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LITERATURBETRIEB/032: Schule und Bildung 3 (SB)


Alle Jahre wieder...

Lehrplanreformdiskussionen für den Deutschunterricht

zum neuen Schuljahr


Pünktlich zu Beginn des neuen Schuljahres haben die Lehrpanreformer in den Bildungsministerien und Fachausschüssen wieder das Wort. Denn der Lehrplan eines jeden Faches muß immer wieder neu auf seine Aktualität geprüft werden. Zudem stellt sich die Frage, ob die zur Verfügung stehende Unterrichtszeit sorgfältiger eingesetzt werden kann und das zur Zeit in Verruf geratene Niveau der deutschen Lerninhalte dazu befähigt, der Konkurrenz und den Leistungsanforderungen des europäischen Arbeitsmarkts standzuhalten.

Das baden-württembergische Kultusministerium fordert in seinen Plänen zur "Neuordnung der Oberstufe an Gymnasien", daß sieben Fächer - Deutsch, Mathematik, zwei Naturwissenschaften, zwei Fremdsprachen und Geschichte - verbindlich bis ins Abitur belegt werden müssen und zeigt damit die bildungspolitische Tendenz, den Deutschunterricht zu stärken. Auffällig ist, daß nicht nur eine Reihe weiterer Ministerien hauptsächlich der alten Bundesländer ein solches Vorhaben befürwortet. So meint zum Beispiel die Adenauer-Stiftung, daß die Bedeutung und Wirkung des Deutschunterrichts gar nicht hoch genug eingeschätzt werden könne: Kommunikationsfähigkeit, gesellschaftliche Integration, Berufs- und Studienreife - für all das sei der Unterricht in der Muttersprache die wichtigste Grundlage. Dabei solle es künftig auch wieder mehr um Orthographie, Grammatik und Interpunktion gehen; Nacherzählungen und Zusammenfassungen müßten ebenso wieder stärker geübt werden wie das Mitschreiben und Auswendiglernen, die Analyse und Erörterung. Entscheidend bleibe, daß möglichst viel gelesen werde, dabei solle das Lektürevolumen Vorrang vor einer "mikrochirurgischen" Analyse von Textauszügen haben. Zukünftig solle es in Deutschland keinen Schulabschluß ohne eine Prüfung im Fach Deutsch geben, fordert die Stiftung.

Ein Teil des Deutschunterrichts wird dabei zunehmend in den Randbereich gedrückt, der "Literaturunterricht". Dieser Bereich nimmt anteilmäßig höchstens noch ein Drittel der gesamten Deutschstundenzahl ein. Die eigentlichen inhaltlichen Schwerpunkte, sogenannte "Lernbereiche", beziehen sich auf die Zuträgerfunktion des Deutschunterrichts für fachfremde Gebiete: * Lernbereich "Reflexion über Sprache": in der Praxis nichts anderes, als vermehrter Grammatikunterricht, der als Zuträger für das Erlernen von Fremdsprachen dient und weniger als Mittel, das System der Sprache an sich besser zu durchschauen und damit Denken und Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern; * Lernbereich "mündlicher und schriftlicher Sprachgebrauch": 1. Betonung des Bereichs Rede und Gespräch bzw. Kommunikation und Argumentation, um Sprechtechniken durchschauen und sich im Beruf erfolgreicher durchsetzen zu können und weniger, um zum Beispiel mittels Dialektik Denkmöglichkeiten zu erweitern; 2. Vermittlung eigener Schreiberfahrung, die dem gleichen Zweck dient und weniger den Schwerpunkt darauf legt, das Schreibhandwerk zu erlernen und sich dem Leser erklärend, beschreibend oder erzählerisch zuzuwenden.

* Lernbereich "Umgang mit literarischen Texten": Mit der stärkeren Berücksichtigung kommunikations- und sprachwissenschaftlicher Fragestellungen geht das Bewußtsein darüber, warum in der Schule Literatur unterrichtet wird, zunehmend verloren, weil der größte Teil dieses Unterrichts entscheidend davon lebt, kulturelle Inhalte zu tradieren und damit nicht zweckbestimmt ist. Fast könnte man annehmen, der Literaturunterricht sei heute nur noch ein unterrichtsgeschichtlich bedingtes Anhängsel, das sich bald vollständig erübrigt oder in Randbereiche der Schule, d.h. Neigungs- und Arbeitsgruppen katapultiert haben wird. Literarische Bildung ist nicht mehr in den gesellschaftlichen Rationalisierungs- und Optimierungszwang einzupassen.

Sprachreflexion und die Auseinandersetzung mit alten und neuen sprachlichen Zeugnissen des Denkens und Handelns in unserem Kulturkreis, sprich Literatur, sollen den Lernenden in ihrem späteren Leben jene Orientierungshilfen geben, die das gesellschaftliche Überleben erträglicher machen. Das ließe eigentlich vermuten, daß ein durchdachter Literaturkanon sogar zum Mittelpunkt des Deutschunterrichts wird. Soll er doch - um den ausladenden Lehrplanwortgebrauch zu verwenden - den Grundstein für eine umfassende Herausbildung und Festigung der Persönlichkeit legen. Zugegeben, heutzutage sind dies sekundäre Fähigkeiten, die immer weniger von direktem Nutzen scheinen und als überflüssiges bildungsbürgerliches Relikt gehandhabt werden.

So stellt sich die Frage, inwieweit das Fach Deutsch heute noch zu den politisch bildenden Fächern gezählt wird. Literatur könnte durchaus in alltägliche Diskussionszusammenhänge miteinbezogen werden und gesellschaftskritische Funktion erfüllen. Die dem Literaturunterricht zur Zeit nachgesagte Praxisferne, die das gesellschaftliche Umfeld weitgehend ausspart, ist abhängig von bildungspolitischen Absichten und damit Schwerpunkten, die die aktuelle gesellschaftliche Situation festigen und nicht verändern sollen. Eine kritische Stellungnahme zu entwickeln, dafür ist kein Platz mehr im Lehrplan. Dementsprechend besteht heute wieder die Tendenz, die Interpretationsmethoden werkimmanent zu wählen. Ein Unterricht, bei dem das Interessanteste an einem Autor seine Zugehörigkeit zu einer Literaturepoche, das Wichtigste an einem Gedicht das metrische Schema und das Aufregendste an einem Sachtext der Gebrauch rhetorischer Figuren ist, erübrigt sich dann von selbst, denn er wird vor einem schlafenden Kurs gehalten.

Was bisher angesprochen wurde, betrifft die alltägliche Schulpraxis. Abgehoben davon - inhaltlich überfrachtet und unter schulischen Bedingungen in den Lernzielen unerreichbar - erscheinen, mit dem Maß des Stundenplans gemessen, die Rahmenrichtlinien, beispielsweise die des Landes Sachsen für den Deutschunterricht an Gymnasien. Da sie im Internet der Öffentlichkeit zur Diskussion angeboten werden, sind die vorangestellten allgemeinen Ziele für den Deutschunterricht hier als abschließendes Beispiel zitiert. Sieht man von der Praxisferne und den etwas idealistisch klingenden Formulierungen ab, lassen sich die oben angesprochenen Tendenzen in der Bildungspolitk erkennen:

Allgemein: Der Deutschunterricht im Gymnasium hat das Ziel, die Sprachkultur der Schüler auf ein hohes Niveau zu führen. Die Schüler achten und lieben die Muttersprache, pflegen und erhalten sie in ihrer Schönheit, wenden sich gegen Missbrauch, Verstümmelung und Verflachung und sind auf Vorbildwirkung bedacht. Sie verfügen über einen reichen Wortschatz, setzen ihn bedeutungsgerecht ein, beherrschen die Orthographie und Interpunktion; sie bilden wohlgeformte, grammatisch richtige Sätze, und sie halten ästhetische Normen der Gestaltung sprachlicher Äußerungen ein. Der Deutschunterricht gibt den Schülern eine sichere Basis, auf der das Vermögen sowie die Bereitschaft zur Kommunikation entwickelt werden können. Er stattet die Schüler mit allen Voraussetzungen aus, die für das Rezipieren und Produzieren komplexer Sprachleistungen benötigt werden. Der Deutschunterricht vermittelt den Schülern eine weite und tiefgründige literarische Bildung. Er macht sie mit wichtigen literarischen Werken der nationalen und der Weltkultur bekannt und prägt dadurch eine weltoffene Einstellung, die Liebe zur nationalen und Achtung vor fremder Kultur verbindet. [...] Der enge Zusammenhang zwischen geistigen und sprachlichen Prozessen, die Notwendigkeit, Gedachtes zu formulieren und Formuliertes zu verstehen, und die natürliche Funktion der Muttersprache stellen dem Deutschunterricht die Aufgabe, Grundlagen für a l l e Fächer zu schaffen, auf denen sich die kognitiven und sprachlichen Leistungen fachspezifisch entwickeln können. Der gymnasiale Deutschunterricht ist auch verantwortlich, allgemeine und individuelle Voraussetzungen für den Erfolg eines Hochschulstudiums oder einer Berufsausbildung zu schaffen. Er vermittelt grundsätzliche Verfahren und Methoden sowie Herangehensweisen, die für die Arbeit im wissenschaftlichen Bereich und in anspruchsvollen Berufen notwendig sind. Dazu gehören der Umgang mit Texten und ihre Auswertung, ihre geistige und sprachliche Durchdringung zur Erfassung und Fixierung des wesentlichen Inhalts, die erörternde Auseinandersetzung und ihre Formulierung, die sprachliche Wiedergabe eigener Denkergebnisse in adäquater Form, die Hinzu- ziehung von spezieller Literatur, Sekundärliteratur und Nachschlagewerken einschließlich des Wissens um Wege zu ihrer Auffindung und Beschaffung."
(aus: www.sn.schule.de/lp2001/deutsch.pdf)


Erstveröffentlichung am 31. August 2001

5. Januar 2007