Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REDAKTION


REZENSION/017: Martin Walser - Statt etwas oder Der letzte Rank und Ewig aktuell (SB)


Martin Walser

Statt etwas oder Der letzte Rank und Ewig aktuell

von Christiane Baumann


Triumph der Sprache.
Neues zum 90. Geburtstag (24. März 2017) von Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank und Ewig aktuell

Sein Roman Ehen in Philippsburg, über die Zerstörung einer modernen bürgerlichen Ehe, machte Martin Walser 1957 bekannt. Mit der Novelle Ein fliehendes Pferd, der Geschichte zweier Ehepaare, die 2007 verfilmt wurde, gelang ihm eines seiner vermutlich schönsten und erfolgreichsten Bücher. Walser gehört zu den Großen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er studierte im Nachkriegsdeutschland Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie, promovierte 1952 zu Franz Kafka. Seine literarischen Anfänge sind mit der Gruppe 47 verknüpft, die im Westen Deutschlands mit ihren legendären Schriftstellertreffen eine Erneuerung der Literatur anvisierte. In Walsers Brief an einen ganz jungen Autor vom April 1962 werden diese Treffen erinnert. Zu lesen ist er in dem mehr als 600 Seiten umfassenden Band Ewig aktuell mit Aufsätzen, Äußerungen und Reden Walsers aus 60 Jahren, den Thekla Chabbi pünktlich zum 90. Geburtstag zusammengestellt hat. Die Sammlung zeugt von Walsers ungebrochener Produktivität, die in sechs Jahrzehnten ein umfangreiches Oeuvre entstehen ließ, neben Essayistik vor allem Prosawerke und Dramatik. Dazu gehört auch der jüngst erschienene Text Statt etwas oder Der letzte Rank.

Ein solcher Titel provoziert Fragen: Was wird "statt etwas" geboten? Ist Rank der letzte seines Namens oder der letzte seiner Art, der oder das allein noch Übriggebliebene? Bei einem Autor wie Walser, der über "Sprachhandlungen" nachdenkt und einen Essay mit Sprache, sonst nichts (1999) überschreibt, sind das berechtigte Fragen. Im Essay heißt es: "Je nötiger Gott wäre, umso deutlicher wird jetzt, dass er aus nichts bestehe als aus Sprache. Statt etwas haben wir Wörter." Die Sprache ist das "Statt etwas", das Göttliche. Auch der Nachsatz zum Titel weist auf die "Wörterwelt" (S. 70), wenn "Rank" mit dem Grimm'schen Wörterbuch als eine "Wendung, Drehung", eine "Krümmung des Weges" erklärt wird, "namentlich auch im Wettlaufe und bei der Jagd, die Wendung, die der Verfolgte nimmt, um dem Verfolger zu entgehen". Da versucht also einer, zu entkommen. Der Titel programmiert den Text, der keinen nacherzählbaren Plot bietet, stattdessen in 52 Kapiteln Reflexionen, Gedanken, Szenen, Gedichte und Träume. Es herrschen "Sprachhandlungen", in denen die "Draußen-Welt" (S. 24) nahezu verschwunden ist, die Sprache als "Hort aller Erfahrung" (S. 131) und immer wieder Sätze.

Das, was da erzählt wird, will als Roman gelten, das heißt, Walser besteht auf der Fiktion, die eine Übereinstimmung von Autor und Erzähler ausschließt. Das irritiert, denn diesen Erzähler gibt es so nicht, vielmehr eine Erzählinstanz, die mal als "Ich", mal als "Er" erscheint, ins "Du" wechselt und die Otto, Bert, Caro oder Memle heißt und damit keinen Namen und keine Identität hat, außer der biographischen Grundierung durch den Autor. Die erzählende Instanz ist ein Schriftsteller vorgerückten Alters, der Momente seines Lebens erinnert. Also doch Walser über Walser? Feinde und alte Fehden sind durchaus auszumachen, so der Freund-Feind-Kritiker Marcel Reich-Ranicki, der zum Schreibanlass für Tod eines Kritikers (2002) wurde, jenen Roman, den FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher dann kurzerhand als antisemitisch abstempelte. Da ist Walsers Rede 1998 in der Frankfurter Paulskirche zur Verleihung des Friedenspreises, deren Fehldeutung ihn in der Diskussion um ein Ende der Auseinandersetzung mit dem Holocaust - zu Unrecht - in die Ecke der "Schluss-Strich-Macher"[1] stellte. Ohne Frage: In Statt etwas oder Der letzte Rank oszilliert Biographisches, nicht zuletzt, wenn es um Walser und die Frauen geht, um alte Lieben, um das immerwährende Begehren und die unstillbare Sehnsucht nach Erotik. Doch im Chor des vielstimmigen Erzählens werden solche Gewissheiten durchbrochen. Der da erzählt, schlägt Haken, weiß "nichts" genau (S. 9), sucht ein Land, "in dem es Gewissheit nicht gab" (S. 70). Aus dem Spannungsverhältnis von narzisstischer Selbstbefragung und Sätzen, "die man nicht beweisen muss" (S. 59), weil sie für Allgemeingültiges stehen, bezieht der wortmächtige Text seinen Reiz.

Auslöser des Erzählens ist eine Heimsuchung, natürlich ein Satz, der den Roman eröffnet: "Mir geht es ein bisschen zu gut" (S. 9). Eine solche Gewissheit ist für den Erzähler, der meint, alles an Gewissheiten hinter sich gelassen zu haben, eine Zumutung, die er mit der Verabschiedung von Theorien und vom "Interessengewusel" (S.11) beantwortet. Das "Wahrheitsgewerbe" wird über Bord geworfen, "Wunder" (S. 10) werden möglich. Das klingt nach Übermut, zumal der Satz - Ironie der Geschichte - vom "Feind" (S. 35) stammt, aber auch nach Provokation: "Ich kenne keinen, den ich, wenn ich ihm sagte, es geht mir gut, nicht gegen mich einnähme" (S. 145). Mit subtiler Ironie und Komik wird da erinnert und philosophiert, schließlich die "Satzlosigkeit", ein "Schweigen, von dem nicht mehr die Rede sein müsste" (S. 11), zum Ideal erklärt. Warum dann so viele Sätze? Schreiben ist für Walser, wie es in Sprache, sonst nichts steht, die Antwort "auf einen Mangel", auf etwas, das uns fehlt. Und weiter heißt es: "Wenn es den Menschen gut geht, haben sie es schwer [...] Wenn es einem sehr gut geht, erträgt man praktisch nichts mehr." "Mir geht es ein bisschen zu gut" - ein Satz also als Schutzbehauptung, als Antwort auf Zumutungen, denen man vielstimmig und mit mantra-artigen Wiederholungen zu begegnen sucht? Sätzen wie:

"Mir geht es ein bisschen zu gut.
Zu träumen genügt.
Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt.
Ich hoffe mehr, als ich will." (S. 13) 

Das Ich nimmt das cartesianische "Ich denke, also bin ich" zurück, um es durch Sätze wie "Ich huste, also bin ich", "Ich leide, also bin ich" oder "Ich suche, also bin ich" und schließlich durch das tautologische "Ich bin, also bin ich" zu ersetzen. Dieses Ich ist völlig auf sich zurückgeworfen. Die "leere, musterlose Wand" (S. 15), die mit Gott zu tun hat und doch auch wieder nicht, denn Gott ist nur eine "Metapher" und somit Sprache, wird zur Projektionsfläche seiner Gedanken und Erinnerungen, ist seine "letzte Abhängigkeit", die angefragt wird, "ob sie's bringt, das Schützen-Können" (S. 46). Schutz vor den "Verfolgern", den Gegnern und Feinden, den "Lügen der Welt" (S. 13), vor den Mechanismen von Sein und Schein, dem öffentlichen Meinungszirkus, vor Machtausübung und -missbrauch, vor Gleichschaltung und Selbstzensur. Ironisch wird der Unmut über den Zustand der Welt verkündet, wie im gleichnamigen Gedicht:

"Der Winter hat es auch nicht leicht
sich gegen das Fernsehen zu behaupten
Schon bevor wir atmen, werden wir gezählt
Wer ausschert, ist erledigt. Aufpasser gibt es
Mehr als je zuvor. Wir sind eine Tugendrepublik
Was gut ist und was böse, sagt jetzt laut
der Soziologe." (S. 33) 

Das wirkt alles traumtänzerisch leicht, ist unterhaltsam, wären da nicht die Träume, die immer wieder zu Albträumen werden. Eine Reise im Zug entpuppt sich als Begegnung mit toten Zeitgenossen, einstigen Widersachern, die das Ich bis in den Tod verfolgen, so wie die Frauen in der "Gepäckablage" (S. 75). Im Traum wird die Autofahrt zum Internationalen Gerichtshof ein lebensgefährliches Unterfangen mit dem fatalistisch anmutenden Urteil: "Unschuldig schuldig" (S. 86). Todesangst lässt auch der Traum vom Jonglieren ahnen. Ohne Jonglieren geht es im Leben nicht, aber: "Viel sprach dafür, dass ich bald die Bälle fallen lassen musste und mich selber auch" (S. 158). Beklemmend die Angst vor Zungenkrebs, der den Tischler Nikolaus Riederle ereilte, weil er "mit dieser Zunge immer nur die Wahrheit sagte" (S. 87).

Wörter sind die einzige "Wehr" (S. 67) dieses Ichs. Doch Wörter wie "Erlösung" tragen plötzlich nicht mehr: "Durfte es Wörter geben, die nichts sagen? War das überhaupt ihre Funktion, nichts zu sagen? Uns etwas vorzumachen? Und uns genügte es dann, dass wir statt etwas ein Wort haben?" (S. 89). Das ist die eigentliche Heimsuchung des Erzählers: der Zweifel. Seine einstige Selbstgewissheit ist brüchig geworden. Genügt es tatsächlich, statt etwas ein Wort zu haben? Dieses Ich schreibt an gegen Entfremdung und Einsamkeit. Das nimmt zuweilen schizophrene Züge an, wenn der Erzähler die Ausstellung "Einsamkeit, eine europäische Erfindung" in einem "animierenden Flyer" mit "Schön, schöner, allein sein!" bewirbt und für sich notiert: "Es gibt keine die Lebensfähigkeit einschränkendere Bedingung als Einsamkeit!" (S. 90) Grotesk wird es in der kafkaesken Verwandlung in Viereckigkeit: "Alles in ihm und an ihm fühlte sich viereckig an." (S. 92) Am Schreibtisch erlebt er schließlich das "Wunder" seiner Erlösung aus der Viereckigkeit. Kafka schickt ihm seine (fiktive) Schwester Wilhelma. Das Schreiben wird - wie Walser für Kafkas Stil und Sterben konstatierte - zum "Stiltriumph über eine furchtbare Situation"[2]. Der "letzte Rank", laut Grimm'schem Wörterbuch auch eine "List", was Walser verschweigt, oder ein "versteckter böser Anschlag"[3], wie man weiß, ist der Versuch des Erzählers, dieser Welt zu entkommen. Dieser "Rank" mündet, Hölderlin zitierend, in die Forderung nach einer "Friedensfeier, aber bald" - was ein weiteres "Wunder" wäre, allein es fehlt am "Hölderlin-Mut" (S. 170). Am Ende bleibt die Sprache als Sehnsuchtsort.

Aus gegebenem Anlass hat sich Martin Walser immer wieder in das Zeitgeschehen eingemischt, mit seinen Wortmeldungen Widerspruch angemeldet und ausgelöst, was im Titel und Untertitel der Sammlung Ewig aktuell anklingt. Schreibanlässe waren immer ein empfundener Mangel, im Politischen vor allem der "Mangel an Gerechtigkeit"[4]. Der Holocaust, mit dessen Gräueltaten er sich 1965 als Beobachter im Auschwitz-Prozess unmittelbar konfrontiert sah, ließ ihn zeitlebens nicht los. In den 1960er Jahren entlarvte er den Vietnam-Krieg als "Perfektion des Völkermords"[5] - eine Haltung, die ihn an die Seite der politisch Linken brachte. Das war die Zeit der Achtundsechziger, in der er sich im Vorwort zu Erika Runges Bottroper Protokollen (1969) zu einem sozialkritischen Wirklichkeitsverständnis bekannte. Der Text fehlt im vorliegenden Band. Walser gehörte, wie die Sammlung dokumentiert, zu den Intellektuellen, die sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden wollten und die - im Gegensatz zu seinem verstorbenen Altersgenossen Günter Grass - ohne Einschränkung für die Wiedervereinigung eintraten. Nicht das ist ihm vorzuwerfen, wohl aber, dass er - auch im Unterschied zu Grass - diese ohne jedes kritische Bewusstsein begleitete. Das verdiente eine eigene Betrachtung.
Beide Bücher geben Anlass zur Beschäftigung mit Walser, nicht nur zum 90. Geburtstag, denn, um einen auf Ernst Bloch bezogenen Walser-Satz zu adaptieren, man feiert ihn dadurch, dass man Gebrauch macht von ihm.


Anmerkungen:

[1] Walser, Martin: Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass. Reinbek bei Hamburg 2017, S. 440.
[2] Ebd., S. 290.
[3] Weigand, Fr. L.K.: Deutsches Wörterbuch. Bd. II. Leipzig o.J., Sp. 524.
[4] Walser, Martin: Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass, Ebd., S. 611.
[5] Ebd., S. 96.


Walser, Martin:
Statt etwas oder Der letzte Rank.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2017.
171 Seiten,
16,95 Euro,
ebook 14,99 Euro,
ISBN: 978-3 - 498-07392-3


Walser, Martin:
Ewig aktuell.
Aus gegebenem Anlass
Hg. u. mit einem Nachwort versehen
Von Thekla Chabbi
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamnburg, 2017.
637 Seiten,
24,95 Euro
ebook 19,99 Euro
ISBN: 978-3-498-07393-0

23. März 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang