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BERICHT/005: Literatursommer Schleswig-Holstein 2010 - Arno Surminski liest in Itzehoe (SB)


Heimat ist da, wo man sich wohlfühlt


Stunden-, ja tagelang könnte er Texte lesen, die etwas mit Polen zu tun haben. So der Schriftsteller Arno Surminski bei seiner Lesung im Wenzel-Hablik-Musuem in Itzheoe am 8. August im Rahmen des Schleswig-Holstein Literatursommers, der, wie viele andere Kulturveranstaltungen in diesem Jahr, unter dem Länderschwerpunkt Polen steht. "Was heute Polen ist und damals Deutschland war", fügt er ganz unprätentiös hinzu, kein Bedauern, kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. In Jäcklack bei Rastenburg in Ostpreußen ist er 1934 geboren, hat seine Kindheit dort verbracht, bis zur Flucht im Jahre 1945. Da war er 11 Jahre alt. Die Eltern wurden von der Roten Armee deportiert, er hat sie nie wiedergesehen und erst im Jahr 2000 erfahren, wo sie umgekommen sind.

Bücher von Arno Surminski - Foto: © 2010 by Schattenblick

Bücher von Arno Surminski
Foto: © 2010 by Schattenblick
Einen besseren Autoren, so die Leiterin des Museums, Katrin Maibaum, hätte sie sich für die Veranstaltungsreihe nicht wünschen können, steht Surminski doch nicht nur für Kenntnis- und Erfahrungsreichtum in der Materie, sondern auch für Aussöhnung und Verständigung.

Versuche von Vertriebenenverbänden, ihn als einen der ihren zu vereinnahmen, sind fehlgeschlagen. Ihn interessiert das Schicksal der Menschen. Flucht, Verschleppung, Vergewaltigung, das sind für ihn die Themen, um die es eigentlich geht, nicht Vertreibung, denn die hat immer mit Eigentum zu tun, mit dem, 'was Deutschland verloren hat'. "Für mich selbst", sagt er, "war die Vertreibung ein Segen, sonst wäre ich verhungert."

Verständigung und Europa, was für ihn zusammenzugehören scheint, "das ist so ein bißchen meine Philosophie", verrät der Autor dem Publikum im Saal, der mit ca. 60 Personen, nicht wenige davon offensichtlich mit ostpreußischen oder auch schlesischen Wurzeln, wie man aus Gesprächen am Rande der Veranstaltung mitbekommt, bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Dabei erscheint Europa idealisiert unter dem Aspekt des Wegfalls von Grenzen, von nationaler Enge und Engstirnigkeit, weniger unter dem, wovor sich seine Bürger, auch die Polens, fürchten: mit dem Etikett größerer Freiheit und Freizügigkeit abermals auf die Seite der Verlierer abgeschoben zu werden. Mangelnde Öffentlichkeit und Transparenz von politischen und gesetzgeberischen Entscheidungen, Einschränkung und Bevormundung durch EU-Richtlinien, zunehmende Kompetenzverluste parlamentarischer Kontrollinstanzen und damit ein Abbau von Demokratie - das Zögern einiger Länder und die, wenn auch nur vorübergehende, Weigerung vieler seiner Bewohner, den Verträgen von Lissabon zuzustimmen, waren ein deutlicher Ausdruck solcher Sorgen.

Zugewandtes Publikum - Foto: © 2010 by Schattenblick

Zugewandtes Publikum
Foto: © 2010 by Schattenblick

An diesem Sommersonntagnachmittag beginnt Arno Surminski seine Lesung mit einer Passage aus dem Roman Polninken (1980) über eine deutsch-deutsche Liebe zu einer Zeit, als der Weg zwischen West und Ost noch weit war - weiter als der zwischen Australien und Deutschland - "aber für die Liebe ein Katzensprung".

In Polen treffen in einer Gewitternacht Ingo aus Lübeck und Irene aus Jena mit Kasimir in dessen Stube bei Wodka und Tee zusammen. Wie weit sie voneinander entfernt wohnen, will der alte Mann von dem jungen Paar wissen. Zwischen Lübeck und Jena sind es vielleicht 500 km Luftlinie, aber die Grenze für Liebende zwischen Ost- und Westdeutschland ist nahezu unüberwindlich. "Wie geht es an eurer Grenze zu?", fragt er weiter. "Niemand darf seine Maruschka besuchen", lautet die Antwort, "weißt du das nicht?". "Was machen die Grenzsoldaten, wenn ein Mensch unangemeldet über die Grenze gehen will?" - "Sie schießen." Für den alten Mann ist es ganz unvorstellbar, daß es mitten in Deutschland eine Mauer geben soll, "4,20 m hoch, fast wie ein Haus, obendrauf ein 30 cm dickes Eternitrohr, damit die Hände keinen Halt finden und abrutschen." Er hält das für Propaganda und die Mauer bestenfalls für eine aus Pappe. "Die Deutschen seien immer gut in Propaganda gewesen."

Mit der Einfachheit und Unsentimentalität fast eines Kindes setzt Surminski Worte und Sätze, die die Absurdität dieser und anderer Grenzen spürbar werden lassen. Solch eine Mauer wäre, meint Kasimir, "eine Strafe, die in keinem Geschichtsbuch vorkommt." Vielleicht wurde sie von der Sowjetunion gebaut oder den Amerikanern oder von den Siegermächten zusammen, aber daß die Deutschen sie selbst gebaut haben, will er nicht glauben.

Für den Polen gibt es gute und schlechte Menschen auf beiden Seiten, in Polen und in Deutschland, saubere und schmutzige, faule und fleißige kommen überall vor, aber in Warschau eine Mauer zu bauen, mitten durch die eigene Stadt - das würde den Polen niemals einfallen. "Eher trocknet die Weichsel aus." Und sollten sie dazu gezwungen sein, würde sie mit Sicherheit schief stehen und bald umfallen, und würden sie gezwungen, an einer solchen Grenze zu schießen, sie würden in den Himmel schießen, niemals aber auf den eigenen Bruder. Es sind die leisen, die behutsamen Töne, die der Schriftsteller bevorzugt, eher Unterschwelliges, das umso zielsicherer in das Ohr des Zuhörers fällt - und weiter. Arno Surminski liest, wie er schreibt.

Arno Surminski - Foto: © 2010 by Schattenblick

Arno Surminski
Foto: © 2010 by Schattenblick

In einer zweiten Erzählung heißt es: "Das Paradies, das gibt es, aber es ist nicht leicht zu finden, es ist ein winziger Fleck, den man leicht verfehlen kann". Und es hat eine verdammte Ähnlicheit mit dem Ort, an dem der Protagonist der Geschichte, der Schuster Kristan, zu Hause war - Kalischken - das er auf der Suche nach eben diesem Paradies verlassen hat. Aber man muß sich beeilen, dorthin zu kommen, "denn bald gibt es keine Paradiese mehr". Heimat und Paradies. Für den, der selbst sein Zuhause früh verlassen mußte, seine Menschen verlor, der die neue Heimat als junger Mann noch einmal freiwillig aufgab, um als Holzfäller nach Kanada zu gehen und, vom Heimweh getrieben, zurückkehrte, liegt das nahe beieinander.

Passend zum Thema Polen auch die Episoden Surminskis aus seiner Sammlung ostpreußischer Geschichten Aus dem Nest gefallen (1976), die längst ins Polnische übersetzt wurde. Die masurische Eisenbahnreise erzählt aus einem "Land ohne Eile, das gern die Zeit verschläft und seine Menschen die Langeweile lehrt".

