haben sollten. Soweit es mich betraf, klangen einige der Vermutungen wie aufgeblasene, urbane Legenden, die einen erfolgreichen Professor zum Hexer stilisierten. Vor meinem inneren Auge sah ich das Bild eines alten Mannes im langen Mantel mit wild zerzausten Haaren, der in einem riesigen, eisernen Kessel herumrührte wie ein Verrückter. Ich amüsierte mich im Stillen über die absurden Ideen mancher Leute. Fakt war, daß Sir Woodruff es irgendwie geschafft hatte, bestimmte Wirkstoffe in extrem hoher Konzentration aus Pflanzen zu extrahieren. Noch dazu vermochte er sie in Substanzen umzuwandeln, die der menschliche Organismus besser aufnehmen konnte als alle bisher dagewesenen Stoffe. Seitdem galt er auf seinem Gebiet als Pionier, der seinen Kollegen um Lichtjahre voraus war. Trotz aller Bemühungen hatte bisher niemand herausfinden können, wie die geheimnisvolle Prozedur der Extraktion genau funktionierte. Den Beweis für die Wirksamkeit der Créme hatte ich selbst oft genug gesehen. Auch konnte nachgewiesen werden, daß in den Tiegeln und Töpfen aus Woodruffs Labor äußerst intensive Bestandteile aus Blumen, Kräutern und Rinden vorhanden waren. Dennoch waren seine Mischungen mehr als die Summe ihrer Teile, denn es blieb ein Geheimnis, auf welche Weise er den Gewächsen ihre wertvollen Komponenten abrang. Allgemein bekannt war nur, daß der Botaniker sein Wissen offenbar mit einigen auserwählten Kollegen seiner Zunft teilte, die überall auf der Welt verstreut lebten. Sehr zum Ärger von Journalisten und Konzernen waren diese Eingeweihten ebenso verschwiegen wie Arthur Woodruff. Das einzige Unternehmen, mit dem der Professor zusammen arbeitete, um seine Mittelchen unters Volk zu bringen, gab nicht nur nichts über das Herstellungsverfahren preis, sondern behauptete, selbst keine Ahnung zu haben, wie das Zeug genau entstand. Soviel ich wußte, war das Verfahren unglaublich aufwendig, weshalb die Kosmetika und Medikamente aus dieser Quelle extrem teuer waren. Nur die Angehörigen höherer Gehaltsklassen konnten sie sich überhaupt leisten. Hinter vorgehaltener Hand wurde in diesen Kreisen eine Bezugsadresse für die Wundertinkturen weitergegeben, man konnte nicht einfach in irgendeine Parfümerie gehen, um dort ein Stück Jugend einzukaufen. Mit den Jahren war um diese Substanzen ein regelrechter Geheimkult entstanden, also war es nicht weiter verwunderlich, daß sich um die Person Arthur Woodruffs mittlerweile zahlreiche Geschichten rankten, von denen manche wirklich absonderliche Blüten trieben.

Eine weitere Tatsache über Woodruff bestand darin, daß er etwa zehn Jahre lang an der Hafen-City-Universität gelehrt hatte. Dieser Zeitraum zwischen 2016 und dem Jahr 2026 lag vor seiner revolutionären Entdeckung, aber schon damals war er für seine Forschungsansätze weithin bekannt. Als Professor wirkte er auf Studenten aus aller Welt wie ein Magnet, wodurch die junge Universität einen außerordentlichen Ruf auf dem Gebiet der Botanik bekam. Nach allem, was bekannt geworden war, kam es im Wintersemester 2026 zu einem heftigen Streit zwischen Professor Woodruff und der Universitätsleitung, woraufhin er einfach seine Koffer packte und ging. Schließlich hatte er den Job nicht wirklich nötig, denn er galt schon in jenen Tagen als Koryphäe, die zu Vorträgen auf dem ganzen Globus eingeladen wurde. Mehrere Bücher und einen sagenhaften Durchbruch in der Kosmetikindustrie später führte Arthur Woodruff ein eher zurückgezogenes Leben ohne viel Presse. Angeblich reiste er nach wie vor viel in der Weltgeschichte herum, pflegte seine Forschung und tat nur, worauf er Lust hatte.

Ich persönlich hatte mich nie sonderlich für Pflanzenkunde oder Kosmetik interessiert, daher kam es mir seltsam vor, daß ausgerechnet ich gleich dieser rätselhaften Person begegnen sollte, die sich seit Jahren jedem Versuch einer näheren Beschreibung entzogen hatte. Bei all der Geheimnistuerei um ein paar Crémes und Salben brannte mir natürlich die Frage unter den Nägeln, welche Entdeckungen der mysteriöse Professor vielleicht noch gemacht haben konnte, aber ich bezweifelte doch sehr, Sir Woodruff zu irgendwelchen Enthüllungen bewegen zu können. "Glücklicherweise besteht mein Auftrag auch nur darin, etwas über die Einrichtung seines Hausboots zu schreiben und das dürfte bei einem Menschen mit so einem Hintergrund nicht allzu schwer sein...", dachte ich. Trotzdem gärte in mir eine unbestimmte Nervosität, da ich mir noch immer nicht erklären konnte, warum Lilian für eine Lifestyle-Reportage ausgerechnet einen introvertierten Professor ausgesucht hatte. Zwei Wissenschaftler an einem Tag, das kam mir schon komisch vor. "Ganz einfach", sprang mein rationales Ich ein, "der Nimbus um diesen Mann ist doch ein Riesenaufhänger für die Story, außerdem kennt sie ihn bereits und nutzt lediglich ihre großartigen Kontakte aus. Sei doch froh, daß du die Gelegenheit bekommst, in Lilian Kassiopis Kielwasser mitzuschwimmen. Deiner Karriere als Journalistin wird es sicherlich nicht schaden!" Dann stolperte ich plötzlich über eine Unebenheit am Boden und wurde dadurch jäh aus meinem vergeistigten Zustand herausgerissen. Lilian und ich standen jetzt auf einer kurzen, kompakten Brücke, direkt über dem dunklen Wasserbecken eines kleinen Binnenhafens. Der Asphalt unter meinen Füßen war nicht so glatt, wie ich es aus der gepflegten Umgebung von Hafen City gewohnt war. Überall im Gehweg befanden sich schadhafte Stellen, vom Wasser ausgewaschene Kerben und Vertiefungen. Zwischen den einzelnen Abschnitten des Straßenbelags waren kleine Lücken entstanden, an denen sich ein unvorsichtiger Passant leicht verhaken konnte, so wie es mir gerade passiert war. Immerhin war dies ein altes Industrieviertel mit breiten Durchgangsstraßen, über die bis heute noch jeden Tag vollgepackte Lastwagen rollten. Hier hatten die ständigen Vibrationen, der Umschlag von Waren in früheren Zeiten und die Witterung Spuren hinterlassen. Noch immer wurde an diesem Ort schwer gearbeitet, was sich am Zustand der Brücken, Transportwege und Stellplätze ablesen ließ. Man fühlte regelrecht, das dieses Areal ein Gebrauchsgegenstand war, an dem es eben abgenutzte Stellen, Ecken und Kanten gab. Lilian deutete mit dem Zeigefinger quer über das Hafenbecken: "Da drüben ist immer noch eine Werft in Betrieb, wo Segler und Boote repariert werden, die hier vor Anker gehen." Ich starrte durch die kühle Dunkelheit auf eine karge Stelle am anderen Ufer, wo gerade ein etwas größeres Schiff angedockt hatte. Offenbar wurden an Deck gerade ein paar Teile ausgetauscht, denn das Ganze wirkte irgendwie unvollständig, aber ich konnte nicht genau sagen, was fehlte. Auf mich wirkte diese Szenerie trostlos, weil in Einzelteile zerlegte Gebilde aus meiner Sicht etwas Rohes, Furchteinflößendes an sich haben. Im Hintergrund des Platzes türmten sich einige aufgestapelte Metallkontainer in bunten Farben, was aber den verdrießlichen Gesamteindruck nicht besser machte. Aus dem Hafenbecken stieg ein leichter Dunst, der sich um die Scheinwerfer auf dem Werftgelände herum zu feinen Nebelschwaden sammelte. Ich nahm einen tiefen Atemzug und stellte fest, daß selbst die Luft in diesem Teil der Stadt wässrig zu sein schien. Von einem bewölkten Septembernachmittag waren wir direkt in die finstere Atmosphäre eines herbstlichen Oktoberabends hineingeschlittert. Lilian löste sich vom Brückengeländer und ich folgte ihr auf der anderen Seite hinab zu einer Reihe von düsteren Gebäuden. Es kostete mich einige Beherrschung, nicht die Flucht zu ergreifen, denn dieses nebulöse Terrain gefiel mir immer weniger. Ringsum, in den Vertiefungen, Mulden und Bruchstellen der zerklüfteten Oberfläche lag eine schwere Feuchtigkeit, die mit ihren klammen Fingern nach mir griff, während mich aus den blinden Fenstern alter Lagerhäuser unsichtbare Augen anstarrten. Lilian hingegen schien den Ausflug in diese unübersichtliche Welt geradezu zu genießen. Munter wandte sie sich an mich, als wir in eine sehr kleine Seitenstraße mit dem Namen "Treidelweg" einbogen. "Und, wie gefällt es Dir hier draußen in der Wildnis?", fragte sie belustigt, deutete mit ihren langen, schlanken Fingern Anführungszeichen an und senkte bei dem letzten Wort die Stimme zu einem tiefen Gruselton. Ich schluckte, sehnte mich mit jeder Faser nach der geborgenen Sphäre der modernen City zurück, mochte mir meine Gefühle aber nicht anmerken lassen. "Es ist sehr interessant, vollkommen anders als das, was ich gewohnt bin", quetschte ich hervor, wobei mein Hals sich unnatürlich eng anfühlte. "Nun, das glaube ich dir auf's Wort", gab Lilian ein wenig provokant zurück und sah mich wieder einmal auf ihre befremdliche Weise von der Seite an. Unter unseren Füßen knirschten jetzt feine Sandkörner, die den Boden im Treidelweg bedeckten. Links von uns lagen mehrere kleine Segelschiffe und Boote am asphaltierten Rand des Hafenbeckens und hier unten war es noch um einiges finsterer als oben auf der Brücke. Schon wollte ich Lilians wildem Blick rasch ausweichen, als mir das Leuchten in ihren Augen auffiel. Als wir uns im Licht des Tages begegnet waren, hatte ich die Farbe der Iris als ein spezielles Braun beurteilt, das oft zu einem goldenen Ton hin changierte, so daß manchmal sogar der Eindruck von einem katzenhaften Gelb entstand. Eine ungewöhnliche Augenfarbe, die mich stark an Bernstein erinnerte, aber nichts Unheimliches. Was mich jetzt aus dem Dunkel der Nacht heraus beobachtete, konnte ich nicht einordnen. Lilians Augen waren von einem Glühen erfüllt, das von innen heraus zu kommen schien. Gleichzeitig ging von ihnen eine tierhafte Energie aus, die mich daran hinderte, das Gesicht abzuwenden. Meine Gedanken rasten, überschlugen und verhakten sich ineinander, das Herz in meiner Brust verlor polternd seinen Rhythmus. "Selbst bei einem Tiger leuchten die Augen nur, wenn sie das Licht aus der Umgebung reflektieren", flüsterte eine hektische Stimme in meinem Kopf. "Mein Gott, es ist hier stockdunkel, kein Licht vorhanden", fuhr mein Gehirn stakkatohaft fort. All meine Instinkte sprangen an, die Haare an Armen und Beinen standen mir zu Berge und sämtliche Muskeln spannten sich zur Flucht, aber der Blick wirkte so fesselnd, daß ich mich nicht bewegen konnte. Wie ein hypnotisiertes Beutetier erstarrte ich mitten im Gehen. Das Ganze dauerte nur einen Moment, dann lief ein verwirrtes Runzeln über Lilians schönes Gesicht. Sie schüttelte kurz den Kopf und das widernatürliche Leuchten war so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Ich war vollkommen sprachlos. Es erschien mir überhaupt nicht ratsam, irgendetwas zu dem Vorfall zu sagen. Um ehrlich zu sein, wollte ich gar nicht wissen, daß es wirklich passiert war und damit womöglich schlafende Löwen aufwecken. Wieder so ein blödes Bild, wofür ich mir innerlich eine schallende Ohrfeige versetzte. Je mehr Angst ich bekam, desto eher neigte mein interner Sensor für verbale Geschmacklosigkeiten zum Versagen. Mechanisch setzten wir unseren Weg zum Schiff von Professor Woodruff fort, als wäre nichts gewesen, doch die Paranoia saß mir wieder im Nacken. So sehr ich auch versuchte, mir einzureden, daß ich einem Trugbild aufgesessen war, es half alles nichts. Mein Körper sendete eindeutige Signale und ich hatte alle Mühe, sein Zittern zu unterdrücken. "Tut mir Leid, ich war gerade ein wenig abwesend", sagte Lilian und ihre Worte tröpfelten wie süßer Honig in meine Ohren, "aber Du solltest von diesem Punkt aus einmal nach links hinüber schauen, es lohnt sich." Wir standen nun kurz vor dem Zuhause des Professors, hinter dem sich die nachtschwarze Oberfläche des trüben Wassers erstreckte. Diese Seite des Hafens war von kleineren Bauten gesäumt, umgeben von schmalen Brachflächen, einigen Straßen und der Werft. Sie lag relativ friedlich da wie ein vergessener Ort, der bei allen Veränderungen ringsumher einfach aus der Zeit gefallen war. Auf der anderen Seite der großen Straße erhob sich der strahlend helle Channel-Tower in den Himmel, flankiert von diversen Bürotürmen, die aus einem belebten Netzwerk lichtdurchfluteter Wege emporwuchsen. Ein nagelneues Einkaufszentrum von gewaltigen Ausmaßen lag gleich nebenan, das als riesiger Würfel aus Glas eine Aura aus bläulichem Licht verbreitete. Die funkelnde Skyline der modernen Stadt bildete einen außergewöhnlich starken Kontrast zur schweigenden Finsternis am Wasser.

Inmitten all dieser groben Widersprüche fühlte ich mich so unwohl wie auf der Oberfläche eines fremden Planeten. Das Spiel von Licht und Schatten war an diesem Ort so verwirrend, hinter jeder Ecke lauerten dunkle Untiefen und nichts ließ sich vorausberechnen. Es war ein gefährliches Terrain für jemanden, der eine gut ausgeleuchtete Welt voller Sicherheitskameras gewohnt war. Das nasse Element hing hier überall in der Luft wie ein dichter Schleier und selbst der Boden spielte mir ständig Streiche, weil er sich alle paar Schritte veränderte. Je weiter ich ging, desto stärker wurde das Gefühl, in eine Falle zu tappen. Wieder bemächtigte sich meiner die Vorstellung, daß Lilian die ganze Zeit etwas gegen mich im Schilde führte, umso mehr, nachdem ich das Glühen in ihren Augen gesehen hatte. Sie mochte ihre Bemerkung scherzhaft gemeint haben, aber für mich war das hier tatsächlich eine Wildnis und ich fühlte mich meiner Führerin allmählich unangenehm ausgeliefert. Als wir das Deck von Professor Woodruffs schwimmendem Heim erreichten, meinte ich hinter mir das Zuschnappen der Fangvorrichtung zu hören.

Der obere Aufbau an Bord bestand aus verschiedenen Hölzern, die im gelblichen Schein diverser altmodischer Laternen sanft schimmerten. Arthur Woodruff stand schon in der offenen Tür, in der einen Hand hielt er einen weiteren Leuchtkörper, mit der anderen half er uns, sicher auf das schwankende Deck hinüberzukommen. Kaum daß ich ihn sah, mußte ich sofort an alte Filme über Abenteurer wie Quartermain und unerschrockene Vampirjäger denken. Mit einem typischen Gelehrten hatte Woodruff wenig gemein, wie er so mit einem verwegenen Ausdruck auf Beinen dastand, die aussahen wie Baumstämme. Die kräftigen Hände fühlten sich an wie altes Leder und auf seinem weißen Haar saß ein großer, breitkrempiger Hut aus dem vorigen Jahrhundert. "Ich wünsche einen guten Abend, meine Damen!", begrüßte er uns in einer heiseren Stimmlage, jedoch mit höchst akkurater Aussprache. Dabei zog der Botaniker seinen gewaltigen Hut vom Kopf und verbeugte sich galant. "Wie schön, daß Sie meinen abgelegenen Wohnsitz so gut gefunden haben, aber bei der unangenehmen Kälte wollen wir nicht lange hier draußen herumstehen, nicht wahr? Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?" Arthur Woodruff vollführte eine weite, einladende Geste mit dem rechten Arm, woraufhin wir dankbar in seinen warmen Räumlichkeiten verschwanden. "Bitte, sehen Sie sich ein wenig in meinem bescheidenen Heim um, während ich schnell den Tee aufgieße", bat der Professor, dann verschwand er in einem Nebenraum, von wo ein feiner, grasiger Kräuterduft in meine Nase wehte. Lilian und ich waren ein paar Stufen hinab gestiegen, um in den lang gestreckten Hauptraum des Schiffes zu gelangen. Vielleicht fühlte ich mich deswegen ein bißchen wie in einer Höhle. Die Holzwände glänzten in einem zartgoldenen Farbton und warfen das indirekte Licht von allen Seiten ins Zimmer zurück. Ein starker Geruch nach Pflanzen lag in der Luft, der mich dazu veranlaßte, nach oben zu schauen. Tatsächlich hingen unter der Decke ganze Büschel aus getrockneten Gräsern, Blumen und Kräutern. Ihrem Duft sowie dem Aussehen nach schätzte ich, daß sich darunter sowohl Lavendel als auch Kamillenblüten befanden. Besonders fiel mir jedoch ein langes Band auf, an dem eine Reihe schrumpeliger, dunkler Pilze aufgefädelt war. Entweder betäubte mich das intensive Aroma der trockenen Gewächse oder es war meine Müdigkeit, jedenfalls kam es mir so vor, als ob ein matter Hauch über allem lag, der die Beleuchtung irgendwie dämpfte. Ein Akkord aus gemischten Gefühlen umfing mein Herz, von denen eines mir dazu riet, diese Behausung zu verlassen. Mein Blick wanderte zurück zur Tür, über der ein Gebilde aus runden Lederstückchen angebracht war, die man mit einem fremdartigen Muster in weißer Farbe bemalt hatte. Die Tierhaut war mit kleinen, bunten Perlen verziert und dazwischen bewegten sich einige zarte Federn im leichten Luftzug. Offenbar handelte es sich bei diesem archaischen Ding bloß um eine Art Talisman, doch er verstärkte das Unwohlsein in mir, so daß ich mich schnell wieder davon abwandte.

Während ich angesichts all der befremdlichen Gegenstände noch mit meinen widerstreitenden Anwandlungen kämpfte, kehrte Arthur Woodruff mit drei dampfenden Teetassen aus der Küche zurück. Er forderte Lilian und mich auf, an einem eleganten Holztisch Platz zu nehmen, der den Mittelpunkt des Raumes bildete. Vorsichtig reichte er uns das heiße, grüne Getränk mit den Worten: "Aus dem besonderen Anlaß unseres Treffens habe ich heute ein bißchen in meiner Kräutersammlung gekramt und ein paar sehr gesunde Zutaten gefunden. Ein banaler Darjeeling hätte es zwar auch getan, aber dieses Gebräu hier", er hob Porzellangefäß an, um uns damit symbolisch zuzuprosten und fuhr geheimnisvoll mit einem abwesenden Ausdruck in den Augen fort, " diese Mixtur ist doch wesentlich wirksamer... Also, möge der Tee seinen Dienst tun und verhindern, daß euch bei diesem erbärmlichen Wetter noch eine Erkältung in die Knochen kriecht!", sagte er fröhlich. "Wohl bekomm's!" Wir nahmen alle einen ausgiebigen Schluck von der duftenden Flüssigkeit, wodurch ein Moment des Schweigens entstand, der jedoch nicht unangenehm war. Der Professor räusperte sich, legte die Stirn in dünne Falten und meinte nachdenklich: "Nun, wo fangen wir am besten an?" Er setzte die Tasse behutsam ab, dann klopfte er mit den Fingerknöcheln seiner rechten Hand auf die Tischplatte. "Hierbei handelt es sich um ein Erbstück, das ich mir aus der alten Heimat mitgebracht habe. Es ist aus Kirschholz, sieht in diesem Licht fast schwarz aus, entfaltet aber in der Sonne einen wunderschönen, rötlichen Schimmer. Allerdings", betonte er mit hochgezogenen Augenbrauen, "war es ein hoher Preis, für dieses Schmuckstück einen solch herrlichen Obstbaum zu fällen. Dieses Exemplar ist schon so lange in der Familie, daß ich es nicht abstoßen konnte, doch ich würde heutzutage niemals einen Baum töten, um aus seinem Holz Möbel zu bauen. Hrm, hrm, Sie müssen verzeihen, meine Stimme klingt heute wie ein altes Reibeisen, da ich mir leider schon eine Unterkühlung zugezogen habe."

