Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REDAKTION


REZENSION/020: Thorsten Palzhoff - Nebentage (SB)


Thorsten Palzhoff

Nebentage

von Christiane Baumann


Eine "Wende"-Reise nach Leipzig. Thorsten Palzhoffs Romandebüt Nebentage

Das Romandebüt von Thorsten Palzhoff beginnt wie ein Krimi, entpuppt sich jedoch als vielschichtige Identitätssuche. Erzählt wird die Geschichte von Felix Fehling, einem 1971 im Westfälischen geborenen Außenseiter, den es 1990 mitten in den "Wende"-Wirren aus dem Westen nach Leipzig, in die "Geburtsstadt" der Montagsdemonstrationen, verschlägt. Doch es ist kein "Wende-Roman", wie man annehmen könnte. Das Jahr 1990 liefert nur die Hintergrundfolie des Erzählens, wobei plastische Zeit-Bilder der Sachsen-Metropole, insbesondere aus der Hausbesetzerszene im Stadtteil Connewitz, entstehen. Nebentage - das sind "verlorene Tage", an denen man "ohne jeden Grund neben sich stehe" (S. 210). Davon gibt es im Roman genug, denn Felix Fehling schafft sich letztlich als "Erlösung aus einem falsch programmierten Leben" (S. 15) ab. Aus dem "Wessi" Felix Fehling wird in Leipzig der "Ossi" Tobias Voss.

Erzählt wird in der Rückblende. Den Erzählrahmen bilden drei Wochen in einem rumänischen Gefängnis, in dem sich Fehling alias Voss, nach einem Autounfall wiederfindet und mit seiner falschen Identität konfrontiert sieht. Er beginnt in den Tagen der Haft einer unbekannten Geliebten seinen Identitätsschwindel zu erklären. Zunächst kommen Bilder aus der Kindheit und Jugend eines Außenseiters zum Vorschein, dessen Geburt bereits von einem Unfall begleitet war, der seinen Zwillingsbruder das Leben kostete. Dann immer wieder Unfälle im miefig-muffigen Milieu einer westfälischen Kleinstadt der 1970er Jahre. Felix ist ein Sonderling, der von Klassenkameraden gehänselt und gemobbt wird und der wenig Förderung durch Elternhaus und Schule erfährt. Heimlich stillt er im Lexikon der Eltern seinen Wissensdurst. Malen und Zeichnen werden zum Ausdruck kreativer Weltaneignung, die letztlich dicke Skizzenbücher füllt und eine Art Trutzburg bildet. Die Mutter, nur noch als Mechthild erinnert, entledigt sich des Sohnes nach dem Tod des Vaters. Jahre im Internat schließen sich an und eine überforderte Großmutter kann Felix schließlich keine Perspektive bieten. Ein Brand wird zum Auslöser seiner Flucht in den Osten, die ihn nicht zufällig nach Leipzig führt, hatte er doch im Fernsehen die Bilder der Montagsdemos und von Menschen gesehen, die er um ihren "Mut" beneidete, sich mit einem neuen Leben zu beschenken, "einem Neubeginn, einem Zurücksetzen des in den Sand gesetzten Entwurfs" (S. 91). In Leipzig begegnet er Nica, einer Hamburgerin, die als Kind mit ihrer Mutter die DDR verließ und nun der Spur ihres Vaters folgt, der sich kurz nach ihrer Republikflucht das Leben nahm. So wie Palzhoff unprätentiös und ohne Klischees Felix' desolate Kindheit und Jugend ausbreitet, gelingt es ihm, authentische Bilder von Stasi-Überwachung und -Verhören, von Denunziation und emotionaler Erpressung zu schaffen, sie detailliert "aufzuzeichnen".

Nebentage ist weder ein "Wende"- noch ein "Anti-Wende-Roman", wie der 1974 im nordrhein-westfälischen Wickede geborene Palzhoff betont, aber eine bemerkenswerte Auseinandersetzung eines westdeutschen Autors mit jüngster deutscher Geschichte, wobei ihn das Ende der DDR kaum interessiert. Die Geschichte dreht sich vielmehr um jenen magischen Punkt, an dem im Osten für einen kurzen Augenblick eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus möglich schien. Das Scheitern dieser Bemühungen, die auf eine tatsächliche Revolution zielten, fällt mit dem Scheitern des Neuanfangs von Fehling alias Voss zusammen. Die "Revolution" findet im Leipziger Theater Schauinsland als französisches Revolutionsdrama Collot statt, wobei der Abbruch der Vorstellung Teil der Inszenierung ist. Mit den ersten freien Wahlen in der DDR, die im Roman reflektiert werden, war die Revolution Geschichte und, wie Palzhoff in einem Interview formulierte, "der Weg für jene Alternativlosigkeit geebnet, die uns heute umtreibt". Tobias Voss erlebt, wie nun Stasi-Methoden, Denunziation und Erpressung den gezielt betriebenen Ausverkauf der DDR bestimmen. Schließlich landet er 1995 aufgrund dubioser Praktiken eines westlichen Geschäftsmannes nach einem merkwürdigen Autounfall in einem rumänischen Gefängnis, wo plötzlich seine falsche Identität auffliegt.

Palzhoffs Roman bemüht einiges an tradierten Mustern. Nebentage lässt an Max Frisch's Stiller denken, den Roman eines Identitätsverlusts, in dem sich die Hauptfigur von Amts wegen im Gefängnis zur Niederschrift der Wahrheit gezwungen sieht und frei bekennt: "Man kann alles erzählen nur nicht sein wirkliches Leben". Anders als Stiller drängt es Tobias Voss zum Geständnis oder besser zur Erfindung eines Lebens, in dem immer wieder Figuren wie Marionetten herumgerückt und Szenen "skizziert" und ausstaffiert werden. Der Name Felix weckt Assoziationen an einen der berühmtesten Hochstapler der Literaturgeschichte: Thomas Manns Felix Krull, dessen Bekenntnisse sich aus dessen "eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen, Irrtümern und Leidenschaften" speisten. Felix' "Fehlismus" erweist sich jedoch als eine Art psychosomatisches "Schwindel"-Syndrom, das ihn in brenzligen Situationen aus der Bahn wirft. Erzählstil und die eine oder andere episodische Reminiszenz deuten auf Günter Grass, vor allem auf dessen Blechtrommel, vom Auge und "Guckloch" in der Insassen- und Heilanstalt respektive Knasttür bis zur nahezu grotesken Geburtsszene. Felix Fehling ist aber vor allem ein moderner Pinocchio, eine Marionette, die in ihrer Naivität und Ahnungslosigkeit von Abenteuer oder besser von Unfall zu Unfall stolpert, die ihr Dasein als "Folge weitervererbter Umstände und Unfälle, die man nachträglich Familiengeschichte nennt" (S. 15), erlebt. Für einen kleinen Moment scheint der Ausbruch aus sozialen Normen und gesellschaftlichem Korsett denkbar und möglich: am Schnittpunkt von Montagsdemos und Felix' Neubeginn mit Nica, seiner ersten Liebe in Leipzig, im Karneval, in dem bekanntlich, man denke an Goethes Das römische Carneval, alle gesellschaftlichen Schranken fallen, Freiheit und Gleichheit einen kurzen Triumph feiern und Zeitschriften wie gegensinn ein Zeichen setzen wollen, dass "der Kampf um ein gerechteres Leben mit dem Mauerfall noch längst nicht vorbei sei" (S. 126). Doch der Aschermittwoch, der dem Narrentreiben ein Ende setzt, ist bereits vorprogrammiert.

Nicht immer nimmt man dem eher unbedarften Erzähler Felix alias Tobias, der planlos durch sein vorgezeichnetes Leben schlittert und dessen Entwicklung von 1990 bis 1995 im Dunkeln bleibt, seine ernsthafte und fundierte Rechtfertigung ab. Spannend liest sie sich allemal. Am Ende der sorgfältig gebauten drei Mal sieben Roman-Teile, die mit der Dreizahl ins Mythisch-Märchenhafte weisen, steht ein Wunschtraum: die Utopie einer erfüllten und sich immer wieder erneuernden Liebe, die aber genauso schemenhaft bleibt wie das Schicksal Felix Fehlings.

Thorsten Palzhoff
Nebentage
Roman
Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 2018
333 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-10-059006-0

4. Juli 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang