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STICH-WORT/002: Sprachgeschichtliche Betrachtungen, "Dichter" (SB)


Dichter


"Deutschland - ein Volk der Dichter und Denker!", in diesen geflügelten Worten, deren Urheberschaft nicht so ganz festzumachen ist [1], kann man die inhaltliche Herkunft des Wortes "Dichter" schon erahnen. Er soll der Träger der hervorragendsten kulturellen Tätigkeit des deutschen Volkes sein. Das ist wahrlich eine große Aufgabe für die Person, deren Berufsbezeichnung für die Beschreibung einer großen sprachlichen Gemeinschaft steht.

Er selbst tut sich schwer mit dieser epischen Tradition. Kaum eine andere Person aus der Kulturgeschichte hat sich, was ihre Ambitionen, ihr gesellschaftliches Selbstverständnis, ihren Tätigkeitsbereich betrifft, so sehr gewandelt wie gerade der deutsche Dichter. Das gesellschaftliche Ansehen dieser Gestalt hingegen ist im Laufe der Jahrhunderte lange nicht solch großen Schwankungen unterworfen gewesen - meist wurde er verehrt, seine Werke beachtet und öffentlich diskutiert, seine Daseinsberechtigung nicht angezweifelt, wenn auch manchmal belächelt oder eingeschränkt, was dem Respekt vor seinen Werken, der sogenannten "Dichtung", keinen Abbruch tut.

Gehe ich im folgenden zunächst einmal der herausragenden Stellung des deutschen Dichters etwas gründlicher nach. Es darf jetzt schon verraten werden, daß diese Erforschung zu aufregenden Erkenntnissen führt. Das Wort "Dichter" erscheint erst im 12. Jahrhundert als das mittelhochdeutsche "tihtaere" [2] und hat keine Parallelen in anderen europäischen Sprachen. Ein entscheidender Bedeutungsunterschied besteht zu dem zu gleicher Zeit auch üblichen Wort für Dichter, "Poet", das vom griechischen Stammwort, dem Verb "poiein - machen, verfertigen", herkommt [3]. Das Wort "tihtaere" hingegen wird nicht von "machen", sondern von "verdichten" abgeleitet, also mit einem anderen Ursprung für die Ausdeutung seiner Tätigkeit. Das zugehörige Verb ist das mittelhochdeutsche "dihte, Adv. verdichtet" [4] und mittelniederdeutsch "dicht[e], dicht, fest; stark, zuverlässig" [5] Was verdichtet ist, ist fest und stark, man kann auch sagen konzentriert verwoben, der Dichter "wirkt", webt, spinnt Fäden, es wird ja auch vom "Stoff" gesprochen, den er verdichtet. Das beinhaltet also nicht nur das "Machen", sondern auch die Tätigkeit selbst, nämlich wie das Dichten gemacht wird. Mit ähnlichen Ideen mögen die Brüder Grimm sich bei der Bearbeitung des Wortes "Dichtung" der Bedeutung angenähert und sie weiterentwickelt haben:

dichtung, f. poesis. [...] 1. im allgemeinen die erhebung der wirklichkeit in die höhere wahrheit, in ein geistiges dasein. [...]. in diesem sinn nennt Göthe die beschreibung seines lebens dichtung und wahrheit: es soll damit kein gegensatz ausgedrückt werden, die wahrheit bezeichnet die wirklichkeit, aus welcher die dichtung als die blüte hervorsteigt; sie enthüllt und verdeckt zugleich. [6]

Hier ist das Verdichten (sprich "Wirken") in dem Wort Wirklichkeit enthalten, um das es geht. Bemerkenswert, daß betont wird, daß zwischen Dichtung und Wahrheit kein Gegensatz besteht, daß das, was ein Dichter schreibt, also nicht erfunden, sondern "wahr" ist. - Dieser Spur folgend, findet man erhellende Interpretationen über die Anfänge der Dichtkunst. Sie liegen im Mythischen und verleihen dem Dichter die mächtige gesellschaftliche Stellung eines Halbgottes:

Die Auffassung vom D. wandelt sich im Laufe der Zeitalter im Gefolge der Kunstanschauungen vom myth. Halbgott Orpheus, vom festlichen Sänger (z.B. Pindar), vom Seher-Dichter → vates, dem Offenbarer ewiger Ordnungen, in Rom zum gelehrter Dichter (→ poeta ductus), dessen handwerkliche Kunst erlernbar ist, im MA (bes. Meistersang) und Barock bis zu Boileau und Gottsched, vom "Originalgenie" des Sturm und Drang, das aus Empfindungstiefe und Intuition dichtet, über die universalist. poetische Lebensgestaltung der Romantik bis zum Zeitkritiker und Gesellschaftsanalytiker des Naturalismus..." [7]

Auch wenn die hier aufgezeigte Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung der Dichterpersönlichkeit aufschlußreich ist, auf die ich noch zurückkommen werde, sollen im folgenden erst einmal die Anfänge des Dichters im Mythos beleuchtet werden. Im keltischen Götterhimmel und bei den Germanen war der Dichter nämlich nicht nur Halbgott, sondern der oberste Gott des Götterhimmels und gleichzeitig der mächtigste Zauberer. Um dichten zu können, genauer gesagt, auch die Zauberei durch Worte zu beherrschen, verschaffte Odin sich mit List und Verschlagenheit den "Skaldenmet" (Skalde = Dichter). Nicht von ungefähr hat sein Name Ähnlichkeit mit dem altnordischen "ódr" in der Bedeutung von "Stimme, Gesang, Leidenschaft, Dichtung". Es ist anzunehmen, daß die lyrische Form "Ode", das vorgetragene Lied, nicht nur griechische Entsprechungen hat (grch. "oide", Gesang, Gedicht, Lied) [8].

Hier sei noch einmal betont, daß die Verbindung von Dichter und Zauberer einzigartig für den Ursprung des deutschen Wortes "Dichter" ist, der somit mächtiger als der griechische Orpheus gedacht ist. Odin ist gleichzeitig der Gott der Zauberei und der Dichtkunst, wohingegen zum Beispiel Zeus und Apollo zwei verschiedene Götter waren.

Ist es ein Traum und ein sehr verwegener Wunsch, so zu sprechen, daß man der Wirklichkeit ihren Bestand streitig macht? Davon wußte der gefürchtete Gott des keltischen Götterhimmels noch, und er besorgte sich durch List oder Heldentaten die Fähigkeit, diese Wortverwendung so zu beherrschen, daß er dichten und zaubern konnte. In den keltischen Mythen taucht er in vielerlei Gestalt mit jeweils etwas anderen Ausprägungen auf, zum Beispiel als der walisische Gwydion, als der irische Lug mit den Beinamen Samildânach, Dag oder Dagda, als der isländische Bragi oder als der germanische Wotan. Ihnen gemeinsam ist das Wissen über die Macht der Worte, eine Fähigkeit, die es entweder zu beschaffen oder zu behüten gilt.

Odin: Bei den Westgermanen Wodan, Wotan und Wuotan; oberster Gott der Asen; Herrscher der nordischen Göttergemeinschaft; [...]. Für den Trunk aus dem "Quell der Weisheit", dem Mimirsbrunnen unter der Esche Yggdrasil, opferte Odin Mimir [9] ein Auge. Mimirs abgeschlagenes Haupt, das die Vanen ihm zugesandt hatten, beantwortete ihm jede Frage. Durch List und Verwandlungskunst verschaffte er sich von der Tochter des Riesen Suttung den Skaldenmet, dessen Genuß ihn zum Gott der Dichtkunst und der Dichter machte. Daher war ihm die Runenmagie eigen und die Kunst der Zauberei durch Worte, die ihm den Gestaltwandel und die Überlieferung weiter Räume von einem Moment zum anderen ermöglichte. [10]

Die Erinnerung daran, daß der Dichter auch gleichzeitig der Mächtigste eines Volkes war, kann nur noch den Mythen entnommen werden. Es bleibt mit dem Wort "Dichter" im kulturellen Gedächtnis haften, daß es zu dem nicht mehr zugänglichen Bereich der Zauberei gehört, mit dem gesprochenen Wort die Wirklichkeit "gestalten" zu können, sie zu "verdichten", einen Griff auf die Dinge zu haben. Das Wort mußte das halten können, was es sagte und Neues schaffen, Wort und Wirkung durften nicht verschieden sein. Zeichnete ihn ursprünglich die Fähigkeit aus, seinen Worten die Macht dieser unfehlbaren Wirksamkeit zu verleihen, so ging diese im Laufe der Jahrhunderte immer mehr verloren und heute bleibt vergleichsweise nur noch eine Erinnerung daran in den besonderen Eigenschaften erhalten, die man ihm zuschreibt wie "Intuition" oder "Begabung", die ihm jedoch sozusagen zufliegen und über die er nicht wirklich verfügen kann. Die Wortverwendung in heutigen Dichtungen oder auch Gedichten muten wie die starken Wurzeln eines Baumes an, die aber nichts bewirken können, weil sie die Blätter nicht erreichen. Was den Dichter heute ausmacht, hat keinen Zusammenhang mehr mit seiner Ausgangsposition. Sein Nimbus ist stark verblaßt.