Lilian hatte Recht gehabt, als sie von der einnehmenden Art des Professors sprach. Seine charmante Redeweise und der exquisite Tee weichten meine Bedenken hinsichtlich der absonderlichen Objekte im Raum auf. Jetzt, wo der Botaniker selbst die Sprache auf seine Einrichtungsgegenstände gebracht hatte, fiel mir siedend heiß ein, wozu ich eigentlich hergekommen war. Gedanklich trat ich mir vor Wut in den Hintern, während ich den Faden dankbar aufnahm und höflich nachhakte: "Verzeihung, Professor, aber wie verhält es sich dann mit diesen Holzwänden?" Dabei deutete ich mit dem Finger auf das helle Material, welches uns mit seinem goldenen Schimmer umgab. "Oh, zuerst einmal, nennen Sie mich bitte Arthur, meine Liebe. Wenn ich nicht irre, lautet ihr Name Beniko, nicht wahr?" Sein herzliches Entgegenkommen überraschte mich angenehm. "Vielen Dank Arthur, es würde mich freuen, wenn Sie mich ebenfalls beim Vornamen nennen würden", gab ich lächelnd zurück. "Nun Beniko, um auf ihre kluge Frage zurückzukommen", sagte er ohne jeden Anflug von Ironie, "die Substanz für meine Behausung besteht zu großen Teilen aus Bambus, einer schnell wachsenden Pflanze, die ich gerade noch mit gutem Gewissen zum Bauen verwenden konnte." Er stand auf, ging zur Rückseite des Zimmers hinüber und strich mit den ledrigen Händen über die Wand. "Alles andere, was sich hierin findet, habe ich während meiner Reisen buchstäblich vom Boden aufgelesen. In den ausgedehnten Wäldern ferner Länder, an den Ufern kalter Seen, überall liegt totes Gehölz herum. Davon habe ich einiges in diesem Schiff verbaut." Inzwischen war ich ebenfalls vom Tisch aufgestanden und neben einem altmodischen Reisekoffer stehengeblieben. Mir war aufgefallen, daß diese anachronistischen Transportbehältnisse mehrere Ecken ausfüllten, teilweise in unterschiedlichen Größen übereinandergestapelt. Vermutlich waren sie ziemlich schwer und machten auf mich einen klobigen Eindruck. Trotzdem hatten diese Koffer einen besonderen Reiz, denn sie waren nicht nur wunderschön gearbeitet, sondern weckten auch eine urtümliche Sehnsucht nach Abenteuern im Betrachter. Doch ehe ich danach fragen konnte, schoß mir noch ein anderer Gedanke durch den Kopf, der mir keine Ruhe ließ. "Professor Woodruff", platze ich heraus, wobei mir vor lauter Nervosität entfiel, daß er mir zuvor das Du angeboten hatte, "ich möchte Sie auf keinen Fall verärgern, aber Ihre unglaublichen Erfindungen müssen Ihnen doch ein Vermögen eingebracht haben. Mir ist nicht ganz klar, warum Sie so zurückgezogen auf einem Boot in diesem kleinen Hafen leben, statt all den Ruhm in angenehmer Gesellschaft zu genießen." Der alte Mann ließ zögernd von seiner Beschäftigung mit der Wand ab, kratzte sich gedankenverloren an der Schläfe und antwortete dann bedächtig auf meine dreiste Frage: "Wissen Sie, ich ziehe es vor, abseits des ganzen Trubels zu leben, wo mich nicht ständig jemand bei meiner Arbeit stört. Auf die Gesellschaft der meisten Leute kann ich dankend verzichten, denn sie haben nichts Besseres zu tun, als mir mit dummen Fragen auf die Nerven zu gehen. In dem Wasserbecken hier liege ich nur solange vor Anker, wie es mir gefällt, denn mit diesem alten Kahn", er tätschelte mit zufriedenem Gesichtsausdruck die Wand, "kann ich jederzeit von der Bildfläche verschwinden und in irgendeinem noch entlegeneren Flußarm untertauchen." Mir leuchtete zwar ein, daß Woodruff als eingefleischter Forscher nicht unbedingt gesteigerten Wert auf die Gegenwart anderer Personen legte, doch auf der anderen Seite machte ihn sein großes Geheimnis natürlich zum Mittelpunkt wissenschaftlicher Neugier. "Ich nehme an", wagte ich mich zögernd vor, "jeder möchte gern das Rätsel um Ihre wunderbaren Crémes und Salben lösen." - "Oh ja, selbstverständlich", entgegnete der Professor wie aus der Pistole geschossen, "und damit den großen Jackpot knacken, der ihnen zu unendlichem Reichtum verhilft. Du wirst es nicht glauben, Beniko, aber ich habe diese Fragen schon oft wahrheitsgemäß beantwortet, allein es fehlt den Menschen der Glaube. Die Antwort ist so wahr wie simpel, doch sie gefällt ihnen nicht." Sir Arthur Woodruff senkte die Stimme zu einem dramatischen Flüstern. "Und ich sage euch", sprach er mit großem Pathos, "das Geheimnis liegt im Prozess des Wachstums. Einen Keim in nahrhafte Erde zu setzen, sich mit echter Liebe darum zu kümmern, daß er nicht zu viel oder zu wenig Sonnenlicht bekommt, ihm eine Sphäre zu schaffen, in der er prächtig gedeihen kann, ist kein Hexenwerk. Die Fähigkeit aber, sich einem Lebewesen so innig zuzuwenden, wie es für eine lange, fruchtbare Existenz notwendig ist, grenzt schon an Zauberei... Diejenigen, die mich ständig fragen, wie ich es geschafft habe, die Pflanzen zur Produktion so potenter Wirkstoffe anzuregen, wollen auf eine Massenzucht hinaus. Es geht nur darum, möglichst große Mengen in kurzer Zeit herzustellen, um damit Umsatz zu machen. Wer sich ausschließlich für das Endergebnis interessiert und mit gierigen Händen soviel erntet, bis nichts mehr übrig bleibt, der hat eben kein Auge für den entscheidenden Punkt." Seine Antwort war aus meiner Sicht ebenso umfassend wie ehrlich. Ich sah keine Notwendigkeit, weiter nachzubohren, daher zeigte ich auf einen der alten Koffer, was mich zum nächsten Thema führte. "Gestatten Sie die Frage, was Ihnen diese Gepäckstücke bedeuten? Sind sie Bestandteile Ihrer Exkursionen?" Professor Woodruff schien sich köstlich über diese Vorstellung zu amüsieren. "Oh nein, dafür sind sie viel zu unhandlich. Ich reise natürlich wie jeder vernünftige Mensch auch mit dem Rucksack, alles andere wäre ja verrückt!" Er gluckste leise vor sich hin, offenbar in das Bild vertieft, wie er mit den sperrigen Riesenkoffern schwitzend durch schwieriges Dschungelgelände stapfte. Wieder geriet ich mit meinen Gefühlen in einen merkwürdigen Zwiespalt, denn bei aller vorgetragenen Vernunft kam mir mein Gesprächspartner doch vor wie eine Sphinx, deren Orakel ein Quäntchen Wahrheit, aber immer auch eine faustdicke Lüge enthielten. "Vielleicht hätte ich den verdammten Tee nicht trinken sollen", dachte ich, als der Dunst aus Kräutern und Blüten sich wie eine Decke auf meine Sinne zu legen begann. Mittlerweile schien sich der verschrobene Botaniker wieder von seinen ulkigen Gedanken erholt zu haben, denn er machte sich gerade an den ledernen Schnallen eines angestaubten Koffers zu schaffen. "Also, wie ich schon sagte, eignen sich diese Behälter nur noch als Dekoration, doch sie sind wirklich wunderschön gearbeitet." Es gelang ihm, die störrischen Lederbänder zu lösen und den Deckel nach hinten zu klappen. Dann trat der Professor höflich einen Schritt zurück. "Bitte, werfen Sie einen Blick hinein, es lohnt sich! Ich für meinen Teil hege einfach eine Leidenschaft für diese altertümlichen Dinge", meinte Woodruff, während meine Augen das verschachtelte Innenleben des Koffers untersuchten. Eine faszinierende Vielfalt aus Fächern und Taschen breitete sich vor mir aus wie ein eigenes, komprimiertes Universum. Ich sah, daß in einigen gepolsterten Vertiefungen sogar kleine, zugeschraubte Glasgefäße lagen. Man konnte durch die sorgfältig gereinigten Außenseiten hineinschauen, wobei ich tatsächlich ein paar bizarre Proben darin erkannte. Am meisten fesselte mich der Anblick eines starren, schwarzen Körpers, dessen trockene Hülse mich unwillkürlich schaudern ließ. Bei genauerem Hinsehen identifizierte ich das abstoßende Stück als Skorpion und obwohl ich insgeheim fürchtete, in den anderen Gläsern ähnliche Scheußlichkeiten vorzufinden, fühlte ich doch den unwiderstehlichen Drang, alles genauestens zu studieren. Je mehr Einzelheiten mir ins Auge fielen, desto rückhaltloser verlor ich mich im Inhalt des Koffers und meine Lider wurden schwer. Mir fiel auf, wie der Schiffsboden unter meinen Füßen leicht schwankte, alles wurde vom ständigen Auf und Ab des Wassers in Bewegung versetzt. Mein ganzer Körper ging in dem Rhythmus der Wellen auf, während mir das feine Quietschen und Knarren der Holzbohlen deutlich in den Ohren klang. Aus den Augenwinkeln nahm ich das Flackern des goldenen Lichtscheins auf den Wänden wahr, Schatten tanzten durch den Raum voller erdiger Gerüche, selbst der schwache Anishauch der getrockneten Pilze drang in meine Nase ein. All diese unterschwelligen Eindrücke aus der Umgebung fluteten meine Sinne und bannten mich vollständig im Hier und Jetzt, als die Stimme des Professors irgendwo hinter mir zu sprechen begann: "Dieser Koffer ist eigentlich ein Sammelbehälter für wichtige Fundstücke. Er stammt aus einer Zeit, in der auf den Landkarten der Welt noch weiße Flecken existierten, unerforschte Orte voller Geheimnisse...", raunte er. Ohne es selbst zu wollen, drehte ich mich langsam zu Arthur Woodruff um wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden hängt. Sein Gesicht war auf einmal völlig verändert. In den großen, schlammfarbenen Augen spiegelte sich aufrichtiges Mitleid wieder und ich erkannte schlagartig, daß diese Anteilnahme mir galt, was mich endgültig in Verwirrung stürzte. Auch der Tonfall des Botanikers schien nicht mehr derselbe zu sein wie zu Beginn des Gesprächs. Zwar war die heisere Textur der Stimme erhalten geblieben, doch ihre Gangart glich vielmehr einem weichen Singsang, dem ich mich gar nicht entziehen wollte. "Mir ist zu Ohren gekommen, daß es solche weißen Flecken auch in deiner Vergangenheit gibt, Beniko. Als Rätsel der Natur mögen diese Dinge ganz reizvoll sein, aber du hast ein Loch in deinem Leben. Ein Teil von dir selbst liegt im Dunkeln und dieser Zustand ist bedenklich. Wie ich hörte quält dich eine ausgeprägte Schlafstörung, deren Ursache möglicherweise jene Lücke in deiner Erinnerung ist. Ich möchte wissen, wie es dir damit geht, Beniko." Ich war entsetzt über das, was ich hörte und vermutlich wich in diesem Moment auch der letzte Rest an Farbe aus meinem Gesicht. Man hatte meine innersten Gedanken enttarnt und zerrte nun das einzige verborgene Überbleibsel aus einer fernen Vergangenheit an die Oberfläche. All die Jahre hatte ich diesen kleinen Schatz wohlweislich in meiner Seele versteckt gehalten, denn er war die alleinige Verbindung zu einem Leben gewesen, das ich niemals hatte führen können. Endlich wurde mir klar, weshalb Lilian mich für diese Reportage wollte. Sie hatte mich heute den ganzen Tag lang von vorne bis hinten ausgehorcht, Indizien gesammelt, mit denen ich am Ende bloßgestellt werden sollte. Der Professor mußte ein Undercoverpsychologe der Konzernleitung sein und ich fühlte mich wie ein Pokerspieler, dem sein Blatt aus der Hand gerissen wurde. Keine Ahnung warum, aber irgendwie glaubte ich, meine Erinnerung könnte etwas Gefährliches enthalten, das in dieser Gesellschaft unerwünscht war. Daß ich es nicht freiwillig offen gelegt oder durch Medikamente behandelt hatte, würde mich wohl mindestens den Job kosten. Offenbar stand mir die Panik ins Gesicht geschrieben, denn Sir Arthur Woodruff schüttelte beschwichtigend den Kopf: "Hör mich an, Beniko. Du stehst hier nicht vor Gericht, niemand will dir etwas wegnehmen oder dich bestrafen. Ich möchte dir nur helfen, dein Gedächtnis zu heilen." Sofort regte sich der Widerstand in mir, da ich mich von dem seltsamen Angebot doch ziemlich überrumpelt fühlte. Aus heiterem Himmel war meine persönliche Geschichte plötzlich zum Mittelpunkt des Interesses geworden. Ehe ich wußte, wie mir geschah, bot ein wildfremder Mann an, ein Problem zu lösen, das ich schon ewig mit mir herumschleppte. Das Ganze war ohnehin schon mehr als unheimlich, aber am schwersten wog die Tatsache, daß ich sein Motiv nicht kannte. Warum sollte dieser renommierte, wohlhabende Wissenschaftler seine gesellschaftliche Stellung riskieren, indem er seine Finger in fremde Angelegenheiten steckte? Dann kam mir das entscheidende Argument in den Sinn. Ich setzte eine verbohrte Miene auf, kniff die Augen zusammen und erklärte spöttisch: "So einfach ist es leider nicht, Professor. Bei mir geht es nicht einfach nur darum, ein paar Erinnerungen wieder auszugraben. In meinem Kopf steht eine Wand, die mein Bewußtsein von der Vergangenheit trennt. Sie ist schon dort, seit ich zurückdenken kann und bei jedem Versuch, an die ersten Jahre meiner Kindheit zu denken, renne ich dagegen. Wir reden hier über eine physische Mauer wie aus Stein, die so weit hinab, hinauf und zu beiden Seiten reicht, daß man sie nicht umgehen kann. Nicht einmal in meinen Träumen vermag ich, sie wirklich zu durchdringen. Abgesehen davon verursacht allein der Versuch, mich damit auseinanderzusetzen schon Schmerzen. Sobald ich meinen Willen gegen die Grenze richte, gibt es einen Boomerangeffekt, als ob mir meine eigene Kraft um die Ohren fliegt. Diese Barriere ist unüberwindlich."

