Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


BERICHT/026: Lyrikgespräch - wirkmächtige Worte ... (SB)


Lyrik im Gespräch im Literaturhaus Schleswig-Holstein am 13. Mai 2015
Dirk von Petersdorff liest Gedichte und spricht mit Robert Habeck über Literatur und Politik


Was hat das lyrische Stimmungsbild der "Raucherecke" aus den 1980er Jahren an der Ricarda-Huch-Schule in Kiel mit einer ressorcenschonenden Gesellschaft, leidfördernder Tierhaltung und Atommüllendlagerproblemen zu tun? Diese Frage stellte sich vielleicht einem Besucher der Reihe "Lyrik im Gespräch" im Literaturhaus in Kiel, deren Thema dieses Mal anläßlich einer vorangestellten Lyrik-Lesung ein Austausch über "Literatur und Politik" war. Dort sprachen Dirk von Petersdorff und Robert Habeck in lockerer Runde und im weitesten Sinne über "Sprache" und "Wirklichkeit" miteinander.

Die Lebenswege der beiden Dikussionsteilnehmer weisen in Richtungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Dirk von Petersdorff lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Professor Neuere Deutsche Literatur und ist zudem Dichter bzw. Lyriker, Robert Habeck hat sich für die Politik entschieden, er ist Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und Ländliche Räume im Landtag Schleswig-Holstein und außerdem Schriftsteller, eine Tätigkeit, die er angesichts seines politischen Engagements für Bündnis 90/Die Grünen weitgehend zurückgestellt hat. Literatur habe es nicht verdient, nebenbei behandelt zu werden.


Dirk von Petersdorff auf der Lesebühne - Foto: © 2015 by Schattenblick

'Am Grund der Diskurse ein Fisch, ein Fisch der nicht zu fassen ist ...', Dirk von Petersdorff liest
Foto: © 2015 by Schattenblick

Anknüpfungspunkt für das Gespräch bot die vorgetragene Gedichtauswahl Dirk von Petersdorffs unter anderem aus seinen Bänden "Nimm den langen Weg nach Haus" und "Sirenenpop". Das angekündigte Thema "Literatur und Politik" wurde im folgenden Gespräch zum Anlaß genommen, auf heitere und freundschaftliche Weise die Möglichkeiten verschiedener sprachlicher Einsätze und ihre Wirkungen auszuloten. Es ging also letztlich nicht um vielleicht erwartete Betrachtungen zu politischer Lyrik oder um das Verhältnis von Lyrik und Politik.


Lyrik und Wirklichkeit

Muß ein Dichter, lautete Robert Habecks Frage an Dirk von Petersdorff, um Lyrik schreiben zu können, scharf an der Wirklichkeit vorbeiblicken, um tiefer zu sehen und Erkenntnis zu gewinnen? Brauche man Distanz zur Wirklichkeit, um Gedichte schreiben zu können?

Interessant seien die Übergangszustände, entgegnete Petersdorff, in denen man, von Ordnung und Orientierung befreit, die Wirklichkeit anders wahrnimmt. Das seien glückliche Momente. So gibt es Zustände, die für Gedichte besonders günstig sind, die man aber nicht steuern kann, die irgendwann da sind. Man muß den Moment und die Idee fassen und fangen, die Arbeit danach an dem Gedicht fällt dann unter Umständen sehr nüchtern aus. Grundsätzlich kann alles, was in der Welt vorkommt, auch Thema von Gedichten werden, gedichtuntauglich ist eigentlich nichts.

Besonders interessant für ihn seien in den letzten Jahren die gereimten, festeren Formen, denn sie geben Halt. Gedichte könnten Zustände beschreiben, in denen man sich sehr unsicher fühlt. Wenn alles wegzuschwimmen drohe, brauche man ein Gegengewicht. Eine schwierige Situation zum Beispiel in Sonett-Form gebracht, führe zu einer Festigkeit, die dann auch zur eigenen Festigkeit werden könne.


Robert Habeck und Dirk von Petersdorff auf der Lesebühne - Foto: © 2015 by Schattenblick

Bewegtes Gespräch ...
Foto: © 2015 by Schattenblick


Konstruierte Welten

Auf die Frage von Petersdorff, wie Robert Habeck seine politische Idee von gesellschaftlicher Verschiedenheit damit in Deckung bringen könne, an den eigenen Überzeugungen festzuhalten, meinte dieser, es gehe ihm darum, andere Menschen zu überzeugen. Wirklichkeit sei nicht da,

... sondern das, was wir ausdrücken oder beschreiben können, fängt an, wirklich zu werden. Und das, wofür wir keine Worte haben oder keine Begrifflichkeit finden, das ist vielleicht im halb verhangenen Blick im Morgendämmer da, aber läßt sich dann nicht mehr diskursiv fassen. Wirklichkeit ist für mich nicht etwas, das vorgegeben ist, schon gar nicht in der Bedeutung, sondern etwas, das konstruiert wird und wo man sich nur entscheiden kann: Mische ich mich ein oder mische ich mich nicht ein, lasse ich durch andere konstruieren oder durch mich?

Leider waren die Ausführungen von Robert Habeck an dieser Stelle etwas fragmentarisch. Für den Zuhörer, der nicht sein Hintergrundwissen teilt, blieben die Begriffe "Wirklichkeit", "konstruieren", "diskursiv" unklar. War das Bemühen einer (kommunikations)strukturalistischen Theorie für seine Aussage, daß er sich politisch einmischen möchte, überhaupt notwendig?

Eigentlich erwecke Habeck den Eindruck, fragte Petersdorff weiter, als Politiker doch recht frei zu reden. Gebe es Zusammenhänge, in denen er sich auf eine Weise ausdrücken und eine Sprache benutzen müsse, die ihm manchmal selber ganz fremd sei, die er eigentlich gar nicht verwenden wolle, in der er sich unbehaglich fühle? Ist man in der Politik überhaupt in der Lage, sich so ausdrücken, daß man sich selber wiedererkennt oder gerät man manchmal in Situationen, in denen man sich fragt: Wer redet da eigentlich gerade, bin ich das?

Das sei ein Ballanceakt, erklärte Habeck. In der Politik gibt es ein ähnlich strenges sprachliches Korsett wie die Form und den Reim bei Gedichten, die Kommunikationsstruktur in vorgestanzten Formen und einer abgeschirmten Welt, die total abgedroschen wirkt. Man müsse sie schon bisweilen brechen oder in eine Spannung bringen.


Lyrik auf der Suche nach der Verlorenen Zeit

Auffällig an den von Dirk von Petersdorff vorgestellten Gedichten fand Habeck das Erinnerungsmoment, das Besinnen auf die Vergangenheit, und konstatierte in dem Zusammenhang eine gewisse Melancholie. Sei das eine Trennung zwischen ihren Welten? Bei aller Überschneidung, daß "Sprache Wirklichkeit konstruiert", gehe es in dem Feld, in dem er sich bewege, eher darum, nach vorn zu laufen. Er persönlich empfinde es so, daß sein Leben selten gegenwärtiger war als zur Zeit. Seine Frage sei eher: Wie komme ich dahin, wo ich hinwill? In den Gedichten hingegen sei quasi der rückwärts gewandte Blick das schaffende Moment.

Kunst ist eine ganz elementare Möglichkeit, das, was sonst verschwindet, in diesem Fall in Form von Gedichten aufzubewahren und festzuhalten, führte Petersdorff aus. Die "Raucherecke" des gleichnamigen Gedichts zum Beispiel existiert so nicht mehr, das sei alles verschwunden. So passiere es eben: alles werde uns ständig weggerissen. Aber in diesem Zustand, so wie er sich daran erinnert, in dieser Atmosphäre und auch dieser Lebenssituation entsteht die Möglichkeit zu sagen: Wenn ich ein Gedicht darüber schreibe, ist sie wieder da. Petersdorff bezeichnete das als eine Art Magie. Auch wenn man nicht an Magie glaubt, wenn man das Gedicht dann liest, sei das Verschwundene doch noch vorhanden. Vielleicht seien Gedichte dafür besser geeignet als Romane oder Dramen. Seiner Meinung nach könne es für Lyriker eine Aufgabe sein - natürlich vergeblich, wie er einräumte -, gegen das Verschwinden anzuarbeiten.


Literaturhaus Schleswig-Holstein im Alten botanischen Garten - Foto: © 2015 by Schattenblick

Lyrik-Lesung in malerischer Umgebung
Foto: © 2015 by Schattenblick

Zusammenfassend kann man sagen, daß sich Robert Habecks Wunsch in seiner Einleitung zu diesem Abend sicherlich auf kurzweilige Weise erfüllt hat: "Wenn der Abend etwas bringt, dann, daß kleine Formen und kleine Geschichten großes Glück bedeuten." Das Gespräch der beiden lebte, wie in der Konversation einer eher oberflächlich gehaltenen Begegnung nicht anders zu erwarten, von anekdotischer und situationsreaktiver Unterhaltsamkeit.

Der Versuch, in dichterischen Texten oder politischer Sprache einen überzeugenden, strukturalistischen Ansatz unterzubringen ("dass Sprache Wirklichkeit konstruiert", Habeck), ist wegen mangelnder Begründung und Erklärung der damit verbundenen Vorstellungen und philosophischen Einlassungen von "Wirklichkeit" und auch, weil beispielhafte Beweise fehlten, wohl eher als mißlungen zu betrachten.

25. Mai 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang