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LITERATURBETRIEB/043: Schule und Bildung 4 (SB)


Germanistik - ein Studienfach setzt sich zur Ruhe?


Die Germanistik ist nutzlos geworden - so sieht es zumindest zur Zeit für die Absolventen dieses geisteswissenschaftlichen Studienfachs aus. Der spätere Beruf steht nicht automatisch fest und mit dem Universitätsabschluß ist keine Orientierung gegeben, es ist noch alles offen.

Diese Unsicherheit im Selbstverständnis entsteht aus den neuen Herausforderungen an das Fach, zum Beispiel aus der Vereinheitlichung des europäischen Hochschulraumes (die Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen), aus der Tendenz, daß Deutsch als Wissenschaftssprache in einer wachsenden Zahl akademischer Fächer vom Englischen verdrängt wird, aus der Neudefinition der Deutschlehrerausbildung und den aus den verschiedenen genannten Gründen sich verändernden Studienstrukturen des Faches.

Der Bolognaprozeß sieht vor, daß bis 2010 die Abschlüsse Bachelor und Master in Europa harmonisiert werden. Die Bachelor-Ausbildung ist kürzer als die bisherige Ausbildung und sie soll eine deutlichere Orientierung an beruflichen Möglichkeiten beinhalten, was logischerweise zur Streichung der älteren Abteilung oder wissenschaftlicher Vertiefungen in ein Forschungsthema (Promotion) führt - von vielen Studenten wohl auch begrüßt, die gar keine Forscherlaufbahn einschlagen wollen. Erst mit der Masterausbildung wird der Weg in die traditionelle Hochschullaufbahn geöffnet (Promotion und Habilitation).

Diese Änderung der Studiengänge bedeutet gleichzeitig eine Verschulung der Universitätsausbildung, den Abschied von der traditionellen Volluniversität: Um das europäische Bildungswesen zu koordinieren, es also international verknüpfbar zu machen, wird mit Hilfe sogenannter "Module", eng eingegrenzter Stoffeinheiten, das Forschungsfach Germanistik zum geschmälerten Lernfach verändert. Zum Beispiel gibt es für den Bachelor als Angebot die Fachmodule Literatur und Medien, Literaturmanagement, Verlagswesen und Fachwissen Literaturwissenschaft. Der Masterstudiengang umfaßt Ergänzungsmodule wie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, schriftliche und mündliche Kommunikation und Grundlagen der BWL. Das Konzept klingt dynamisch, in Wirklichkeit ist es auf eine drastische Qualitätsminderung angelegt. Was dahintersteckt, sind schlicht Sparprogramme.

Zudem stehen die Studenten vor nicht minder großen Problemen nach ihrer gekürzten Berufsausbildung. Germanistik und Berufsbezug -wie könnte das aussehen? Wird man als Germanistikstudent später Lektor, Dramaturg, Übersetzer, Unternehmensberater oder Pädagoge, das heißt Deutschlehrer? Einige Kreative greifen zur Selbsthilfe: "Die Germanistikstudentin Michaela Holzer schreibt Liebesromane. Ihren ganz persönlichen, wenn Sie wollen." (DIE ZEIT 11.03.2004) Andere machen sich als Geschäftsbriefeschreiber in großen Konzernen unentbehrlich, es gibt Ich-AGs, die Aufträge für die Herstellung von Betriebschroniken (zu Jubiläen) oder von Biographien für geliebte Familienmitglieder erfüllen. Wieder andere schreiben Autobiographien auf Bestellung ("Medienagentur Rohnstock" oder die "Werkstatt für Memoiren", siehe Neue Zürcher Zeitung, 22. November 2002).

In den Modulen kommt die ursprüngliche Materie der Germanistik nicht mehr vor (Literatur- und Sprachgeschichte). Der Druck, sich in eine hypertext-mulitmedia-fremdsprachenoffenen Kulturwissenschaft zu verändern, scheint das Ende der akademischen Wissenschaft Germanistik zu sein. Sie vermeidet es heute, sich über den nationalen Gegenstand "deutsche" Literatur zu definieren, um sich international zu öffnen.

Gert Mattenklott, Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, beklagt die Tendenz der Literatur- und Geisteswissenschaften zur Selbstaufgabe und ihren mangelnden Sinn für Prioritäten

... weil unter dem allgemeinen Sparzwang als erstes die Fächer ins Visier geraten, denen man das Luxurieren nachsagt, und das geht immer besonders gegen die Geisteswissenschaften. Zum zweiten scheint mir, dass gerade eine sozialdemokratische Wissenschafts- und Kulturpolitik die Geisteswissenschaften mit besonderer Skepsis betrachtet: weil sie am wenigsten instrumentalisierbar und funktionalisierbar sind. Seit Jahrzehnten ist zu beobachten, dass in Ländern mit konservativen Regierungen die Geisteswissenschaften mehr Förderung genießen, was natürlich auch mit einem gewissen Wertkonservatismus zu tun hat.

[...] dass die Darstellung der Geisteswissenschaften im öffentlichen Bereich sehr zurückgegangen ist. Man braucht sich nur anzusehen, wie früher die Germanistik aufgetreten ist - mit dem Anspruch auf Sinngebung und Deutung - und wie sie sich in den letzten Jahrzehnten zu einer engen Spezialdisziplin rückentwickelt hat, die solche kulturellen Deutungsansprüche weitgehend aufgegeben hat.
("Seid selbstbewusst! Geisteswissenschaften in Not: Fragen an Gert Mattenklott", Süddeutsche Zeitung, 21.1.2002)

Die Germanistik galt bislang als eins der bedeutendsten Fächer der Geisteswissenschaften. Sie ist die Grundschule, in der viele ihre Vorstellungen von literarischer und kultureller Tradition erwerben. Vergleichbar nur mit der Geschichtswissenschaft hat die Germanistik die Verstrickung in den Nationalsozialismus aufgearbeitet, seit jüngere Professoren und Schriftsteller auf dem Germanistentag 1966 begonnen hatten, nach dem Verhalten ihrer akademischen Lehrer während des Nationalsozialismus zu fragen. Eberhard Lämmert, Walter Killy, Karl Otto Conrady und Peter von Polenz konfrontierten das Fach erstmals mit seiner NS-Vergangenheit und forderten Reformen, die den Wandel der Germanistik einleiteten - von einer Nationalphilologie mit rein werkimmanenter literarischer Ausrichtung hin zu einem Fach, das sich in seinem literarischen Deutungsrahmen der Sozialgeschichte öffnete (mit klar formulierten Interessen an Gesellschaftskritik und Gesellschaftsveränderung), die Linguistik als eigenes Fach neben der Literatur und der Mediävistik einführte, die Didaktik institutionalisierte und Anschluß an europäische Strömungen suchte.

Später formuliert Wilhelm Dilthey den Nutzen einer modernisierten Form der Geisteswissenschaften:

Die Herausforderung der Moderne liege seit der Französischen Revolution in den gesellschaftlichen Krisen. 'Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten ... ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur.'
(aus: DIE ZEIT 22.04.2004 Nr.18 "Selige Apathie. Welchen Nutzen haben Germanistik, Philosophie oder Kunstgeschichte? Die Geschichte einer falsch gestellten Frage, von Achatz von Müller)

Die Kenntnis von den "Kräften, die in der Gesellschaft walten" wird heute allerdings lieber totgeschwiegen. Eine internationale Fachtagung zur Zukunft der Germanistik in Europa mit dem Thema "Wohin steuert die Germanistik?" (vom 18. bis 21. Februar 2004, idw- Pressemitteilung Deutscher Akademischer Austauschdienst e.V., 12.02.2004) steht unter folgenden Fragestellungen:

Sektion 1: Germanistik, Deutschlandstudien und
Kulturwissenschaftliche Europäische Studien:
Entwicklungsperspektiven einer Germanistik in Europa

Sektion 2: Germanistik - Lehrerausbildung - Sprachunterricht

Sektion 3: Mehrsprachige Wissenschaft

Sektion 4: Berufsbezug und Praxisorientierung in der
Germanistik

Den Themen kann man entnehmen, wie standpunktlos und profillos die Germanistik sich heute gibt. Man müsse vor allem an den ausländischen Universitäten zu einem Selbstverständnis der Germanistik als Dienstleistung kommen. Statt einer Konzentration auf ihre Kernkompetenz geht es um Berufsvorbereitung und um europäische Identitätsfindung.

Bei den letzten beiden Fachtreffen in Bonn 1997 und Erlangen 2001 diskutierte man noch den Einfluß der neuen Medien und des Internets auf Literatur und Sprache, die das Fach vor gewaltige Herausforderungen stellen.

Schon drei Jahre später ist dies kein Thema mehr. Es geht um die Vorstellung, das ohnehin schon zersplitterte Fach in eine internationale und interdisziplinäre Zukunft transportieren zu müssen. Eine ganze wissenschaftliche Disziplin ist nicht nur verunsichert, sondern wird langsam vernichtet. Die europäische Vereinnahmung des Fachs und die Sprachangleichung bedeuten nicht nur eine Reduktion der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch eine durch staatliche, finanzielle Entscheidungen geförderte Vernichtung bestimmter inhaltlicher Richtungen.

Sollte es von weitreichendem staatlichen Interesse sein, das Denken unbemerkt durch Gleichmachung und Anpassung an diese favorisierte Entwicklung zu steuern? Damit würde die von Professor Mattenklott angesprochene Tendenz, daß Geisteswissenschaften mit besonderer Skepsis betrachtet werden, weil sie "am wenigsten instrumentalisierbar und funktionalisierbar sind", aufgefangen werden. Die Konzentration der Germanisten wird so von Kenntnissen über alte und neue sprachliche Zeugnisse des Denkens und Handelns - sprich Literatur - abgelenkt ebenso wie von einer Analyse des Sprachsystems an sich (um die Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern) - bisher immerhin Hauptgegenstand des Germanistikstudiums.

Daß zudem mit Studien zur Literatur intellektuelle, philosophische und politische Denkweisen zugänglich gemacht wurden, ist heute kein Gegenstand der Betrachtung mehr. Themen der Zeit - die neuen Erkenntnisse der Gen- und Hirnforschung, der kulturelle und soziale Zerfall der westlichen Gesellschaften, die Folgen von Migration und Globalisierung sind nicht in der Literaturwissenschaft angekommen. Ein "kultureller Kanon" existiert nicht mehr, Wissenschaft muß zu etwas von Nutzen sein. Fachwissen bleibt nur noch einigen wenigen Forschern hinter den verschlossenen Türen des anspruchsvollsten Studiengangs vorenthalten, einer Elite, und wird somit ein Privileg der "Gebildeten", ein Klassen- bzw. Herrschaftsmerkmal. Ansonsten bringt eine Neuschreibung, sprich Angleichung, des Germanistikstudiums zunehmend paßförmigerere, unkritische Bürger hervor.


Erstveröffentlichung am 3. Juni 2005

12. Dezember 2006