Mit dieser Belehrung hatte ich eigentlich den Professor ausmanövrieren wollen, um mich aus der unangenehmen Lage zu befreien, doch noch während die Worte aus mir heraus sprudelten, kippte meine Stimme und alle angestaute Verzweiflung brach daraus hervor. Arthur Woodruff schien nicht besonders überrascht von dem zu sein, was ich ihm mitgeteilt hatte. Wieder legte sich das lebendige Netzwerk aus Kräuterdüften, sanftem Schaukeln und warmem Honiglicht wie Balsam auf meine Nerven und er antwortete in einem sehr ernsten Ton: "Nun, wie ich schon sagte, ist es möglich, dir zu helfen. Ich weiß, wie diese Barriere aussieht und kann sie zumindest für kurze Zeit durchbrechen, soviel steht in meiner Macht. Außerdem...", er zögerte einen Moment, ehe er die Katze aus dem Sack ließ, "um dir zu beweisen, daß ich kein Scharlatan bin, verrate ich dir jetzt etwas über die Wand in deinem Kopf, das du noch nicht weißt: Sie ist mit Sicherheit kein Überlebenstrick deines Geistes, es handelt sich weder um Verdrängung noch ist ein Trauma die Ursache dafür. Trotzdem ist sie natürlich nicht von allein dorthin gekommen, sondern jemand hat diese Barriere dort hinein gesetzt." Er ließ seine Worte kurz wirken und jetzt war ich dankbar für die beruhigende Wirkung des Tees. Der ganze Hokuspokus um mich herum, vom einlullenden Geruch der Pflanzen bis zur schummrigen Beleuchtung, war mir bei unserer Ankunft äußerst zweifelhaft erschienen, doch nun sorgte er dafür, daß ich den Schock besser verkraften konnte. Bei allem, was Sir Arthur Woodruff über meinen Zustand zu wissen schien, konnte ich nur hoffen, daß er so vertrauenswürdig war, wie seine Worte mich glauben machten. Jedenfalls kam es mir nicht so vor, als ob der Mann log. "Die Sache hat eine gute und eine schlechte Seite", fuhr er nüchtern fort. "Wie jeder fähige Hacker weiß, gibt es kein von Menschenhand errichtetes System, das man nicht knacken kann. Auch bei der Sperre in deinem Kopf gibt es eine Hintertür, aber dieser Weg ist nicht ungefährlich. Ich bin keine leichtfertige Person, Beniko, deshalb muß ich meine Frage von vorhin noch einmal wiederholen, bevor ich entscheide, was zu tun ist: Wie geht es dir mit dieser Barriere in deinem Bewußtsein?" Jedes einzelne Wort in diesem Satz klang so aufrichtig mitfühlend, daß er direkt in mein Herz traf. Zwischen der Frage und meiner Reaktion lag nur der Bruchteil einer Sekunde und kein einziger rationaler Gedanke kam dazwischen. Heiße Tränen rannen mir über die Wangen, als hätte man die Schleusen an einem lange aufgestauten See geöffnet. Kein einziges Wort brachte ich heraus, nur ein vernehmliches Schluchzen. "Also gut", seufzte der Professor schwer, "damit ist für mich jeder Zweifel ausgeräumt. Wenn du es wünschst, Beniko, werde ich versuchen, dir zu helfen." Ich nickte mit dem Kopf und schniefte stockend vor mich hin. Lilian, deren Gegenwart ich inzwischen vollkommen vergessen hatte, stand von ihrem Stuhl am Kirschholztisch auf, um mir ein weiches, weißes Papiertaschentuch zu reichen. Woodruff durchquerte das längliche Zimmer entschlossenen Schrittes, öffnete die Tür nach draußen und trat in die Dunkelheit hinaus. Als wir uns nicht rührten, steckte er seinen weißhaarigen Kopf in den gemütlichen Wohnraum. "Ich habe die nötige Ausrüstung in einem anderen Raum, wenn ihr mir bitte folgen würdet..."

Der hölzerne Aufbau bestand aus zwei Teilen, zwischen denen ein kleiner, überdachter Durchgang von vier Schrittlängen lag. Dieser Bereich war ein wenig unter Deckniveau versenkt worden. Der Professor kramte einen Schlüssel aus der Hosentasche und sperrte den Eingang zur zweiten Kajüte auf. Er ließ uns zunächst eintreten, dann schloss Woodruff den Eingang wieder ab. Erst nachdem die massive Tür zu war, schaltete er das Licht ein. Noch halb geblendet registrierte ich, daß die Wände um uns herum fast vollständig aus Regalen oder Vitrinen bestanden. Unzählige Gläser standen darin, viele davon enthielten Wurzeln in allen denkbaren Formen und Farben. Manche sahen aus wie schwarze Klauen mit boshaft gekrümmten Fingern, einige waren braun, knollig und unscheinbar, während wieder andere beinahe fadenartig in ihren Behältnissen hingen, wo sie in einem intensiven Rotton leuchteten. Ich bemerkte auch einige sehr blasse Exemplare, die in sich verknotet zu sein schienen und auf geisterhafte Weise in den dunklen Ecken fluoreszierten. Die untersten Regalbretter zu beiden Seiten waren ein wenig breiter als alle anderen. Darauf befand sich ein wildes Gemisch aus Tiegeln und Töpfchen verschiedenster Größen. Ein paar waren aus Glas, so daß man ihren Inhalt erkennen konnte. Augenscheinlich wurden darin Salben aufbewahrt, denen die konzentrierte Kraft der Natur innezuwohnen schien. Eine von ihnen schimmerte in einem solch satten Waldgrün, daß es mir schwer fiel, nicht daran riechen zu können. Man konnte nur saftigste Kräuter, flauschiges Moos und herrlich frische Blätter darin vermuten, denn das Zeug barst fast vor Chlorophyll. Ein Tiegel erregte meine Aufmerksamkeit, weil die Paste darin in hellem Sonnengelb erstrahlte, das aus dem schattigen Umfeld geradezu herausstach. Bedauerlicherweise bestanden die meisten Gefäße aus rötlichem Ton oder dunklem Steingut, was sie absolut undurchsichtig machte und mich vor Neugier fast platzen ließ. Professor Woodruff jedoch hatte inzwischen eine kleine Trittleiter angeschleppt, mit deren Hilfe er in einer der oberen Vitrinen herumangelte. Schließlich kam er wieder herunter und hielt zwischen seinen Fingern ein Reagenzglas, das mit einer schwefelgelben Flüssigkeit gefüllt war. Das Zeug schien irgendwie aus sich selbst heraus zu glühen. Zunächst beäugte der Botaniker die unheilvoll wirkende Substanz mißtrauisch von allen Seiten, dann wies er auf einen schweren Vorhang am Ende der Regalreihen. "Laßt uns nach nebenan gehen, dort haben wir wesentlich mehr Platz und den wirst du gleich brauchen, Beniko." Ich schluckte schwer und mußte mir ins Gedächtnis rufen, daß mein Anliegen wohl verzweifelte Maßnahmen erforderte, um nicht gleich die Flucht zu ergreifen.

Woodruff teilte die beiden bodenlangen Bahnen aus dickem Stoff in der Mitte, um Lilian und mich hindurchzulassen. "Vorsicht, Stufe!", warnte er noch, während ich schon eine Kante hinunter ins Unbekannte stolperte. Der Bereich hinter dem Vorhang wurde von weißem Mondlicht erhellt, dessen Strahlen durch runde Bullaugen ins Zimmer schlüpften. Sie fielen auf einen dicken, gemusterten Teppich, wo sich im kalten Halblicht der Nacht verschlungene Blumenranken und wilde Vögel tummelten. In meinem Rücken machte sich der Professor an irgendwelchen Gegenständen zu schaffen, bis es ihm gelang, ein Licht anzuzünden. Im Schein der Laterne sah ich, daß der Raum bis auf einige Sitzkissen am Rand ziemlich kahl war. "Dies ist, wenn man so will, meine Medizinhütte", gab Woodruff in halb scherzhaftem Ton bekannt. "Hier finde ich die nötige Ruhe für meine persönlichen Studien oder Behandlungen, die ein wenig... abseits der üblichen Schulmedizin liegen und mehr erfordern als nur das Auftragen einer Salbe." Er entzündete noch ein paar weitere Leuchten, um sie dann in sicheren Haltungen entlang der leeren Wände zu verankern. Im gleichen Maß wie das unwirkliche Licht des Mondes schwand, wandelte sich das kleine Zimmer zu einem behaglichen Zufluchtsort. Kleinste Partikel aus warmem Feuer schienen die Luft zu erfüllen und bildeten eine Art Schirm, ein Bollwerk gegen die Finsternis von draußen. Mein Blick folgte den Handgriffen des Professors, bis er am Kopfende des Raums kleben blieb. Innerlich erstarrte ich angesichts der vertrauten Elemente des Wandschmucks. Vor mir hing der Zwilling des unheimlichen Talismans, den ich schon kurz nach dem Eintreten über der Tür des Wohnzimmers gesehen hatte. Jedenfalls dachte ich zuerst, die beiden Objekte würden einander gleichen, doch dann wurde deutlich, daß ihre Grundform ganz unterschiedlich war. Diese Ausgabe hatte einen viel kompakteren Umriss, ein großer Lederkreis bildete das Zentrum und die Verbindungen zwischen den Einzelteilen bestanden aus kleinen Holzröhrchen. Besonders auf dem Kernstück dominierte ein Muster aus roter Farbe, dessen energische Striche dicht beieinander lagen und einen unabweislichen Eindruck von Stärke vermittelten. Auch hier zierten Vogelfedern die Ränder der Kreise sowie die geraden Übergänge dazwischen, doch sie waren von einer anderen Sorte als am Eingang. Ihre Fasern glänzten zumeist dunkel mit einem grünlichen Schimmer, nur einige wenige hatten einen sandgelben Grundton, bedeckt mit schwarzen Flecken wie das Fell von Leoparden. Der Luftstrom versetzte auch diese Federn in Bewegung, doch ging damit keine Leichtigkeit einher. Ich schreckte auf, als Professor Woodruff mich an der Schulter berührte. "Vor diesen kleinen Souvenirs mußt du dich nicht fürchten, sie haben für mich bloß einen sentimentalen Wert. Außerdem sind es Geschenke, die ich nicht ablehnen konnte, ohne meine Gastgeber zu beleidigen", fügte er versonnen hinzu. "Glaub mir, es ist nichts Ungewöhnliches daran, sich von ihnen gebannt zu fühlen, schließlich stammen sie aus uralten Kulturen. Allein deswegen geht davon für den Betrachter schon eine außergewöhnliche Faszination aus." Seine Worte brachen den Zwang und ich riss mich von dem pulsierenden Herzstück des Gebildes los. Betreten schaute ich auf den Boden. "Es klingt vollkommen verrückt, aber wenn ich diese Dinger ansehe, kommen sie mir so echt vor. Als hätten sie eine besondere... Gültigkeit, ach ich weiß auch nicht." "Falls deine Spekulationen auf eine magische Funktion hinauslaufen, muß ich dich enttäuschen. Sollte darin tatsächlich mal eine gewisse Kraft gesteckt haben, ist sie sicher längst verschwunden. Wie ich schon sagte, sie wurden vor langer Zeit für ein bestimmtes Umfeld geschaffen. Aber um dich zu beruhigen, möchte ich dir noch sagen, daß es sich bei diesem Exemplar", er deutete auf das gefiederte Machwerk an der Wand, "ursprünglich um einen Schutzzauber handelt, der böse Geister aus einem Raum vertreiben sollte. Ich schlage vor, wir nutzen den Umstand, daß du dich so sehr von ihm angezogen fühlst und machen diesen Kreis zu deinem Fokus für unsere Prozedur, auch wenn es Dir unangenehm ist." Die Art, wie er dies sagte, machte deutlich, daß er keinen Widerspruch duldete und so ließ ich mich auf seine Anweisung hin auf dem opulenten, orientalischen Teppichboden nieder. Professor Woodruff hockte sich mit dem Reagenzglas vor meine Füße, sah mich eindringlich an und sagte: "Dies ist ein außerordentlich starkes Halluzinogen, das Stärkste, was ich jemals zusammengebraut habe. Selbst wenn die Sache glimpflich verläuft, hat so ein Elixier üble Nebenwirkungen, schlimmstenfalls wirft es deinen Verstand endgültig aus der Bahn. Der Trank hier ", er tippte mit dem Finger gegen das Glasgefäß und versetzte die gelb glühende Flüssigkeit in Bewegung, "ist in der Lage, die Barriere in deinem Geist zu durchbrechen, aber ich kann dir nicht garantieren, daß du das, was dahinter ist, auch wirklich sehen möchtest. In jedem Fall wird es für dein weiteres Leben gravierende Konsequenzen haben, wenn du plötzlich deine Vergangenheit kennst. Nachdem du das Mittel geschluckt hast, gibt es für dich kein zurück mehr, egal was dabei herauskommt. Wenn du möchtest, Beniko, steht es dir frei, jetzt zu gehen und all das zu vergessen..." - "Nein", gab ich zurück und nahm das Glas aus Professor Woodruffs Hand. Er gebot mir mit einer schnellen Geste Einhalt, bevor die Flüssigkeit meine Lippen berührte. "Sobald du die Medizin getrunken hast", wies der Wissenschaftler mich an, "schaust du nur noch auf den Schutzkreis. Mach ihn zum Fixpunkt für deinen Geist, das wird dir helfen, die Richtung zu halten. Wir können dann nämlich nichts mehr für dich tun." Ich nickte kurz, wendete mich dem rot gemusterten Fetisch an der Wand zu und schüttete das schwefelfarbene Gebräu in mich hinein.

