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BERICHT/115: 24. Linke Literaturmesse - zur Parteilichkeit stehen ... (SB)


In einer derartigen politischen Konstellation über neo-sozialistische Optionen zu diskutieren, mag einigermaßen verwegen erscheinen. Dennoch ist eine solche Debatte nicht nur notwendig, sondern überfällig. Sie ist überfällig, weil die Linke sonst die "Systemfrage" den Rechtspopulisten überlässt. (...) "Es geht nicht um kleine Korrekturen, es geht um Fehler im System" ist ein Satz, den wir von vielen, die mit der äußersten Rechten sympathisieren, immer wieder zu hören bekommen. Dies berührt die Achillesferse der politischen Linken. Glaubwürdige Entwürfe für eine bessere Gesellschaft, die eine Alternative zum real existierenden Kapitalismus darstellen könnten, hat sie gegenwärtig nicht zu bieten. Dieser Verlust des Utopischen macht ihre größte Schwäche aus. Er erklärt, weshalb es der Linken gegenwärtig kaum gelingt, verbreitete Unzufriedenheit und alltägliche Gesellschaftskritik politisch zu bündeln.
Klaus Dörre (Neo-Sozialismus oder: Acht Thesen zu einer überfälligen Diskussion) [1]


Über Freund und Feind hängt wie ein Damoklesschwert die Wahrheit, von allen beschworen und angebetet, um mit ihr den Gegner niederzustrecken, doch zugleich von der Wucht ihrer Klinge bedroht. Daß beide Seiten einander der Lüge bezichtigen, ist so banal wie absurd, doch als Schema von gut und böse, richtig und falsch, zutiefst eingebrannt. Eigentlich sollte die Linke es besser wissen, so sie von Klassenkämpfen wie auch von der Geschichte der Sieger spricht, deren Gegenentwurf noch nicht zu Ende geschrieben ist. Sind Naturwissenschaften objektiv und wahr, Sozialwissenschaften hingegen subjektiv und parteiisch, wie es linke Strömungen mitunter behauptet haben? Diese Ausflucht dürfte in Zeiten der Klimakatastrophe ebenso ausgedient haben wie ein kritikloses Lob der realsozialistischen Industrialisierung. Entwürfe wie Hegemonie des Diskurses könnten da weiterführen, würden sie denn als offene Fragen verfolgt und geschärft.

Propaganda war gestern, als die Konkurrenz der Gesellschaftssysteme noch Aufschluß darüber gab, daß in Widerspruch miteinander stehende Ideologien um die Vorherrschaft stritten. Mit dem proklamierten Sieg der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und deren globalisierter Expansion hat eine Denkkontrolle Einzug gehalten, deren Ratio die bloße Erwägung einer fundamentalen Gegenposition auszuschließen trachtet, die sie für irrational bis nichtexistent erklärt. Die Wahrheit als höchste Instanz hat damit keineswegs ausgedient, bedarf doch die Rechtfertigung ungezügelter Ausbeutung und Zerstörung mehr denn je einer Feindbildproduktion, die angesichts schwindender Sourcen den Raubzug zugunsten des eigenen Überlebens zur Ultima ratio erklärt. Grenzen gegen den anderen Menschen als Freßfeind hochzuziehen, um ihn zu vernichten, bedarf einer kulturalistischen, nationalistischen und rassistischen Letztbegründung, welche die ausschließliche Gewalt der herrschenden Verhältnisse verschleiert und die für deren Fortbestand unabdingbare Beteiligung der Nutznießer gängig macht.

Der weltweite Vormarsch der Rechten jeglicher Couleur reklamiert die fundamentale, weil unmittelbar eingängige Position als unabweisliche Wahrheit für sich, daß die anderen zugrunde gehen müssen, soll es einem selber wohlergehen. Mit dieser Keule dreschen sie auf alle ein, die etwas anderes behaupten, und erfreuen sich wachsenden Zuspruchs. Sie jonglieren mit den Konstrukten Wahrheit und Lüge, wie es ihnen paßt, weil sie erfassen, daß es ausschließlich um Deutungsmacht geht. Die Machtfrage voranzustellen, sollte eigentlich das Metier der Linken sein, die von einer Klassengesellschaft ausgeht, Staatskritik übt und diesem Gesellschaftssystem eine Absage erteilt. Daß Wahrheit nicht mehr und nicht weniger als die Waffe in der Hand des Stärkeren sei, keinesfalls aber eine universale und für alle gleichermaßen gültige Richtschnur, an der man sich aufhängen läßt, muß kein bloßer Aphorismus aus der Zitatensammlung bleiben.


Im Workshop auf der Linken Literaturmesse - Foto: © 2019 by Schattenblick

Benno Nothardt und Helmut Kellershohn
Foto: © 2019 by Schattenblick


Kämpfe um Meinungsfreiheit und Medien

Im Rahmen der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellten Benno Nothardt und Helmut Kellershohn das von Paul Bey und Benno Nothardt herausgegebene Buch "Kämpfe um Meinungsfreiheit und Medien. Im Spannungsfeld von Hate Speech, Fake News und Algorithmen" [2] vor. Der Historiker und Rechtsextremismusforscher Kellershohn ist ein Gründungs- und Vorstandsmitglied des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung, als dessen zentrale Schriftenreihe die Edition DISS firmiert, die im Unrast Verlag Münster erscheint. Benno Nothardt ist Lehrer am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe in Gelsenkirchen. Seit 2012 arbeitet er in der Diskurswerkstatt mit und seit 2018 ist er ehrenamtlicher Mitarbeiter im DISS.

Meinungsfreiheit ist ein Begriff, der traditionell mit der Linken assoziiert wird. Mit Kampagnen wie "Enteignet Springer" oder "Bild lügt" war Medienkritik lange vor allem der Linken vorbehalten. Heute macht der Begriff "Lügenpresse" die Runde, haben die Rechten, aber auch Politiker wie Donald Trump das Feld übernommen und nach ihren Maßgaben belegt. Als Bernd Lucke von Studierenden daran gehindert wurde, an der Universität Hamburg vorzutragen, war die Aufregung groß. "Angst vor der freien Meinung" titelte die neurechte Junge Freiheit. Die Zeit brachte ein nahezu identisches Titelbild, ging nur inhaltlich etwas anders mit dem Spektakel um. Auch Die Welt und Der Spiegel nahmen sich der Kontroverse an. Während die Konzernpresse Meinungsfreiheit anmahnt, greift die Rechte die etablierten Medien frontal an und bringt Political Correctness als Kampfbegriff in Stellung.


Winkelzug zur Eroberung des diskursiven Raums

Im Vorwort erklärt Paul Bey, wie Political Correctness funktioniert, wenn sie von Rechten kritisiert wird. Deren Selbstinszenierung als Verteidiger der Meinungsfreiheit dient vor allem dem Zweck, jede Kritik an den eigenen diskriminierenden Ausfällen aus dem Feld zu schlagen. Die Rechte postuliert eine linke Meinungshegemonie, die sie mit Tabuisierung und Zensur gleichsetzt, um für sich selbst diskursiven Raum zu erobern. Spricht eine Politikerin der AfD von "Messer-Migration" und wird dafür als rassistisch kritisiert, läßt sie sich nicht auf eine inhaltliche Diskussion ein, sondern erklärt, Political Correctness schränke ihre Meinungsfreiheit ein. Der Winkelzug besteht also darin, Kritik mit Sprechverbot gleichzusetzen, um als vorgebliches Opfer medialer Verschwörung und linken Meinungsterrors die inhaltliche Auseinandersetzung zu meiden und dem eigenen Diskurs Platz zu verschaffen.

Angesichts der Brisanz dieses Themas hat das DISS im November 2018 in Würzburg ein Kolloquium veranstaltet. Die dort gehaltenen Vorträge haben teils im Original, teils in überarbeiteter Form Eingang in das vorliegende Buch gefunden. Im folgenden werden die sechs darin enthaltenen Beiträge von Nothardt und Kellershohn vorgestellt.


Benno Nothardt präsentiert Buch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Gegen den Mythos linker Meinungshegemonie
Foto: © 2019 by Schattenblick


Kampfbegriff "politisch korrekt"

Marc Fabian Erdl: "Gefahr erkannt, davongerannt. Wie die Linken in den Neunzigerjahren den Kairos verpassten, den Mythos der Politischen Korrektheit zu versittlichen." Erdl zeichnet in seinem Text nach, auf welche Weise der Begriff Political Correctness seit dieser Zeit nicht zuletzt deswegen zunehmend von rechts okkupiert werden konnte, weil die Linke den Fehler machte, sich diesen Schuh anzuziehen. Statt die Bezichtigung entschieden zurückzuweisen, gab es Tendenzen, den Vorwurf als Selbstzuschreibung zu übernehmen oder ihn zu bestätigen, indem man sich lediglich davon abgrenzte. Dieses Konstrukt anzuerkennen, als handle es sich dabei um eine originär linke Position, und sich lediglich davon zu distanzieren, mündet in das Manöver, auf derselben Schiene zu fahren. So wurde der Jugoslawienkrieg damit gerechtfertigt, daß man endlich tabulos sprechen und solche Interventionen für notwendig erachten müsse. Differenziert und detailliert rekonstruiert Erdl diesen Prozeß, der dazu geführt hat, daß die Linke dem Vorwurf heute oftmals hilflos ausgeliefert ist. Zugleich sollte die Analyse begangener Fehler dazu beitragen, künftig andere Herangehensweisen zu entwickeln.


Donald Trump - Oberbefehlshaber an der Wahrheitsfront

Jobst Paul: "Truth isn't Truth - Fake News und Real News in der Ära Trump." Die Schlagworte sind allgemein bekannt. Während Trump vorgeworfen wird, ein Haßprediger zu sein, schlägt er mit seiner Tirade gegen Fake News zurück. Paul legt die dortigen Kämpfe bis hin zum Mueller-Report, der im März 2019 veröffentlicht wurde und ein Versuch war, Trump zu stürzen, dezidiert dar. Dies könnte Handlungsoptionen eröffnen, auch die hiesigen Entwicklungen zu analysieren und einen anderen Umgang mit der Problematik zu entwickeln. Hinzu kommt der Aspekt der sozialen Medien, derer sich Trump auf markante Weise bedient, indem er erhebliche Teile seiner politischen Erklärungen über Twitter verbreitet. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß in den USA etwa die Hälfte der Bevölkerung ihre Nachrichten hauptsächlich über Facebook bezieht. Soziale Medien sind nicht nur dort ein Machtfaktor, den man nicht unterschätzen darf.


Benno Nothardt hält Titelseite der Wochenzeitung Die Zeit hoch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Unterstellte Sprechverbote - strategische Finte rechtsextremer Deutungsmacht
Foto: © 2019 by Schattenblick


Rechte Kampagnen in den sozialen Medien

Andrea Becker: "Trolling, Memes, strategische Verstärkung. Zum rechten Kampf um die Algorithmen." Die Autorin gibt fachkundig Aufklärung darüber, auf welche Weise rechte Kampagnen in den sozialen Medien lanciert werden. Sie erläutert dies anhand verschiedener Beispiele wie etwa den Memes, kleinen Informationsinhalten aus einem Bild mit einem Text, die Leute kopieren und verändern können. Ein bekanntes Meme ist Pepe der Frosch, der immer fies guckt und meist abwertende Kommentare gibt. Er kursiert in riesigen Varianten im Internet, ist sehr beliebt und kritisiert alles, was ihm nicht paßt. Jeder kann Inhalte einfügen, und auch Rechte bedienen sich solcher Bilder und belegen sie mit ihren Botschaften. So werden ursprünglich harmlose Bilder nach und nach in politische Inhalte verwandelt. Ein anderes Beispiel, das die Autorin anführt, ist die linksliberale Kampagne Gamergate, mit der 2014 zu einer Diskussion über sexistische und andere abwertende Inhalte in Spielen aufgerufen wurde. Rechte fuhren eine Gegenkampagne, indem sie zuerst in kleinen, eher abgeschlossenen rechten Foren anfingen, über das Thema zu diskutieren. Dann stellten sie Haßkampagnen in diesen Hashtag und breiteten dies nach und nach auf YouTube, Facebook und Twitter aus. Schließlich war unter dem Hashtag fast nur noch Kritik an der angeblichen Political Correctness bis hin zu Morddrohungen zu finden. Ein weiteres Beispiel wäre Reconquista Germanica, eine Gruppe von Netzaktivisten, die aus kleinen rechtslastigen Unterforen kam und sich in den großen Foren mit dem Ziel ausgebreitet hat, im Wahlkampf 2017 die AfD zu pushen, die dadurch mehr Aufrufe als alle anderen Parteien zusammen hatte und dominant im Diskurs wurde.

Es liegt unter Linken nahe, ein Verbot von Haßsprache und solchen Kampagnen zu fordern. Daraus resultiert der Ruf nach dem Staat oder die Forderung an die Unternehmen hinter den großen Plattformen, Maßnahmen gegen Hatespeach oder Gewaltandrohungen zu ergreifen. Dieselbe Forderung wird jedoch auch aus konservativen Kreisen erhoben, was nicht zwingend heißt, daß sie falsch wäre. Daß die sozialen Medien indessen keine Verbündeten für die Linke sind, zeigt der folgende Beitrag.


Abruch eines Hochhauses in Berlin - Foto: © 2019 by Schattenblick

Auferstanden aus den Trümmern des informationstechnischen Akkumulationsregimes
Foto: © 2019 by Schattenblick


Technologiekritik als Herrschaftskritik

capulcu redaktionskollektiv: "Autonomie und Herrschaft in digitalisierter Fremdbestimmung. Technologiekritik als Herrschafts- und Zivilisationskritik." Capulcu bedeutet "Plünderer" und war die Bezichtigung, mit der Erdogan die Demonstrierenden auf dem Taksim-Platz belegt hat. Diese eigneten sich den Begriff an, und das Redaktionskollektiv sieht sich in dieser kämpferischen Bewegung, wenn es sich mit Digitalisierung, ihren Gefahren und Möglichkeiten des Widerstands dagegen auseinandersetzt. Begriffe wie Filterblase oder Echokammer werden auch im Mainstream diskutiert, und es stellt sich die Frage, inwiefern soziale Netzwerke dazu führen, daß verschiedene gesellschaftliche Gruppen entstehen, die kaum noch kritischen Austausch mit den anderen haben. Der Text geht aber weiter und versucht, moderne Formen von Überwachung und Kontrolle zu skizzieren, die mit Konzepten wie künstliche Intelligenz und Big Data gekoppelt sind.

Big Data meint gigantische Datenmassen, die von Plattformen gesammelt werden. Was man auf Amazon, YouTube oder Facebook macht, wird gespeichert, und mittels neuer Techniken der Informatik werden die riesigen Datensätze genutzt, um Informationen auf innovative Art zu gewinnen. Ruft man etwa bei der Zeitarbeitsfirma Randstad an, um sich zu bewerben, wird ein automatisiertes Gespräch geführt, in dem verblüffende Fragen ohne erkennbaren Bezug zur Bewerbung gestellt werden. Ausgewertet wird nicht, was man sagt, sondern wie man es sagt. Alles wird mit Erkenntnissen abgeglichen, die eine KI aus 5000 von ihr geführten Interviews extrahiert hat. Aus der Art der verwendeten Worte und deren Verbindung wird eine statistisch interpretierte Grammatik ermittelt, die Rückschlüsse über den Bewerber ermöglichen soll. Dieses Computerprogramm liefert dann Informationen über Gesundheitszustand, Zuverlässigkeit oder Leistungsbereitschaft, von denen die Einstellung abhängig gemacht wird. Dieses gruselig anmutende Verfahren wurde von Amazon auf ähnliche Weise für eine Vorauswahl unter Bewerbern angewendet. Das hat insofern nicht funktioniert, als das Programm schnell lernte, daß in unserer Gesellschaft Männer gut und Frauen schlecht sind. Aufgrund dieser sexistischen Logik wurden fast alle Frauen aussortiert, was dem Interesse der Anwender widersprach. Trotz dieses Scheiterns im Einzelfall kann man sich ausmalen, welche furchterregenden Konsequenzen diese Entwicklung birgt. Der Citizen Score (Sozialkredit) in China zeigt, daß dort bereits existentielle Fragen der Berufswahl, von Wohneigentum, Reisen oder politischen Karrieren von dieser Bewertung des Verhaltens abhängen.

Der Text arbeitet die Gefahren heraus, führt aber auch Beispiele erfolgreichen Widerstands an. Im Gesundheitswesen ist es seit mehr als zehn Jahren nicht gelungen, die elektronischen Gesundheitsakte einzuführen, weil sich Ärzte und Patienten dagegen wehren. Das Vorhaben wurde jedoch nicht aufgegeben, was die Kämpfe an dieser Front als Etappen in einem Prozeß ausweist. Die Google-Brillen haben in technischer Hinsicht funktioniert, wurden aber nur in den USA verkauft, wo eine relativ kleine Gegenbewegung namens Kick Glassholes dagegen mobilisierte. Das mündete teils sogar in Schlägereien, weil sich Leute gegen die Überwachung durch diese Brille wehrten. Google stellte das Vorhaben mit der Begründung ein, die Gesellschaft sei noch nicht reif für diese Brille.


Transparent bei der Protestkundgebung gegen den Deutschen Genderkongress - Foto: © 2019 by Schattenblick

Maskuliner Antifeminismus auf allen Kanälen
Foto: © 2019 by Schattenblick


Ermächtigung gegen sexistische Gewalt im Netz

Jennifer Eickelmann: "Ab- und Ausgrenzungspolitiken im Netz. Ein Vortrag zur Notwendigkeit einer dualismuskritischen Perspektivierung." Die Autorin zeigt zum einen auf, wie in Debatten im Netz Geschlechter-Stereotypen auch dort verbreitet werden, wo eigentlich kritisch diskutiert werden soll. Cyber-Mobbing wird zu 80 Prozent von Männern gegen Frauen verübt, doch auch die Kritik behandelt den Mann als aktiven Täter und die Frau als passives Opfer. Männer werden tendenziell als rational dargestellt, da sie den Plan hätten, die Frau zu mobben. Frauen werden eher als emotional dargestellt, weil sie damit nicht zurechtkommen, darunter leiden, im Extremfall daran zugrunde gehen. Treten Frauen als Täterinnen auf, werden Assoziationen bis hin zu Hexen aufgerufen. Mobbende Frauen werden als hinterhältig, irrational und triebgesteuert vorgestellt, was dieselben Bilder bestätigt.

Zum anderen geht Eickelmann auf den Dualismus Freespeach versus Hatespeach ein. Freespeach fordert Meinungsfreiheit selbst bei übelsten Äußerungen. Spricht man aber von krimineller Hatespeach, folgt der Ruf nach Autoritäten, die diesen Zustand beenden sollen. Beides hält die Autorin für problematisch, weshalb sie einen anderen Umgang mit dem Phänomen vorschlägt, den sie mediatisierte Mißachtung nennt. Mediatisiert meint, durch ein Medium vermittelt, und Mißachtung versucht, den Vorgang zu entdramatisieren. Für das Opfer geht es nach diesem Ansatz darum, weder alles hinzunehmen noch nach Autoritäten zu rufen, sondern aktiv zu werden, um einen anderen Umgang zu entwickeln: Weise ich das zurück, mache ich mich darüber lustig, ignoriere ich es, rege ich eine sachliche Diskussion an oder schließe ich mich mit anderen zusammen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben? Mit diesem Vorschlag weist die Autorin aktiv in Anspruch genommene Wege zum möglichen Widerstand.


Helmut Kellershohn mit einem Exemplar der Welt am Sonntag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Kalkulierter Tabubruch verschiebt Grenze des Sagbaren
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Glaubwürdige linke Entwürfe dringend gesucht

Helmut Kellershohn: "Vom kalkulierten Tabubruch zum Appell an die Meinungsfreiheit. Wie die Rechte das Gespräch über sie und mit ihr erzwingen will." Beim Thema Meinungsfreiheit geht es darum, wie die Grenzen des hegemonialen Diskurses und des Sagbaren bestimmt sind. Was kann gesagt werden, was darf gesagt werden? Diese vermeintlich banale Frage wird heute auf der politischen Ebene tagtäglich verhandelt. Wenn Teile der Union eine Annäherung an die AfD befürworten, ist sofort von roten Linien die Rede. Ist die AfD eine Partei, deren Aussagen noch innerhalb der Grenzen des Sagbaren liegen oder nicht? Je nach politischem Standort werden die Grenzen unterschiedlich gezogen, so daß diese "Grenze des Sagbaren" unmittelbar für die politische Entwicklung relevant ist. Darf man mit Rechten reden, muß man es sogar oder sollte man es besser unterlassen?

Kellershohn brachte seine Position in dieser Frage reduziert auf drei Punkte zum Ausdruck. Erstens hat die Linke seit jeher über die Rechte geredet und Unmengen von Büchern dazu produziert. Das ist insofern von Belang, als die Rechte natürlich registriert, was die Linke über sie schreibt, und im Zuge ihrer Diskurs-Piraterie linke Ideen aufgreift, um sie von rechts zu plazieren. So lesen im Institut für Staatspolitik Leute wie Götz Kubitschek oder Benedikt Kaiser aufmerksam die linke Presse und ziehen daraus Schlußfolgerungen für ihre eigenen Strategien. Zweitens gibt es so etwas wie eine Win-Win-Situation für die AfD und die neue Rechte. Ob man mit der Rechten redet oder nicht ist ziemlich egal, da sie aus beidem ihren Vorteil zieht. Wird in zahllosen Talkshows über die AfD gesprochen, ist das für sie ein Erfolg, als hätte sie selber am Tisch gesessen. Daraus folgt, daß man auch im Fernsehen nicht kneifen, sondern Stellung beziehen sollte. Es geht um das Publikum vor dem Fernsehschirm, das sich in beträchtlichen Teilen mit der AfD solidarisiert, wenn über sie gesprochen wird. Drittens sind Rechtspopulismus und Rechte auf dem Vormarsch und verzeichnen Landgewinne. Das hat sehr viel mit der Linken zu tun, die sich nicht auf die Rechte fixieren sollte, als suche sie den Stein der Weisen, um sie in die Schranken zu weisen.

Es geht um die Linke, wofür auch der eingangs zitierte Klaus Dörre plädiert. Er macht sich dafür stark, Ideen und Spielräume für eine neosozialistische Perspektive auszuloten. Das hält Kellershohn für viel wichtiger als die Diskussion um eine demokratische Streitkultur. Man müsse Selbstverständigungsprozesse herbeiführen und Diskussionsräume schaffen, um darüber zu sprechen, was die Linke will und wie sie das in die Öffentlichkeit tragen kann.


Fußnoten:


[1] www.blaetter.de/ausgabe/2018/juni/neo-sozialismus-oder-acht-thesen-zu-einer-ueberfaelligen-diskussion

[2] Paul Bey, Benno Nothardt (Hg.): Kämpfe um Meinungsfreiheit und Medien. Im Spannungsfeld von Hate Speech, Fake News und Algorithmen, Edition DISS Band: 44, Unrast Verlag Münster 2019, 160 Seiten, ISBN 978-3-89771-773-2


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
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BERICHT/098: 24. Linke Literaturmesse - kritisch schreiben kritisch lesen ... (SB)
BERICHT/099: 24. Linke Literaturmesse - schließlich die geballte Faust ... (SB)
BERICHT/100: 24. Linke Literaturmesse - nicht einfach nur ein Klassenkampf ... (SB)
BERICHT/101: 24. Linke Literaturmesse - Verbotsopportunismus ... (SB)
BERICHT/102: 24. Linke Literaturmesse - türkische Motive ... (SB)
BERICHT/103: 24. Linke Literaturmesse - fehlt nur das Recht auf das Völkerrecht ... (SB)
BERICHT/104: 24. Linke Literaturmesse - Berufsverbote gestern und heute ... (SB)
BERICHT/105: 24. Linke Literaturmesse - fremd, schwach und verdrängenswert ... (SB)
BERICHT/106: 24. Linke Literaturmesse - zur Protestkundgebung gegen den Deutschen Genderkongress ... (SB)
BERICHT/107: 24. Linke Literaturmesse - nicht zurückzudrehen ... (SB)
BERICHT/108: 24. Linke Literaturmesse - Leben dritter Klasse ... (SB)
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BERICHT/110: 24. Linke Literaturmesse - Berlin, die Stadt der Häuserkämpfe und Wohnungsnöte ... (SB)
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BERICHT/114: 24. Linke Literaturmesse - gegen Faschismus und Machismus ... (SB)

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13. Januar 2020


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