In einer nächsten Geschichte um eine deutsch-polnische Schatzsuche geht es noch einmal um die Absurdität von Grenzen, um Verbindungen zwischen Deutschen und Russen, die in Kriegszeiten und jenseits offiziell verordneter Feindschaft Achtung und Zuneigung füreinander entwickeln, aber auch um das schwierige Verhältnis zwischen einem Vater und seinem Sohn. Erst die gemeinsame Reise zu dem Ort in Polen, den die verstorbene Großmutter auf einem Papier, in ihrem Gesangbuch mehr als 40 Jahre aufgehoben wie ein Lesezeichen, als die Stelle angibt, wo sie etwas Wertvolles versteckt hat, bringt die beiden ins Gespräch. Viele Menschen vergruben damals, 1944, vor ihrer Flucht ihre Habe im Glauben an eine baldige Rückkehr "später, wenn die Welt in Ordnung ist" - Dokumente, das 'gute Geschirr', Silberbesteck, "Waffen aus der Franzosenzeit, Säbel aus der Kosakenzeit." Auch hier reichen dem Autor wenige, einfache Worte, um die wechselvolle Geschichte Polens, fast immer unter fremder Herrschaft, ins Bewußtsein des Zuhörers zu holen.

So ist der Osten nicht nur ein Gräberfeld, sondern auch "ein weites Feld für Schatzsucher". "Warum hat Oma die Sachen vergraben?", will der Junge wissen. "Wie konnte sie denken, zurückzukehren, es war doch klar, das keiner zurückkommt." "Heute ist es klar", antwortet der Vater. "Daß Millionen Menschen für immer reisen mußten, daß ein 500 km breiter Streifen mitten in Europa entvölkert sein würde, das überstieg ihre Vorstellungskraft; es war auch noch nie vorgekommen." Je weiter die beiden nach Osten kommen, um so mehr Fragen haben sie aneinander. Und sie sprechen. "Jeder Vater", läßt der Autor diesen sagen, " sollte mit seinem Kind einmal auf Reisen gehen." Und: "Was deutsche Flüsse oder polnische Landschaften betrifft, so wird es Zeit, daß wir diese besitzanzeigenden Beinamen vergessen".

Was sie am Ende finden, ist kein Schatz, sondern ein Grab, die Überreste von Gregor, einem russischen Kriegsgefangenen, der zweieinhalb Jahre auf dem Hof gearbeitet hatte. Oft habe er mit ihm abends vor der Scheune gesessen und sie hätten sich gegenseitig die Zahlen beigebracht - auf russisch und auf deutsch. Als die Rote Armee anrückt, dachte Gregor, jetzt kommen seine Leute und mit dem Krieg und der Gefangenschaft hat es ein Ende, spekuliert der Vater. Aber dann haben die Deutschen das Dorf zurückerobert und da habe er sich vielleicht umgebracht, weil er es nicht mehr aushalten konnte, vor lauter Heimweh. So werden die Schatzgräber zu Totengräbern, kehren mit nichts als mit ein paar vertrockneten Sonnenblumen zurück. Für Vater und Sohn aber war die Reise nicht umsonst.

Im Gespräch mit den Lesern - Foto: © 2010 by Schattenblick

Im Gespräch mit den Lesern
Foto: © 2010 by Schattenblick

Der Nachmittag endet mit einer versöhnlichen Geschichte um das Thema Vergangenheitsbewältigung. Im Jahre 1975 begleitet die russische Studentin Irina westliche Touristen in einem Reisebus durch Leningrad. Sie versäumt dabei nicht, stolz die Vorzüge des Sozialismus zu preisen. "Solche Menschen braucht man zum Vorführen" heißt es. Dann kommt eine Uhr ins Spiel, die der Geschichte auch ihren Namen gab: Irina oder die Uhr. Sie verknüpft sinnbildlich Menschen verschiedener Herkunft und Geschichte, die in der Vergangenheit für beide Seiten eine leidvolle war. Irinas Uhr, vom russischen Vater aus dem großen vaterländischen Krieg mitgebracht und der Mutter zur Hochzeit geschenkt, ist eine deutsche Uhr. Und offensichtlich gehörte sie jener deutschen Touristin, die jetzt mit im Bus sitzt. Vor 30 Jahren, in einem Straßengraben auf der Flucht, wurde sie ihr von einem russischen Soldaten genommen. Ob Schlimmeres passierte, läßt sich nur mutmaßen. Bevor es zu einer Eröffnung zwischen beiden Frauen kommt, die alte Leiden und neue Forderungen auferstehen ließe, besinnt sich die Deutsche. Man muß einmal damit aufhören, muß "die Uhren, die das Böse im Kreis herumdrehen", zum Stillstand bringen, der V ergangenheit ein Ende setzen. Auch das sicherlich ein Credo des Autors.

Man hätte sich für die zum Thema gut gewählten, nicht ganz neuen Geschichten, die nur einen kleinen Blick auf das umfangreiche Werk des Schriftstellers und seine Themenvielfalt werfen konnten, keinen schöneren Ort, wohl aber eine bessere Akustik gewünscht, ohne ein Mikrofon, das durch Halleffekte das Hörvergnügen einschränkte. "Ich lese", so eine Zuhörerin in der Kaffee- und Kuchenpause, die den Vortrag unterbrach und einigen die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch untereinander und mit dem Schriftsteller eröffnete, "seine Bücher lieber, als hier zuzuhören." Das sei auch jedem, der Arno Surminski noch nicht kennt, empfohlen - allein schon der Sprache wegen, die ohne jedes Ausrufezeichen auskommt.

Es wäre ein Leichtes, die Veranstaltung als nostalgischen Kaffee-Vorlese-Nachmittag vor persönlich betroffenem Publikum abzutun. Aber das würde nicht viel mehr als ein weiteres Klischee bedienen. Denn, auch dies ein Satz von Arno Surminski: "Alle Kriege sind miteinander verwandt."

Der Autor mit seiner Frau - Foto: © 2010 by Schattenblick

Der Autor mit seiner Frau
Foto: © 2010 by Schattenblick

Vor der Lesung, veranstaltet vom Wenzel-Hablik-Museum zusammen mit der Itzehoer Buchhandlung Gerbers, hatte der Schattenblick die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit dem Schriftsteller.

Schattenblick: Herr Surminski, es heißt, Ihr Erfolg als Schriftsteller habe sich erst eingestellt, als Sie anfingen, Ihre eigene Geschichte zu schreiben, Ihre Kindheitserlebnisse in Ostpreußen, wo Sie geboren sind, Ihre Erfahrungen mit Krieg, Vertreibung und Flucht, nicht autobiografisch, sondern in Romanen und Erzählungen. Sie werden deshalb häufig als Autor von Heimat- und Vertriebenenromanen bezeichnet. Bedeutet diese Kategorisierung Lob oder Last - oder handelt es sich dabei vielleicht nur um ein generelles Mißverständnis?

Arno Surminski.: Es stimmt, daß mit Jokehnen, dem ersten Buch, das meine Kindheit in Ostpreußen beschreibt, der Erfolg einsetzte, ja. Die weiteren Bücher betreffen nicht alle Ostpreußen, sondern auch Amerika und sonstwas. Aber immerhin, es sind viele, die auch Ostpreußen betreffen und die Ostpreußen haben mich schon als einen ihrer Schriftsteller akzeptiert. Wenn die Begriffe Heimat und Vertriebene nicht so negativ besetzt wären, hätte ich auch nichts dagegen, mich als Heimat- und Vertriebenenschriftsteller zu bezeichnen. Aber das schöne Wort Heimat ist in den Geruch von rechtsradikal geraten, und deshalb ist mir das nicht ganz so recht, weil das eigentlich nicht in meinem Sinne ist. Es ist auch nicht in meinem Sinne, nur über das Schicksal der Vertriebenen zu sprechen oder zu schreiben. Das tue ich auch nicht. Alles, was da war, kommt vor, nicht nur die Vertriebenen. Insofern schmerzt mich diese Bezeichnung ein bißchen.

SB: Sie sollen einmal gesagt haben, das Wort Heimat sei Ihr liebstes Wort. Was bedeutet für Sie Heimat?

AS.: Heimat bedeutet nun nicht unbedingt, was man so denkt, ein Haus mit einem Garten und einen Hof usw. Für mich hängt Heimat mit Menschen zusammen. Ein menschenleeres Dorf, auch wenn ich alles kenne, aber es ist kein Mensch da, ist für mich total heimatlos, da ist nichts. Und ich hab' das als Kind ja erlebt. Als meine Eltern schon weg waren, und ich wußte, in meinem Dorf lebt niemand mehr, bekam ich furchtbares Heimweh dahin. Ich war fünf Kilometer davon entfernt und ich bekam Heimweh nach diesem verlassenen Dorf. Da bin ich hingegangen und das war eine furchtbare Enttäuschung.

SB: Weil es leer war?

AS.: Weil niemand da war, und alleine an Mauern und Bäumen kann man sich nicht festklammern. Das war mein Erlebnis von Heimat. Heimat ist im Grunde genommen ein schönes Wort. Im Englischen gibt es das nicht, überhaupt in keiner anderen Sprache, das ist eine typisch deutsche Geschichte. Und ich find das schön. Aber da ist mehr dran als Grund und Boden oder so etwas, das ist da, wo man sich wohlfühlt. Es ist ja so, niemand hat Heimatgefühle nach einem Gefängnis, in dem er war. Heimat ist immer nur da, wo man sich wohlgefühlt hat. Und das ist als Kind meistens zu Hause.

Arno Surminski beim Interview - Foto: © 2010 by Schattenblick

Beim Interview
Foto: © 2010 by Schattenblick

SB: Sie haben neben anderen Auszeichnungen auch den Andreas-Gryphius-Preis und den Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen für Ihren Beitrag zur Aussöhnung und Verständigung bekommen. Wie geht Verständigung aus Ihrer Sicht? Und welche Rolle könnte die Literatur dabei spielen?

AS.: Verständigung geht aus meiner Sicht nur durch den persönlichen Kontakt. Die Leute müssen hinfahren, miteinander sprechen, miteinander ein Bier trinken usw. Das ist das, was letzten Endes zählt, nicht die großen schriftstellerischen Dokumente und sowas alles, das ist nicht unbedingt Versöhnung. Es ist ja so, im persönlichen Verhältnis zwischen Deutschen und Polen ist eine wunderbare Harmonie. Was schlimm ist, ist in den oberen Rängen, in der Politik. Da wird das zum Teil als Thema benutzt, um damit Politik zu machen, antideutsche oder antipolnische oder was auch immer. Aber sonst, ich wüßte gar nicht, mit welchen Nachbarn wir so gut zurechtkommen wie mit den Polen.

SB: Haben Sie auch Lesereisen in Polen?

AS.: Ja, da habe ich auch mal eine Lesereise gemacht. Obwohl ich nicht Polnisch kann, das hat dann die Dolmetscherin für mich übernommen.

SB: Sie haben Deutsch gelesen und das wurde dann übersetzt?

AS.: Ja, das wurde übersetzt.

SB: Sie haben gerade gesagt, die großen Schriftsteller spielen bei der Verständigung eher eine geringe Rolle. Spielt denn Literatur überhaupt eine Rolle oder könnte sie eine Rolle spielen, das Lesen von Büchern?

AS.: Ich meine schon. Von mir sind zwei Bücher ins Polnische übersetzt worden und eins wird gerade übersetzt und ich finde schon, daß es eine Rolle spielt, wenn das in Polen gelesen wird, und umgekehrt. Ich meine, wir haben ja genug Polen in diesem Jahr, wir haben einen polnischen Literatursommer und ein polnisches Musikfestival und alles mögliche hier.

SB: In diesem Jahr ist Polen ein ganz großes Thema.

AS.: Das halte ich schon für wichtig, daß die Literatur sich damit befaßt in einer Weise, daß die anderen das verstehen und auch akzeptieren können. Man darf eben dann nicht mit Schuldzuweisungen arbeiten.

SB: Sie schildern viele Romane und Geschichten aus der Perspektive eines Kindes. Welche Absicht steckt dahinter?

AS.: Beim ersten Buch war es natürlich, weil's ja meine Geschichte war und bei den anderen - man kann als Kind mehr sagen, man kann mehr darstellen als ein hochintellektueller Erwachsener.

SB: Wobei aus der Perspektive eines Kindes ja nicht kindlich oder kindisch im kleinmachenden Sinn heißen muß, sondern da gibt es ja oft - was man von Kindern und auch von seiner eigenen Kindheit weiß - Erkenntnisse, nach denen man sich im Alter vielleicht sehnen würde, daß man sie in der Klarheit beibehalten hätte.

AS.: Ja.

SB: Kritiker haben Ihnen zu Ihrem Roman Die Vogelwelt von Auschwitz vorgeworfen, Sie hätten die Grausamkeit des KZs verharmlost. Hannah Ahrendt hat im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Adolf Eichmann den Begriff von der 'Banalität des Bösen' geprägt, Zeitzeugen des Holocaust haben berichtet, daß die Täter ganz normale Menschen gewesen seien. Ist es auch das, was Sie in Ihrem Roman zeigen wollten?

AS.: Das ist es ja, was viele nicht verstehen können, die meinen, wenn da ein SS-Mann vorkommt, muß der mit blutigen Zähnen und Helm herummarschieren. So war es nicht. Und das macht die Sache nicht weniger grausam, sondern noch viel schlimmer. Es ist so normal auf diese Weise.

SB: Das zu erkennen verhindert ja auch, diese Grausamkeit nur einer bestimmten Phase der Geschichte oder einer Ausnahmesituation zuzuschreiben, das Alltägliche macht es eigentlich viel problematischer.

AS.: Und es ist ein falsches Verständnis von Auschwitz und all' den Sachen, wenn man immer nur erwartet, daß da Blut fließt. Das wird viel stärker und viel grausamer, wenn man nebenbei auch die Blumen und die Vögel schildert, die da rumgehüpft sind. Im Großen und Ganzen ist gerade Die Vogelwelt von Auschwitz sehr positiv. Ich hatte schon befürchtet, man würde mir vorwerfen, daß man nicht über Auschwitz im Zusammenhang mit der lieblichen Vogelwelt schreiben kann - also daß die beiden Begriffe nicht zusammenpassen.

SB: Aber in der Realität geht es zusammen.

AS.: Außerdem stimmt es ja. Es gab ja da einen Wissenschaftler, der das tatsächlich gemacht hat.

SB: Auch Die Vogelwelt von Auschwitz berührt, von den Protagonisten her, das Thema deutsch-polnische Verständigung, dadurch, daß der Häftling, der dem Vogelforscher assistiert, ein Pole ist.

AS.: Das Buch wird jetzt gerade ins Polnische übersetzt. Im Französischen ist es bereits erschienen und jetzt soll es noch ins Polnische übertragen werden.

SB: Kann man eine Sprache übersetzen?

AS.: Das ist sehr schwierig. Ich kann's nicht, fürchte ich. (lacht)

SB: Man hat zu der eigenen Sprache ja nicht nur einen eigenen Bezug, sondern jede Sprache hat auch eine ganz eigene Identität, die sich nicht ...

AS.: Wissen Sie, die Übersetzerin ins Polnische, was üblich ist, die fragt dann an: Was meinen Sie damit und was ist dies und das? Und da habe ich gestaunt, wie schwierig das sprachlich ist. Ein Kapitel zum Beispiel fängt an: "Der Sommer wurde groß." Da fragt sie, was ist damit gemeint? Wir wissen alle, was damit gemeint ist. Aber sie hatte die Vorstellung - groß - das hat was mit körperlicher Größe zu tun.

SB: Würden Sie sagen, so etwas läßt sich nicht übersetzen?

AS.: Doch, natürlich. Ich sagte, Sie müssen irgendetwas Adäquates finden. Wobei ich nicht weiß, ob es im Polnischen so etwas gibt. Ganz schlimm war es mit der Übersetzung von Jokehnen ins Russische. Da hat mich vor 20 Jahren jemand aus Texas angeschrieben, ein Russe, der nach Texas emigriert war. Der ist dort im Goethe-Institut an 'Jokehnen' rangekommen, konnte gut deutsch und wollte das nun ins Russische übersetzen. Er hat mich also kontaktiert und hat endlos lange Briefe geschrieben, wo er jeweils gefragt hat: Was bedeutet dies, was bedeutet das? Nun sind in Jokehnen auch noch viele Dialektausdrücke, also war das schon schwierig.

SB-Redakteurin mit Arno Surminski - Foto: © 2010 by Schattenblick

SB-Redakteurin mit Arno Surminski
Foto: © 2010 by Schattenblick
SB: Waren Sie mit der filmischen Umsetzung von Jokehnen zufrieden?

AS.: Gerade bei Jokehnen haben sie meines Erachtens einiges verkehrt gemacht. Aber gut. Es gab ja noch zwei andere Verfilmungen. (Fremdes Land oder Als die Freiheit noch zu haben war - 1980 und Kudenow oder An fremden Wassern weinen - 1981) Also Kudenow ist besser gewesen, das spielt ja hier in Schleswig-Holstein.

SB: Eine letzte Frage: Man sagt, Sie hätten sich mit Ihrem jüngsten Roman Amanda oder ein amerikanischer Frühling auf völlig neues Terrain begeben. Ihr neuer Roman spielt in Amerika. Bedeutet das eine Abkehr von heimatorientierten Themen - oder bleiben Sie unter Zuhilfenahme veränderter Hintergründe Ihren Interessen und Ihren Themen treu?

AS.: Amanda war ein Gegenstück - es ist ja ein lustiges, ein heiteres Buch - zu dem traurigen Auschwitz-Buch. Es ist im Grunde genommen eine Verarbeitung meiner vielen Reisen, die ich gemacht habe. Das gilt auch für andere Bücher. In Am dunklen Ende des Regenbogens (1988) läuft ein Marathonläufer durch Amerika, und das habe ich geschildert. Dann gibt es Malojawind (1988), ein Buch, das in der Schweiz spielt. Das sind alles Bücher über Gegenden, die ich selbst bereist habe. Diese Amanda ist eine schrullige, alte Dame, die habe ich überall dahin geschickt, wo ich auch war in Amerika, schon um authentisch zu sein. Hab' ihr dann einen jungen Mann als Chauffeur beigegeben und viel, viel Geld. (lacht)

SB: Hat das Buch im entferntesten Sinne auch etwas mit dem Thema Heimat zu tun?

AS.: Eigentlich nicht. Ich habe die alte Dame in Ostpreußen zur Welt kommen lassen, das ist das einzige, wenn Sie so wollen.

SB: Und in der Zeit, als Sie selbst ein paar Jahre in Kanada gelebt haben, was war da mit Heimat?

AS.: Zu Ihrer Eingangsfrage, was Heimat bedeutet, ist Kanada ein gutes Erlebnis. Wir waren ja mit mehreren Freunden dort im Busch, haben da gearbeitet, und da hatte man natürlich auch mal Heimweh. Aber nun raten Sie mal, wohin?

SB: Ich weiß es nicht. Ich bin sehr gespannt.

AS.: Also jedenfalls nicht nach Ostpreußen. Weil in Ostpreußen alles zerstört war, das wußte ich. Es richtete sich auf den Ort, Trittau bei Hamburg, wo ich vor der Auswanderung gelebt hatte. Und wo man gerade noch Feste mitgemacht hat, zum Tanzen war und schon eine Freundin hatte, all diese Dinge - dahin hatte ich Sehnsucht, wenn ich Heimweh hatte. Daran sieht man, Heimat hat was mit Menschen zu tun.

SB: Herr Surminski, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

Das Wenzel-Hablik-Museum in Itzehoe - Foto: © 2010 by Schattenblick

Das Wenzel-Hablik-Museum in Itzehoe
Foto: © 2010 by Schattenblick


13. August 2010