Eine ganze Weile passierte überhaupt nichts. Das Zeug hatte eine leicht ölige Konsistenz, es rann träge meine Kehle hinunter wie ein Schluck Martini. Außer einem leicht bitteren Nachgeschmack am hinteren Teil der Zunge spürte ich kaum etwas. Ich saß mit gekreuzten Beinen aufrecht da und wartete, den Blick beiläufig auf schwarze Federn an runden Lederstücken gerichtet. Diesmal ließ ich es geschehen, als das eigentümliche Gefüge meine ganze Aufmerksamkeit zu binden begann. Ein Aufruhr aus widersprüchlichen Empfindungen tobte in mir, rohe Gefühlsanwandlungen füllten mein Inneres mit ohrenbetäubendem Lärm, während Furcht, Wut und Hoffnung miteinander rangen wie wild gewordene Tiere. Aber was war das für ein heller Glanz dort drüben? Meine Augen folgten dem anziehenden Funkeln über mir bis zu einem kleinen, schwarzen Holzstück. Ein zartes Licht hatte sich auf der polierten Oberfläche niedergelassen, wo nun eine feine Maserung zum Vorschein kam. Diese lebendige Struktur zog meine Gedanken an wie ein starker Magnet. Von dort aus kletterte ich an den Verbindungen entlang in Richtung Mittelpunkt. Die blutroten Linien und Quadrate traten gestochen scharf aus der braunen Tierhaut hervor, doch bevor ich mich fragen konnte, ob sie wirklich mit Blut gemalt worden waren, flog mein Blick weiter, über den wulstigen Rand des Kreises zum schwerelosen Gefieder darunter. Vorhin hatten sie bloß an einer Schnur in der Luft gehangen, doch jetzt schien ein stiller Wind darunter zu greifen. Von einer unsichtbaren Luftströmung angehoben, zeichneten sich die großen Federn überaus präzise vor dem Hintergrund ab. Ihre Struktur war zur gleichen Zeit starr und weich, im freien Fall begriffen, so dreidimensional, daß ich alles andere um sie herum vergaß. Vom Detail zum Ganzen war es nur ein kleiner Schritt und das Naturkunstwerk nahm mit seiner ungeheuren Plastizität meinen gesamten Horizont ein, es füllte sogar meinen Kopf vollständig aus. Drumherum existierte nichts mehr. Lediglich mit einem Bruchteil meiner Sinne erfasste ich noch den Rest des Raumes. Hing da nicht ein Hauch von Tabak in der Luft? Irgendwie fühlte ich mich isoliert, so als säße ich in einem großen, erleuchteten Zelt inmitten freier Natur. Noch immer wartete ich darauf, daß die Wirkung der Droge endlich einsetzte. Plötzlich fiel mir eine eindeutige Veränderung auf, vielmehr das Fehlen von etwas. Den ganzen Tag über waren Lilian und ich durch ein dichtes Netzwerk aus Geräuschen geschwommen wie Fische im Wasser. Jetzt spitzte ich die Ohren, lauschte angestrengt nach irgendwelchen Tönen, doch da war gar nichts... Dann kippte die Erde unter mir weg.

Ich saß auf einem Boden aus langen, hellen Holzdielen am Rande eines großen Feldes aus glattem Parkett. Sorgfältig achtete ich darauf, mit meinen Fingern und Füßen hinter der Grenze zu bleiben, damit keiner der Erwachsenen versehentlich darauf trat. Direkt vor mir prallten die entfesselten Kräfte gewaltiger Körper aufeinander, Beine stemmten sich gegen den Untergrund, wechselten die Position und verschwanden aus meinem begrenzten Sichtfeld. Es war ein ungestümes Gewühl, in dem die Menschen miteinander rangen oder versuchten, sich gegenseitig durch den Raum zu schieben. Trotz der explosiven Aktivität herrschte im Saal eine hochkonzentrierte Atmosphäre, wo außer dem keuchenden Atem der Leute nur das geschäftige Quietschen von Turnschuhen zu hören war. Von dem blanken Nußbaumholz vor mir stieg ein unverkennbarer Duft nach Bohnerwachs auf und mischte sich mit dem Geruch von abgeriebenen Gummisohlen. Zwischen den Männern und Frauen hing bereits soviel Feuchtigkeit in der schweißdurchtränkten Luft, daß sich unter dem grellen Neonlicht schon ein richtiger Dunst gebildet hatte. Die Kampfkünstler schienen nichts von alledem zu bemerken, weil sie so intensiv in ihre Arbeit vertieft waren. Ich richtete mich halb auf, um aus meiner Position mehr sehen zu können. Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, meinen Platz zu verlassen, denn man hatte mir zwar erlaubt, beim Training dabei zu sein, aber nur, wenn ich mich ganz still verhielt. Die Spielregeln waren immer dieselben und so hatte ich schon als kleines Kind gelernt, mich stundenlang ruhig am Rande der Ereignisse aufzuhalten. Im Augenblick war ich etwas abgelenkt und pulte mit meinen Fingern selbstvergessen in den dunkelbraunen Astlöchern der Holzbretter herum. Kurz darauf reckte ich wieder den Hals, um durch die Lücken zwischen den Menschen hindurch zu spähen. Lange mußte ich nicht suchen, denn mitten unter ihnen bewegte sich ein schwarzer Blitz, das Epizentrum aller Aktivität. Mit leichtem Griff faßte er die anderen bei den Schultern, um sie scheinbar mühelos auf den Boden zu befördern. Hin und wieder flog jemand mehrere Meter weit durch den Raum, getrieben von einem mächtigen Push, den der Mann im schwarzen T-Shirt offenbar ohne jeden Kraftaufwand ausführte. Gleich darauf strebte er weiter, warf einen kritischen Blick auf die Bemühungen seiner Schüler und korrigierte geduldig jeden Einzelnen. In seiner Bewegung gab es keinen Stillstand, weshalb er überall gleichzeitig zu sein schien. Im Kampf konnte niemand gegen ihn bestehen, denn er fegte über seine Gegner hinweg wie der Wind durch ein Grasfeld und Angreifer prallten einfach von dieser Naturgewalt auf zwei Beinen ab. Auf einmal drehte er sich ansatzlos in meine Richtung, um einen Kampf zu beenden, der aus dem Ruder zu laufen drohte. Zuvor hatte ich ihn nur an den ungewöhnlich breiten Schultern erkannt, die zur Linken und Rechten von seinem gedrungenen Stiernacken in einen massiven Rücken übergingen, der vielmehr an einen Bullen als an einen Menschen erinnerte. Auch ihm stand der Schweiß in dicken Tropfen auf der Stirn, doch in seinen Worten war keine Atemlosigkeit zu hören, als er sprach. Der Stoff des schwarzen Oberteils spannte sich besorgniserregend über der Brust des kräftigen Mannes und auf der rechten Seite prangte ein vertrautes, rotes Abzeichen. Das Gesicht wurde von einem dichten, dunklen Bart eingerahmt, links und rechts davon hing sein langes, braunes Haar in wilden Strähnen vom Kopf herab. Ich blickte in die Untiefen seiner pechschwarzen Augen, wo ein kaltes Feuer loderte. Ohne jeden Zweifel erkannte ich ihn als meinen Vater. Mein Inneres war erfüllt von dem sicheren Wissen, daß er für mich da war, obwohl er im nächsten Moment schon wieder in der Gruppe verschwand. Trotzdem konnte ich die elektrische Spannung fast mit den Händen greifen, die von ihm ausging wie eine unverkennbare Signatur. Hier brodelte das Leben förmlich in der Luft und ich spürte, daß dies mein Zuhause war... doch plötzlich veränderte sich alles um mich herum.

Vor mir stand ein dünner Mann mit grauem Bart und dunkler Haut. Etwas stimmte nicht mit ihm, denn er ragte weiter in die Höhe als sein eigener Kopf. Seine sanften, braunen Augen musterten mich unverwandt, auf seinen Lippen lag ein seltsames Lächeln, das keine Fröhlichkeit ausstrahlte. Die Erscheinung war von oben bis unten in ein weißes Gewand gekleidet, unter dem sein langer Körper fast ganz verschwand. Normalerweise fürchtete ich mich nicht vor Fremden und schon gar nicht vor Besuchern im Haus meiner Eltern, aber diese Person jagte mir schreckliche Angst ein. Ich wollte so schnell wie möglich vor ihm flüchten, doch das ging gerade nicht. Über seiner Stirn thronte so ein langes, weißes Gebilde, von dem ich wußte, daß es "Turban" hieß. Allein das Wort trieb mir eisige Schauer über den Rücken und der Grund dafür war einfach. Diese Menschen nahmen die Dinger auf ihren Köpfen niemals ab, jedenfalls hatte ich noch keinen mit unbedeckten Haaren gesehen. So wie ich das sah, gab es dafür nur eine Erklärung: Unter dem Turm aus weißen Tüchern verbarg sich ein schreckliches Geheimnis. Diese Wesen hatten in Wirklichkeit grauenhafte, lange Köpfe, die sie vor uns zu verstecken versuchten. Es handelte sich bei ihnen überhaupt nicht um Menschen, sondern um Außerirdische; Reisende aus einer anderen Welt, deren Absicht wahrscheinlich darin bestand, uns alle unter ihren "Turbanen" verschwinden zu lassen, wo sie ihre Fresswerkzeuge unterbrachten. Ich verstand einfach nicht, warum meine Eltern sie in unser Haus gelassen hatten, aber ich wollte mich auch auf keinen Fall mit ihnen anlegen. Also versuchte ich, meine Panik zu vertuschen, denn vermutlich wären die Besucher sehr beleidigt gewesen, wenn sie davon gewußt hätten. Der unheimliche, riesenhafte Mann holte etwas aus den Tiefen seines Gewandes und reichte es zu mir herunter. Es war eine große, orangefarbene Hülle aus Pappe, vielleicht auch ein überdimensionales Buch, aus dem meine Mutter mir später vorlesen sollte. Ich nahm das Geschenk mit gebührendem Respekt entgegen, in der Hoffnung, auf diese Art noch einmal davonzukommen. Dann verschwamm die Szenerie vor meinen Augen.

Ich hockte mit einem Kasten voller Buntstifte auf dem Teppich meines Kinderzimmers, vor meinen Knien eine Platte aus Plastik, die als Unterlage zum Malen gedacht war. Meine Mutter hatte mir geholfen, das mehrfach gefaltete Papier flach darauf auszubreiten und nun war ich damit beschäftigt herauszufinden, an welcher Stelle ich die Farben zuerst verteilen wollte. Es war ziemlich schwierig, eine Entscheidung zu treffen, weil unendlich viele Pflanzen und Tiere das riesige Blatt bevölkerten. Alle die unzähligen Linien schienen miteinander verbunden zu sein, so daß ich nicht richtig sehen konnte, wo in dem schwarzweißen Gewirr eine Form aufhörte und die nächste anfing. Man hatte mir gesagt, alles würde einfacher werden, wenn ich erst einmal ein Tier oder einen Baum bunt angemalt hätte, doch eben das erschien mir unmöglich, ohne etwas in dem Bild kaputt zu machen. Wie gelähmt saß ich vor dem großen Bogen und starrte auf die belebte Landschaft hinab. Dort lag eine zusammengerollte Schlange im tiefen Gras, versteckt unter einem Baum, während sich hinter dem breiten Stamm ein Fuchs an sie heranschlich. Ein gieriger Blick funkelte in den Augen des Raubtiers, als es den schlafenden Riesenwurm anvisierte. Da öffnete die Schlange plötzlich ihre Augen, entrollte alle Windungen auf einmal und glitt blitzschnell zwischen den hohen Gräsern davon, um in einem runden Erdloch zu verschwinden. Der Fuchs sah seine Beute entkommen, drehte sich zum rückwärtigen Teil des Bildes und tauchte in den Schatten der Baumgruppe unter, aus der er sich angeschlichen hatte. Für mich erschien der ganze Vorgang vollkommen logisch, bis mir einfiel, daß die Tiere ja nur gemalt waren. Eigentlich konnten sie sich gar nicht bewegen, aber ich hatte es gerade genau gesehen! Wie unter einer Lupe war mir alles, was auf dem Bild geschah, viel größer vorgekommen als es sein sollte. Beinahe kam es mir so vor, als ob mir die Lebewesen mit dem, was sie taten, irgendetwas sagen wollten, das ich nur nicht verstand. Noch immer irritierten mich die vielen Flächen, Striche, Augen und Ohren auf der verschachtelten Zeichnung so, daß ich nicht wirklich sicher war, ob ich mir die Bewegung nicht bloß eingebildet hatte. Hektisch suchte ich die ganze Wiese nach dem Fuchs und der Schlange ab, konnte sie aber nirgends im Umkreis des großen Baumes entdecken. Jetzt traute ich mich aber auch nicht mehr, in der komischen Landschaft herumzumalen, klappte die einzelnen Sektionen des Faltblattes mehr schlecht als recht zusammen und kramte ein vertrautes Malbuch aus meinem Regal. Am folgenden Abend siegte die Neugier über meine Angst. Kurz vor dem Schlafengehen verließ meine Mutter das Zimmer, um ein Glas Wasser für mich zu holen. Da öffnete ich hastig noch einmal die Schichten des Papierstücks und tastete mit Augen und Fingern Schritt für Schritt die ganze Fläche ab. Schließlich fand ich den Fuchs tatsächlich wieder, nur befand er sich diesmal auf der anderen Seite des Bildes, wo das Tier reglos neben einem dicht belaubten Busch hockte. Wie es sich gehörte, bestand das fellige Wesen mit den spitzen Ohren bloß aus starren Strichen, die mit schwarzer Farbe dorthin gezeichnet worden waren. Und doch war es genau derselbe Fuchs, dem am Nachmittag die Schlange entwischen konnte. Den dicken Wurm mit der gespaltenen Zunge fand ich übrigens nirgendwo auf dem ganzen Blatt. In dieser Nacht schlief ich unruhig und träumte davon, wie sich alles auf dem Papier in Bewegung setzte, kreuchte, fleuchte, huschte und flog. Am nächsten Tag bat ich meine Mutter, das unheimliche Geschenk ganz fest zusammenzufalten. Wir steckten es sicher zurück in den orangenen Umschlag und ich erzählte niemals jemandem, was ich an diesem einen Nachmittag auf einem harmlosen Stück Papier gesehen hatte.

Das letzte Bild, was sich vor dem Erwachen in mein Gehirn einbrannte, zeigte eben jenes Faltblatt aus fernen Kindertagen, wie es in einem abgedunkelten Raum auf einer kleinen Tischplatte lag. Zu den Seiten hin verschwamm bereits alles, doch die Waldlandschaft voller Lebewesen erkannte ich deutlich im flackernden Licht einer Kerze wieder. Diesmal bewegte sich tatsächlich jedes Tier auf dem Bild, die Blätter der Pflanzen regten sich im Wind und absolut nichts stand dort, wo es einmal gewesen war. Als ich zu mir kam, wußte ich nur eines mit letzter Gewißheit: Das Geschenk war eine getarnte Karte und ich mußte sie unbedingt finden!

28. März 2010