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BERICHT/031: Links, links, links - in jedem Falle unbestechlich ... (1) (SB)


Sich nicht in Seitenstraßen verlieren ...

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Was tun gegen eine Rechte, die sich anschickt, die Straßen zu beherrschen und das von Existenzängsten heimgesuchte Bürgertum mit nationalistischer und rassistischer Ideologie zu vereinnahmen? Wie umgehen mit einer Feindbildproduktion, anhand derer Menschen für die soziale Misere des Kapitalismus verantwortlich gemacht werden, die selbst Krieg und Not ohnmächtig ausgeliefert sind? Was läßt sich gegen das Bündnis aus Staat und Kapital unternehmen, das die zum Teil lebensbedrohliche Aggressivität der Fremdenfeindlichkeit zur Stärkung der eigenen Herrschaft nutzt, anstatt ihr frontal entgegenzutreten?

Fragen wie diese und andere wurden am Eröffnungsabend der 20. Linken Literaturmesse in Nürnberg [1] vor vollem Saal debattiert. Unter dem Titel "Aufmärsche, Brandanschläge, Wahlerfolg" traten der Aktivist und Journalist Wolf Wetzel, der Historiker und Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN - BdA) Ulrich Schneider sowie die Journalistin und Autorin Susann Witt-Stahl an, um den Stand des antifaschistischen Kampfes gegen rechte Parteien wie NPD und AfD, gegen rechte Bewegungen wie Pegida und Bärgida und nicht zuletzt gegen Staat und Kapital kritisch zu beleuchten. Da es sich um ein moderiertes Gespräch handelte, sollen die Positionen der jeweiligen Referenten separat umrissen werden, um ihren kontroversen oder übereinstimmenden Charakter sichtbar zu machen.

Wolf Wetzel, der den Abend mit seiner Stellungnahme eröffnete, stellte die Frage nach der Einigkeit zwischen Pegida und Großer Koalition. Angesichts der Gesetze und Verordnungen, mit denen die Bundesregierung gegenüber Flüchtenden eine kaum von den Forderungen der neurechten Bürgerbewegung abweichende Politik betreibt, scheint sich zu wiederholen, was in der sogenannten Asyldebatte in den 90er Jahren mit der Rhetorik des angeblich vollen Bootes begann, den Pogrom auf der Straße beflügelte und 1993 in die De-facto-Abschaffung des Asylrechts mündete. Vieles von dem, was heute vor Flüchtlingsunterkünften und auf den Marktplätzen der Republik geschieht, erinnert ihn an das Wechsel- und Zusammenspiel von oben und unten, das den Asyldiskurs der frühen 90er Jahre auszeichnete.

Die Bundesregierung täuschte Handlungsunfähigkeit vor, und die Neonazis, unter ihnen die bekannten Akteure des NSU, verstanden dies korrekt als Aufruf, die Handlungsmacht der Straße zu einem Vorwand für legislativen Handlungsbedarf zu entwickeln. Das Asylrecht wurde im Kern abgeschafft, um zu institutionalisieren, was der Mob von Rostock-Lichtenhagen, von exekutiver Einschränkung nahezu unbeeinträchtigt, vor den Augen der Weltöffentlichkeit verrichtete. Für Wetzel stellt sich die Frage, inwiefern die damals öffentlich geförderten Pogrome mit dem heutigen Abfackeln von Flüchtlingsunterkünften und den Angriffen auf Nichtdeutsche vergleichbar sind.

Auch die Aufmärsche Pegidas scheinen trotz der Tausende Menschen umfassenden Gegendemonstrationen im Sinne der weiteren Verschärfung des Asylrechts für die Regierung handlungsleitend zu sein. Mehr noch, im Rücken der Aufregung über die Pegidisten schafft die EU Tatsachen wie sogenannte Transitzonen [2] in ganz Europa, und zwar unter maßgeblicher Führung der Bundesregierung. Wetzel nennt das "Pegida in GroKo-Fassung", denn wo die Bundesrepublik den Rechtsstaat in Transitzonen auslagert, schafft sie Zonen der Entrechtung für Flüchtende und die Suspendierung nationaler und internationaler Rechtsgarantien.

"Lassen wir uns also in eine Seitenstraße abdrängen, wo wir uns an Pegida aufreiben dürfen, damit auf den Hauptstraßen alles störungsfrei durchgewunken werden kann? Haben wir Angst, auf die Hauptstraße zu gehen, weil wir ahnen, daß wir dort in die Fußstapfen eines Godzillas treten wie im NSU-Fall, wo die Konfrontation mit dem Staatsanteil am neonazistischen Terror zu einer Schockstarre geführt hat?"

Wolf Wetzel legt den Finger in die Logik eines Antifaschismus, der sich an Nazis abarbeitet und dabei das Ganze kapitalistischer Barbarei aus den Augen zu verlieren droht. Er fordert dazu auf, "den reaktionären Rollback von der Mitte aus zu betrachten, um von dort aus die Rolle und Bedeutung der Neonazis, der Pegidisten zu bestimmen", sprich die Perspektive der Macht einzunehmen, um den sozialstrategischen Charakter herrschender Konsensproduktion auf emanzipatorische Weise zu entschlüsseln. Das heißt nicht, die "konformistische Rebellion" Pegidas als "widerlichste Form, Demütigung zu ertragen, indem man sich an der Jagd auf Schutzsuchende, um Menschenwürde kämpfende Menschen beteiligt", zu ignorieren.

Das hieße aber auch, die Analyse antifaschistischer Kämpfe durch eine Staatskritik zu ergänzen, die das potentielle Bündnis zwischen neurechten Bewegungen und den Funktionseliten in Staat und Kapital nicht außer acht läßt. Wenn sich diese öffentlich gegen Rassenhaß aussprechen und gleichzeitig Maßnahmen treffen, die ihn befeuern, so ist das weniger einer in sich widersprüchlichen Ambivalenz als der Dialektik von Schein und Sein geschuldet. So werden systematisch Ängste geschürt, indem das Anwachsen der Zahl geflüchteter Menschen für Mangelsituationen und Abstiegsgefahren hierzulande verantwortlich gemacht wird, die im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit seit jeher erzeugt und dafür eingesetzt werden, die Lohnabhängigenklasse einzuschüchtern. Angebliche Sachzwänge haushaltspolitischer Art werden beschworen, die etwa bei Rüstungsausgaben oder dem Bail-Out der Banken noch nie ein Thema waren. Ja es wird sogar das Bild einer handlungsunfähigen Regierung inszeniert, als ob der EU-Hegemon ansonsten nicht den Eindruck erweckt, für die Durchsetzung der Interessen des deutschen Imperialismus allemal handlungsfähig zu sein.

Heute, so Wetzel, hat der Kampf gegen den Islamismus den Antikommunismus ersetzt, zumal er diejenigen Länder betrifft, gegen die der Westen Krieg führt. Pegida hat dieses in der politischen Mitte geborene Feindbild lediglich aufgegriffen, daher sei auch der Antifaschismus gut beraten, im Kampf gegen den Antiislamismus oder brutalen Kapitalismus nicht die Rolle der Regierung aus den Augen zu verlieren. Obwohl den Faschisten bei ihren Aufmärschen weit mehr Freiraum gewährt wird als den Gegendemonstranten, die schon für bloße Blockadeaktionen strafrechtlich verfolgt werden, glaubt Wolf Wetzel nicht, daß die Herrschenden in Deutschland Interesse an einer starken faschistischen Bewegung hätten, die ihre Machtstellung gefährdete. Er erinnert daran, daß während des Kampfes gegen Nazis, die Flüchtlingsheime abfackeln, flüchtende Menschen im Mittelmeer ertrinken, was im Verantwortungsbereich dieser Regierung liegt. Dieses Jahr sind schon über 3300 Menschen auf diesem Fluchtweg umgekommen, und zählt man die letzten Jahren zusammen, dann gelangt man zu der Zahl von über 20.000 ertrunkenen Menschen.

Wetzel ist überzeugt, daß diese Gesellschaft, für die sich Antifaschistinnen und Antifaschisten den Nazis in den Weg stellen, gar keinen Kapitalismus ohne Faschismus will. So sei das ursprüngliche Ziel des Antifaschismus die Erschaffung einer neuen, nicht kapitalistischen Gesellschaft gewesen, anstatt lediglich die repräsentative Demokratie vor ihrer faschistischen Variante zu schützen. Von daher profitiere der Staat ungemein davon, wenn sich der potentiell antikapitalistische Antifaschismus in den Seitenstraßen erschöpft, während der Staat auf der Hauptstraße mit den Transitzonen rechtsfreie Räume schafft. Ein lediglich affirmativer, nicht antikapitalistischer Antifaschismus mache sich in letzter Konsequenz identisch mit dem Konformismus Pegidas, so Wolf Wetzel in seinem abschließenden Statement. Er müsse über die bloße Abwehr neurechter Bewegungen wie Pegida hinausgehen, doch dieser gesellschaftspolitische Anspruch sei in den letzten zehn Jahren weitgehend verlorengegangen.

Dazu gehöre auch, die "freie Vereinzelung", die, ob aus Arbeitsstreß oder anderer Notwendigkeit, inzwischen die dominante Struktur in der Linken geworden sei, wieder zugunsten einer kollektiven Handlungsfähigkeit zu überwinden. Wenn man alleine auf einer Demo von Zehntausend sei, dann wären dort zehntausend alleine, und eine solche von Angst bestimmte Struktur halte nichts aus, so Wetzel. Er plädiert dafür, wieder kollektive Strukturen aufzubauen, wofür man keine Partei benötige. Sie seien nicht nur inhaltlich sicherer und kämpferischer, sondern auch erotischer, so Wetzel zum Abschluß des zweieinhalbstündigen Eröffnungsabends.

Seit den Anschlägen von Paris zeichnet sich eine Verschärfung der Hetze gegen Flüchtende ab, die sich der Rückendeckung durch die sicherheitsstaatliche Antiterrorismusdoktrin [3] gewiß sein kann. Für die dagegen antretenden Demonstrantinnen und Demonstranten ist um so erforderlicher, den Zusammenhang zwischen staatlicher Flüchtlingsabwehr und neokolonialistischer Politik [4] im Nahen und Mittleren Osten herzustellen. Beides ist integraler Bestandteil der herrschenden Verwertungsordnung und bietet Anlaß zu ihrer Überwindung.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] BERICHT/030: Links, links, links - Getrennt publizieren, gemeinsam agieren ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0030.html

[2] HERRSCHAFT/1716: "Transitzonen" - Migrationsregimes im autoritären Maßnahmestaat (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1716.html

[3] KRIEG/1649: Angriff auf die Freiheit ...? (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1649.html

[4] HERRSCHAFT/1715: Selektive Flüchtlingsabwehr - Die Guten ins Töpfchen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1715.html


Linke Literaturmesse 2014 unter dem Sammeltitel "Linksliteraten" im Schattenblick
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/ip_d-brille_report_bericht.shtml
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/ip_d-brille_report_interview.shtml

16. November 2015


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