Von Goethe bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts haben die deutschen Dichter nicht angezweifelt, ob sie sich mit Poetik befassen sollen, es war selbstverständlich für sie. Gegenwärtig aber fragen sich die modernen Dichter, ob das überhaupt erlaubt ist. Ihr Selbstverständnis müssen sie sich mühselig neu erarbeiten, es mutet fast an, als müssten sie vor sich selbst rechtfertigen, daß sie überhaupt dichten. Ihre Selbstbestimmung ist gebrochen, sie haben keinen Zugriff mehr auf die Sprache, sie werden von ihr beherrscht. Dichtung scheint eher eine Fessel zu sein. Der Dichter ist kein "Sprachschöpfer" mehr, seine Worte sind nicht mehr lebendig, sondern nur noch laut. Bestenfalls vermißt ein moderner Dichter aus dem 21. Jahrhundert die Wortgewalt irgendwie und lenkt diese unbestimmte Sehnsucht in eine Art avantgardistische Abgeschiedenheit:

Andererseits bietet ein Bestehen auf der absoluten Freiheit der Lyrik [...] auch die Chance auf eine Art Widerstand, indem wenigstens das Gedicht ein Anrecht behält auf die Privatsphäre, die uns als die angeblich bloßen digitalen Nutzniesser immer tiefgreifender verwehrt wird. Gerade unter solchen Bedingungen darf die lyrische Sprache sich den Weg nach Innen suchen und ganz und gar selber entscheiden, wann sie sich dem Verständigungstrieb preisgibt. So bietet sich auch eine Möglichkeit, die Sehnsüchte in einer Parallelwelt in sich herumkreisen zu lassen, als ginge es gar nicht mehr darum, sie auch materiell zu realisieren. [11]

Ja, ein Gedicht wie eine Galerie durchstreifen, ein Gedicht verdutzt betrachten wie eine seltsame Installation, von allen Seiten drumherumgehen, oder schräg von der Seite bestaunen, vielleicht gar nicht wissen, was genau das ist oder 'bedeuten' soll, aber von seiner Fremdartigkeit angezogen sein, immer wieder zu ihm als einem Gegenstand zurückkehren, der, sowie er ein neues Detail an sich enthüllt, zugleich immer auch ein neues Rätsel aufgibt. [12]

Von Zielsicherheit im Wortgebrauch und Übertragungskraft keine Spur...
Erinnert sich noch jemand an Odin?


Anmerkungen:
[1] "Deutschland - das Volk der Dichter und Denker" - diesem sogenannten "geflügelten Wort" einmal nachgegangen, stellt sich heraus, daß es auf die "Volksmärchen der Deutschen" (1782) von Karl August Musäus zurückgeführt wird. Er schreibt in der Einleitung: "Was wäre das enthusiastische Volk unserer Denker, Dichter, Schweber, Seher ohne die glücklichen Einflüsse der Phantasie?" (siehe Duden "Redewendungen", Wörterbuch der Idiomatik, Mannheim 2002, S.825). - Andere Beschreibungen führen die Baronin Anne Louise Germaine de Staël-Holstein als Urheberin dieser Idiomatik an. Sie spricht in "De l'Allemagne" (1813) von den Deutschen als den dichtenden und denkenden Menschen.
[2] Der große Duden, Etymologie, Mannheim 1963, S. 108
[3] Der große Duden, Etymologie, Mannheim 1963, S. 518
[4] Beate Henning: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Niemeyer Verlag, Tübingen 2001, Seite 53
[5] Der große Duden, Etymologie, Mannheim 1963, S. 108
[6] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Band 2, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1984, Seite 1071, Stichwort: dichtung, f. poesis.
Das "Deutsche Wörterbuch" der Brüder Grimm (erster Band 1854) ist in Kleinschreibung verfaßt (mit Ausnahme von Satzanfang und Eigennamen); Jakob lehnte die "höchst philisterhafte erfindung der großen buchstaben" als Relikt der absolutistischen Feudalzeit kategorisch ab.
[7] Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2001, S. 168
[8] "Wut f. althochdeutsch. wuot 'Raserei'. [...] neben dieser Sippe steht altgermanisch. woth 'Stimme, Gesang', altnordisch. odr 'Leidenschaft, Poesie'. Die Bed. vermittelt das urverw. lat. vates 'gottbegeisterter Sänger' (altirisch fáith 'Dichter'), [...]. Wahrscheinlich gehört zur selben Sippe der Göttername Wodan (althochdeutsch. Wuotan [...], altnordisch. Odinn") - siehe Friedrich Kluge, Etymolgisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 18. Auflage, Walter de Gruyter & Co., Berlin 1960, S. 873
[9] Mimir ist der weise Riese, der am Fuß des Weltbaums Yggdrasil wohnt. Dort hütet er eine Quelle, deren Wasser Weisheit und Sehertum schenkt.
[10] Herbert Gottschalk: Lexikon der Mythologie, Heyne, Berlin, 1982, S. 394
[11] siehe Poetenladen, LYRIK-KONFERENZ, Erstes Statement, Lucas Hüsgen, In einer Hoffnung auf Wildnis
http://www.poetenladen.de/lyrik-konferenz.htm
[12] siehe Poetenladen, LYRIK-KONFERENZ, Fünftes Statement, Jan Volker Röhnert, Poesie und Gedicht
http://www.poetenladen.de/lyrik-konferenz-jan-volker-roehnert.htm

5. November 2011


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