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INTERVIEW/004: Otto Köhler, Journalist und Publizist, über deutsche Verhältnisse (SB)


Gespräch mit Otto Köhler am 3. Oktober in Hamburg-St.Georg


Als langjähriger Journalist führender Zeitungen, Autor zahlreicher Bücher und Mitglied des deutschen P.E.N.-Zentrums hat Otto Köhler intime Einsichten in die politischen und publizistischen Verhältnisse der Bundesrepublik erlangt. Am Rande einer Lesung im Hamburger Polittbüro [1] aus seinem neuaufgelegten und erweiterten Buch "Die große Enteignung - Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte" beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Otto Köhler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Otto Köhler
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Heute ist der Tag der Deutschen Einheit. Während in Bonn ein Volksfest mit großem symbolpolitischem Gehalt gefeiert wird, stellen Sie in Hamburg die Neuauflage Ihres Buches "Die große Enteignung" vor. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Aufklärung und dem, was heute an restaurativer Überhöhung des Ereignisses stattfindet?

Otto Köhler: Ja, ich fand dieses Fest heute sehr aufklärend. Man hat einen tanzenden Ossi gezeigt, der die seltsamsten Verrenkungen ausführte und sogar auf dem Kopf tanzte zu einer sehr schönen Musik. Ich fand das beeindruckend. Ich weiß nur nicht, ob die Leute bemerkt haben, daß es DER Ossi schlechthin war, der dort tanzte.

SB: Haben Sie den Eindruck, daß es auch heute noch eine starke Trennung in die Kategorien Ossi und Wessi gibt?

OK: Ja selbstverständlich. Das merkt man, wenn man herüberkommt.

SB: Vollzieht sich die Kategorisierung ihrer Meinung nach kulturell oder eher sozial?

OK: Sozial nähern wir uns ja an. Die Leute, die im Westen beschäftigt sind, werden auf das Niveau der Leute im Osten immer mehr zurückgeführt. Das ist schon eine Art Einheit, die bemerkenswert ist.

SB: In den Festtagsreden wurde heute in besonderer Weise die Einheit Europas betont. Mit der sogenannten Wiedervereinigung ist die Integration Europas einen großen Schritt vorangekommen. So hat die deutsche Zustimmung zum Maastricht-Vertrag letztlich die Zerschlagung Jugoslawiens ermöglicht, politisch konditioniert und getragen durch die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch die Bundesrepublik. Heute hat sich diese Wertegemeinschaft vollends in eine Art Schicksals- oder Notgemeinschaft zurückverwandelt. Laut Frau Merkel ist der Euro Europa. Erkennen Sie da eine fortlaufende Linie vom NS-Projekt eines großdeutschen Europas zum heutigen Europa unter, mindestens ökonomisch gesehen, starker deutscher Vormacht?

OK: Ludwig Erhard hat schon in der Nazizeit für die damalige Treuhand gearbeitet und zusammen mit Otto Ohlendorf, dem Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, schon so manches gedreht für die Zukunft. Wir müssen jedoch zuerst über das Jahr selbst sprechen, als die Mauer fiel. Der Mauerfall hat natürlich eine Möglichkeit eröffnet, die es vorher nicht gab, nämlich daß Deutschland - Westdeutschland und Ostdeutschland konnten es alleine nicht - wieder Krieg führt. Genau das ist geschehen. Gerhard Schröder war der erste Kanzler seit Adolf Hitler, der mit Bomben auf Belgrad das fortsetzte, was Hitler 1941 ebenfalls mit Bomben auf Belgrad und gleichermaßen ohne Kriegserklärung begonnen hatte.

SB: Unter Gerhard Schröder und der rotgrünen Bundesregierung ist es 2000 im Anschluß an den Jugoslawienkrieg zu einem sogenannten Aufstand der Anständigen in Deutschland gekommen, mit dem praktisch versucht wurde, den Antifaschismus zu einem hegemonialen Staatsprojekt zu machen und ihn gleichzeitig von allen kapitalismuskritischen Inhalten zu bereinigen. Inzwischen haben wir es mit einer neuen Rechten zu tun, die im Unterschied zur klassischen Rechten der NPD und Neonazis viel stärker in die Gesellschaft integriert ist. Wie bewerten Sie den Zusammenhang zwischen einer Sozialdemokratie, die sich antifaschistisch aufstellt, und einem Parteimitglied wie Thilo Sarrazin, der aber gleichzeitig mit sozialrassistischen Forderungen aufwartet?

OK: Ich glaube nicht, daß man die SPD verdächtigen darf, sie sei antifaschistisch. Das ist bei uns ein Schimpfwort, das Kommunisten zugeordnet wird. Selbstverständlich erklärt sich die SPD gegen Nazis, soweit sie nicht in der eigenen Partei sind. Sie hat versucht, Sarrazin auszuschließen, das ist wahr, aber von Antifaschismus konnte man damals nicht reden. Es war eine Kerzenbewegung gegen allzu offensichtlichen Fremdenhaß, wie er eben damals in Rostock, von Westdeutschland geschürt, ausgebrochen war.

SB: Rostock hatte durchaus eine Signalwirkung gehabt, nämlich daß man dieses Ressentiment nicht den Menschen überlassen darf, sondern politisch intervenieren muß im Sinne der Abschaffung des Asylrechts.

OK: Das war äußerst zweckmäßig damals nach den Ereignissen in Rostock. Die Änderung des Asylrechts kam gleich im Anschluß darauf und hat sogar einen so treuen Sozialdemokraten wie Günter Grass zum Austritt aus der Partei bewegt.

SB: Wie erklären Sie sich die Entwicklung einer neuen europäischen Rechten, die mit Geert Wilders und Thilo Sarrazin Galionsfiguren besitzt und teilweise im Parlament über einigen Einfluß verfügt? Anders als etwa bei der NPD wird dieser Rechtsruck in der heutigen politischen Landschaft weithin akzeptiert.

OK: Wir sind wieder wer. Dazu gehört natürlich auch, daß es Leute gibt, die unter einem sind. Da ist ein Mann wie Sarrazin sehr, sehr wichtig, denn er zeigt uns: die da unten und wir da oben.

SB: Sarrazin ist Volkswirtschaftler. In dem Lettre-Interview forderte er, die Unproduktiven müßten aus Berlin verschwinden. Damit meinte er nicht nur Araber und Türken, sondern auch deutsche Erwerbslose. Glauben Sie, daß diese Bewegung Zukunft hat, weil sie nur vordergründig auf ethnische Motive setzt, tatsächlich aber die Menschen an ihrem ökonomischen Wert für die Gesellschaft bemißt?

OK: Ja, solange die CDU, die alte Rechte und die rechte Sozialdemokratie das alles übernehmen, ist eine weiter außen stehende neue Rechte nicht so nötig. Sie ist natürlich wichtig, um rechte Intellektuelle zu fangen, die sich natürlich von SPD und CDU abgestoßen fühlen, weil sie ihnen zu spießbürgerlich sind, aber eine rechte Partei ist zur Zeit noch nicht erforderlich.

Otto Köhler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sich die Heiterkeit nicht nehmen lassen ...
Foto: © 2011 by Schattenblick
SB: Über den plötzlichen Rücktritt von Horst Köhler hatte es einige Spekulationen gegeben. Sie haben in Ihrem Artikel "Der Freund, der gute Freund" angedeutet, daß Köhler möglicherweise aufgrund seiner Rolle im Einigungsprozeß erpreßbar wäre oder zumindest Druck auf ihn ausgeübt werden könnte. Könnten Sie sich vorstellen, daß das womöglich Einfluß auf seinen Rücktritt gehabt hat?

OK: Nein, denn es ist keine Schande, die Ostdeutschen so hereingelegt zu haben, wie es Köhler und Sarrazin im Finanzministerium taten. Es ist tatsächlich so, daß er lediglich aussprach, was jeder weiß, aber keiner sagen darf, nämlich daß die Bundeswehr für wirtschaftliche Interessen kämpft und Blut vergießt. Das war der Punkt. Er hat es sich sehr zu Herzen genommen, daß man ihm den Vorwurf machen konnte, er habe da etwas ausgeplaudert, was man nicht ausplaudern darf. Natürlich war er dann auch etwas beleidigt, weil man das ihm gegenüber so offen aussprach. Ich kann mich noch gut entsinnen. Ich war gerade bei einer P.E.N.-Mitgliederversammlung, als das ablief, und stellte den Antrag, daß der deutsche P.E.N. sich bei Horst Köhler bedankt, daß er endlich ausgesprochen hat, wozu die Bundeswehr dient. Mein Antrag wurde natürlich nicht angenommen, statt dessen wurde ein anderer beraten, in dem es sinngemäß hieß, "Voller Empörung nimmt der P.E.N. zur Kenntnis, daß..." So ein Antrag wurde dann auch angenommen, aber kein Mensch nahm ihn zur Kenntnis. Wenn mein Antrag damals angenommen worden wäre, das war zwei Tage vor seinem Rücktritt, dann wäre er deswegen zurückgetreten.

SB: Sie sind auch Autor der jungen Welt und kennen den umstrittenen Aufmacher, in dem sich die Zeitung auf eine bewußt provokante Weise gegen die Diffamierung früherer DDR-Bürger positioniert hat. Sie war das einzige Blatt im deutschen Medienfeld, das zu diesem Tag ein ganz anderes Signal gesetzt hat. Wie beurteilen Sie die Debatte, die darauf erfolgt ist und bis zur Verbotsforderung der jungen Welt selbst aus den Reihen der Linken reichte?

OK: Das ist der normale Gang der Dinge in diesem Land. Die junge Welt hat erklärt, wir müssen uns nicht darüber unterhalten, daß die Mauer scheußlich war, andererseits hat Kennedy gesagt, der Mauer verdanken wir den Frieden. Das ist beides richtig. Ich habe selbst vorhin gesagt, daß nach dem Fall der Mauer für Deutschland wieder Krieg möglich war. Man muß beides sehen. Einerseits war es unmenschlich, die Leute an der Mauer abzuknallen, aber andererseits war die Mauer in der damaligen Situation eine Notwendigkeit.

SB: Wenn man, wie dieser Fall zeigt, so schnell gegen den herrschenden Konsens verstößt und abgestraft wird, vermittelt sich der Eindruck, daß die publizistische Bandbreite, die man heutzutage noch zur Verfügung hat, recht eng ist. Entwickelt sich ihrer Ansicht nach in der deutschen Presselandschaft eine dogmatische Leitkultur oder Konformität?

OK: Mich sprach einmal ein Redakteur der Zeit, für die ich einige Jahrzehnte gearbeitet habe, auf einen Artikel an, den ich in der jungen Welt schrieb. Er sagte: "Das hätte man früher sogar bei uns veröffentlichen können."

SB: Zu dem vom Verlagskonzern selbst angekündigten Springer-Tribunal, über das Sie auch geschrieben haben, ist es ja nicht gekommen. Die Springerpresse erweist sich als sehr integrativ gegenüber ehemaligen Linken wie Wolf Biermann. Zu dessen 70. Geburtstag hat niemand Geringeres als Mathias Döpfner die Laudatio gehalten. Sie war im Grunde nach dem von Biermann geprägten Motto ausgerichtet: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.

OK: Man kann nicht sagen, daß Döpfner bzw. Springer integrativ sind. Es ist umgekehrt, die 68er Biermanns und so fort, die integrieren sich. Das ist ein Unterschied. Sie passen sich an. Das Springer-Tribunal ist leider auch durch die Schuld ehemaliger 68er nicht zustande gekommen, weil sie sich von ihren eigenen Standpunkten abgewendet haben. Ich wurde einmal in einem Fernsehinterview mit Tilman Jens, der einen Springer-Film drehte, gefragt, ob ich zu diesem Springer-Tribunal kommen würde. Ich sagte, selbstverständlich, ich werde kommen und ich werde auch die und die Fragen stellen. Das war kurz bevor es abgesagt wurde. Der Film wurde dann gezeigt, aber ohne mein Interview, und das Springer-Tribunal fand nicht statt.

SB: Letztes Jahr hat Herr Döpfner einen kaum beachteten, langen Artikel in der Welt geschrieben: "Der Westen und das höhnische Lachen der Islamisten". Darin gab er eine regelrechte Kriegserklärung an die islamische Staatenwelt ab: "Wo immer unfreiheitliche Energien auszumachen sind, vor allem dort, wo sie unsere Interessen berühren, muss mit Nachdruck und zur Not, als ultima ratio auch mit militärischen Mitteln die Freiheit verteidigt werden." [2] Das ist die Botschaft des Leiters von einem der mächtigsten deutschen Verlagskonzerne.

OK: Ja, das liegt in der Tradition des Hauses Axel Springer. Vielleicht wäre er nicht ganz so deutlich mit dem Wort Krieg geworden, aber ansonsten, was die klare Feinderklärung betrifft, ist das nicht neu.

SB: Sie waren für den Spiegel als Kolumnist tätig. Wo sehen Sie den Spiegel heute, der mitunter dazu neigt, solche Kriege zumindest gutzuheißen?

OK: Der Spiegel ist fokussiert. Es war schon zu meiner Zeit etwas problematisch mit dem Spiegel, vor meiner Zeit ganz besonders, weil da sehr viele Nazi-Redakteure, vor allen Dingen aus dem Reichssicherheitshauptamt, dort waren. Heute steht der Spiegel unter dem Eindruck, daß man nichts aufs Spiel setzen will, auch durch die Eigentümerrolle, die ein Teil der Redaktion übernommen hat. Dafür hatten wir, Gremliza und andere, damals in der Redaktionsbewegung gekämpft und sind herausgeflogen, aber wir haben erreicht, daß diese Redaktion nun besänftigt wurde und ihre wirtschaftlichen Errungenschaften natürlich nicht aufs Spiel setzen will und deshalb sich mehr und mehr an das anpaßt, was geboten scheint.

SB: Das klingt paradox. In der Regel wird doch gesagt, daß Unabhängigkeit im Journalismus erst die Möglichkeit zur Kritikfähigkeit eröffnet.

OK: Ja, aber ich kenne aus meiner Zeit viele Spiegel-Redakteure, und ich glaube, bei denen ist es etwas anders.

SB: Sahra Wagenknecht hat sich in einem Buch überraschend positiv über den Ordoliberalismus der Freiburger Schule geäußert. Was sagen Sie zu einer solchen Entwicklung in der Linkspartei? Können Sie sich vorstellen, daß das die Rutsche in die Mitte ist?

OK: Ich weiß es nicht. Ich will einmal annehmen, daß sie das provokativ meinte, daß sie die gegenwärtige CDU und ihre Verfassung mit einem fortschrittlichen Erhard provozieren wollte, was ihr wohl nicht so recht gelungen ist.

SB: Wie erklären Sie sich den immensen Erfolg der Grünen in letzter Zeit? In Freiburg ist vor kurzem ein Wohnwagenpark von linksalternativen Menschen unter Aufsicht des grünen Freiburger Bürgermeisters geräumt worden. Das geschah in einem grünen Vorzeigeviertel, wo zu 80 Prozent grün gewählt wird. Offensichtlich hatte man es mit einem sehr etablierten Bürgertum zu tun.

OK: Ja, die haben doch gestört. In den schönen Häusern der arrivierten Grünen wurde das nicht gern gesehen, daß sich da so etwas breitmacht. Ich hoffe, daß die Linkspartei eine solche Entwicklung nicht nimmt.

SB: Würden Sie der Linkspartei in der Beziehung einen gewissen Vertrauensvorschuß geben?

OK: Hoffnung beinhaltet keinen Vertrauensvorschuß. Hoffnung ist immer auch mit Angst verbunden, daß es anders kommt.

SB: Sie sind neben Gerhard Zwerenz, der die Laudatio hielt, als Sie den Tucholsky-Preis erhalten haben, einer der wenigen streitbaren Intellektuellen der alten Bundesrepublik, die sich nicht den Forderungen des politischen Mainstreams unterworfen haben. Wie sehen Sie die Zukunft für Intellektuelle und Autoren, die sich kritisch mit politischen Themen auseinandersetzen?

OK: Ich lebe dahin.

SB: Im Verhältnis zu den großen Blättern, für die Sie schon gearbeitet haben, könnte man auf den Gedanken kommen, daß die junge Welt eine Art inneres Exil für Sie darstellt. Würden Sie das bestätigen?

OK: Ja

SB: Herr Köhler, ich bedanke mich vielmals.

Fußnoten:

[1] BERICHT/008: Otto Köhler zur "großen Enteignung" der DDR durch die Treuhand (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0008.html

[2] http://www.welt.de/debatte/article11148187/Der-Westen-und-das-hoehnische-Lachen-der-Islamisten.html

Beim Interview - Foto: © 2011 by Schattenblick

Otto Köhler mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

7. Oktober 2011