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LITERATURBETRIEB/042: Profil 6 (SB)


Zum Tod von Max von der Grün - genannt Arbeiterschriftsteller


Wenn diese Menschen nun meist Arbeiter sind, wenn sie in meinem Werk erscheinen, dann ist das rein zufällig. Erstens sind es die Arbeiter, mit denen ich am meisten gelebt habe, und zweitens habe ich gefunden, erlebt, erfahren, erlitten, daß der Arbeiter, der Prolet, der interessanteste und vielseitigste Mensch ist.
(Max von der Grün im Brief vom 24.8.1974 an Franz Schonauer.)

Max von der Grün - sein Name ist untrennbar mit der literarischen Bewegung verbunden, die ihre Entstehungszeit in den 60er Jahren hatte und Anfang der 70er Jahre als "Politisierung der Literatur" ihren Höhepunkt fand. Seine zeitkritischen Romane wie "Stellenweise Glatteis" (1973) und "Flächenbrand" (1979) stießen auf großes Interesse. Mit seinen Themen - Rechtsradikalismus, Arbeitslosigkeit, politische Korruption - traf er den Geist der Zeit und erweiterte damit die "literarisch-künstlerische Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt der Gegenwart" in der "Gruppe 61".

Die literarische Tradition und Entwicklungsgeschichte der "Arbeiterliteratur", mit der er immer wieder in Zusammenhang gesehen wird, sei hier kurz aufgezeigt, damit man sich selbst ein Bild von der umstrittenen Zugehörigkeit seines Standpunktes machen kann:


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Literatur als Waffe? Welches Verhältnis zwischen Kunst und Kampfwert besteht, wurde von Franz Mehring über Georg Lukács und Bertolt Brecht immer wieder diskutiert. Arbeiterliteratur, als Literatur der Arbeiterbewegung und Literatur für Arbeiter hat sich seit der Entstehung des Proletariats und der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert entwickelt. Mit ihrer Hilfe sollte der ideologischen Beeinflussung der Arbeiter durch bürgerliche Literatur entgegengetreten werden und zugleich eine realistische Darstellung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse des Proletariats gegeben werden. Bis zum ersten Weltkrieg waren die literarischen Anknüpfungspunkte vor allem die Vormärzlyrik und das als fortschrittlich befundene Erbe der frühen Klassik.

Nach der Spaltung der Arbeiterbewegung 1918/19 in KPD und SPD änderte sich die Arbeiterliteratur durch Literaturexperimente der sich als revolutionär verstehenden Intellektuellen (F. Jung, E. Piscator) und durch die Arbeiterkorrespondentenbewegung der kommunistischen Presse. Weitere Impulse gingen von KPD- Schriftstellern wie J.R. Becher, E.E. Kisch oder A. Seghers aus. 1928 entstand aus allen zusammen der "Bund proletarisch- revolutionärer Schriftsteller" (BPRS) mit der Zeitschrift "Die Linkskurve". Nach Verboten schon während der Weimarer Republik wurde die revolutionäre Arbeiterliteratur ab 1933 verbannt, was als Tabu bis über die Adenauer-Ära hinausreichte.

1959 knüpfte die DDR-Literatur mit dem Bitterfelder Weg an die Tradition des BPRS an. In der BRD bemühte sich die Gruppe 61 um eine Wiederbelebung der Arbeiterliteratur. Sie bestand von 1961 bis 1972. Anknüpfend an die Tradition der Arbeiterliteratur der 20er Jahre gelang es ihr, diese Literatur mit Hilfe einiger Verlage durchzusetzen. Als Formen für den "sozialen (nicht sozialistischen) Realismus" dienten die Reportage (Erika Runge, Günther Wallraff), der dokumentarische Roman, Erzählung und Film (F.C. Delius, Christian Geissler, Max von der Grün), Lyrik (Josef Büscher, H.K. Wehren, G. Westerhoff, Hildegard Wohlgemuth) und Theaterstück (J. Büscher). Die Gruppe 61 ging ursprünglich aus der Zusammenarbeit von sechs zeitgenössischen Bergbau-Autoren hervor, die Texte in der von Fritz Hüser und Walter Köpping herausgegebenen Anthologie "Wir tragen ein Licht durch die Nacht" (1960) veröffentlicht hatten. Im "Archiv für Arbeiterdichtung und soziale Literatur" trafen sie mit Schriftstellern der älteren Generation (B. Gluchowski, P. Polte, H. Wohlgemuth) zusammen. Dort vermittelte ihnen der Gründer des Archivs, der Stadtbücherei- Direktor und ehemalige Stahlarbeiter Fritz Hüser, die Tradition der Arbeiterliteratur.

Es kam zur Krise, als die Frage entstand, ob die Gruppe so etwas wie eine Schreibschule für Arbeiter werden sollte. Max von der Grün, Erasmus Schöfer, Peter Schütt und Günter Wallraff setzten sich für diese Idee ein. Sie forderten die Abkehr von zu hohen ästhetischen Ansprüchen und die verstärkte Einbeziehung der Arbeiter in die Literaturproduktion. 1970 konstituierte sich nach diesen kontroversen Diskussionen in der Gruppe 61, von Schöfer und Schütt initiiert, der "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt" als eine eigene Gruppe, die sich theoretisch im BPRS verwurzelt sah und zunächst dokumentarische Literatur bevorzugte, um die Arbeiter auf die Wahrnehmung ihrer Interessen aufmerksam zu machen. In einer Taschenbuchreihe veröffentlichte dieser Werkkreis 1972 bis 1987 über 50 Bände.

In der Gegenwartsliteratur spielt die Arbeiterliteratur nur noch eine geringe Rolle.


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Max von der Grün ging es um die existenzielle "Grundsituation" des Arbeiters. Neonazismus, Parteienklüngel, Unternehmerwillkür, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung von Gastarbeitern, Behinderten und Alten, diese Themen finden sich in seinen Romanen und Reportagebänden. Er selbst lehnte die Bezeichnung "Arbeiterliteratur" für seine Werke ab, obwohl die Arbeitswelt Handlungsrahmen und Gegenstand der Auseinandersetzung der meisten Romane, Erzählungen, Fernsehspiele und Rundfunkfeatures von ihm ist. Im Unterschied zum "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt", der durch Schreiben Arbeiter politisieren wollte, setzte Grün später einen bestimmten Bewußtseinsgrad als Basis seines schriftstellerischen Tuns voraus.

Seine Lebensstationen sind kurz erzählt:

Am 25. Mai 1926 wurde Max von der Grün in Bayreuth/Bayern als Sohn einer Schuhmacherfamilie geboren. Nach Volks- und Mittelschule machte er begleitend zu einer kaufmännischen Lehre den Handelsschulabschluß und wurde Soldat. Nach dreijähriger amerikanischer Kriegsgefangenschaft absolvierte er eine Maurerlehre, ehe er, arbeitslos, als Tagelöhner unterwegs, im 1951 im Bergbau unterkam. Vier Jahre waren geplant, "um Geld zu verdienen", 13 Jahre wurden es, die er unter Tage plackte - nach einem Unfall 1954 nicht mehr als Hauer, sondern als Grubenlokomotivführer. Zweimal wurde er unter Tage verschüttet.

Seit 1964 lebte von der Grün als freier Schriftsteller. Er war einer der wenigen deutschen Autoren, die über keine akademische Bildung, nicht einmal über Abitur verfügen. Von der Grün engagierte sich als Mitglied in der Gruppe 61, im Verband Deutscher Schriftsteller (VS), seit 1964 im P.E.N. und seit 1970 in der Europäischen Autorenvereinigung DIE KOGGE.

Am 7. April 2005 starb Max von der Grün mit 78 Jahren in seiner Wahlheimat Dortmund/Nordrhein-Westfalen.

Er war einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Nachkriegszeit. Seine Arbeitsgebiete sind Novelle, Erzählung, Essay, Roman, Jugendbuch, Hörspiel, Bühnenstücke und Fernsehfilm, die Bücher haben sich millionenfach in mehr als 16 Sprachen verkauft, fast alle sind verfilmt worden.

1973 wurde er mit dem Roman "Stellenweise Glatteis" bekannt: Die Hauptfigur heißt Karl Maiwald, ein Arbeiter. Maiwald findet heraus, daß sein Betrieb mit einer getarnten Gegensprechanlage die Gespräche der Belegschaft abhört, protokolliert und gegen die Belegschaft verwendet. Er deckt den Skandal bei einer Betriebsversammlung auf, wird entlassen und erzwingt mit Hilfe der Gewerkschaften seine Wiedereinstellung. Aber er kann von der Verfolgung des Abhörskandals nicht lassen und geht damit nun vor allem der Gewerkschaft auf die Nerven und steht am Ende völlig allein.

Der zweite Roman "Irrlicht und Feuer" (1963) erzählt von der Unzufriedenheit des Arbeiters Jürgen Fohrmann. Max von der Grün bekam nach dem Erfolg des Roman Ärger. "Irrlicht und Feuer" wurde von den Zecheneignern als skandalöse Enthüllung des wahren Lebens in der Kohlengrube gelesen, worauf er entlassen wurde. Die Gewerkschaften standen auch nicht mehr auf seiner Seite, denn Max von der Grün beschrieb die Idee der Sozialpartnerschaft unter Tage als Klassenverrat und als "Bonzenhuberei".

Seinen größten Erfolg erzielte Max von der Grün mit seinem Jugendroman "Vorstadtkrokodile" (1976), der seit Jahrzehnten auf dem Lektüreplan für die Sekundarstufe I steht, so daß der Name Max von der Grün bis heute in der Altersgruppe der Zehn- bis Zwölfjährigen schon bekannt ist. Er erzählt die ebenso optimistische wie abenteuerliche Geschichte eines um Anerkennung kämpfenden behinderten Jungen.

In den achtziger Jahren wurde es ruhiger um Max von der Grün. In der Dienstleistungsgesellschaft waren seine Arbeiterhelden Fremde. Weitere Romane (Die Lawine, 1986; Die Springflut, 1990) finden in der Literaturkritik keinen Anklang mehr. Die Zeit, als man Literatur noch als Mittel politischer Aufklärung verstand, ist vorbei.


Erstveröffentlichung am 24. Mai 2005

5. Januar 2007