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INTERVIEW/029: Links, links, links - Familiendämmerung ...    Gisela Notz im Gespräch (SB)


Soziale Beziehungen im Wandel

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Dr. Gisela Notz ist mit Familien-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik befaßt. Weitere Forschungschwerpunkte betreffen die Alternative Ökonomie und die Geschichte der Frauenbewegung. Auf der Linken Literaturmesse stellte die Feministin ihr jüngstes Buch "Kritik des Familismus" vor. Dem Schattenblick beantwortete sie einige Fragen zum heutigen Stand der Frauenbewegung und alten wie neuen Formen des Zusammenlebens.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Gisela Notz
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Frau Notz, wie würden Sie den Feminismus auch aus heutiger Sicht umschreiben?

Gisela Notz (GN): Ich bin seit den 1960er Jahren Feministin. Für mich ist Feminismus die Kritik an der herrschenden Gesellschaftsordnung mit ihrer immer noch unterschiedlichen Positionierung und Arbeitsteilung von Mann und Frau. Nach wie vor ist die Gesellschaft von Frauendiskriminierung geprägt. Feminismus heißt: Analysiere die Benachteiligung in dieser Gesellschaft, tue dich mit anderen zusammen und überlege, was man dagegen tun kann, entwickle Handlungsstrategien, Aktionen und Kampagnen hin zu einer Gesellschaft, wo alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, Alter oder körperlicher Verfasstheit die gleichen Möglichkeiten der Verwirklichung haben und in der die Diskriminierungen abgeschafft sind.

SB: Einmal provokant gefragt: Ist der Feminismus heutzutage angesichts des Gender-Mainstreamings und der regierungsamtlich verfügten Politiken nicht überflüssig und gegenstandslos geworden? Man könnte ja behaupten, es gäbe zwar noch Differenzen im Lohnniveau, aber im Großen und Ganzen fielen diese nicht mehr so drastisch wie in den 60er Jahren aus.

GN: Es kann schon sein, daß es nicht mehr so drastisch ist wie in den 1960er Jahren, aber in jenen Jahren haben sich Feministinnen bewußt dagegen aufgelehnt und sich zusammengetan, um genau diese Verhältnisse zu verändern. Die sogenannte neue Frauenbewegung hat die Diskriminierungs-, Unterdrückungs- und Gewaltverhältnisse offengelegt und auch Handlungsstrategien dagegen entwickelt, indem sie nach den Wurzeln der patriarchalischen Ungleichbehandlung gefragt und auf Veränderungen gedrungen hat. Seinerzeit haben sich Frauenprojekte und Wohngemeinschaften gebildet, um diese Art von Benachteiligungen aufzuheben.

Es geht nicht nur um das Lohnniveau, aber tatsächlich sind die Löhne für Frauen seit Beginn der Industrialisierung um vieles niedriger als bei Männern. Der Abstand beträgt heute noch 22 Prozent. Das wirkt sich natürlich auch aufs Rentenniveau aus, wo Frauen laut einer statistischen Erhebung der Bundesregierung um 60 Prozent niedrigere Renten bekommen. Das Ganze hat jedoch auch eine gesellschaftspolitische Seite zum Beispiel in bezug auf die vielfältigen Zugänge zu technischen Berufen und Studiengängen, die einen hohen Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft haben. Auch in der "großen" Politik sind Frauen nach wie vor weniger vertreten als Männer, auch wenn wir eine Bundeskanzlerin haben. Mein Anliegen betrifft nicht nur die Veränderung der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, sondern auch die Frage der Zusammenlebensform. Die Ideologisierung der Familienform mit Vater, Mutter, Kind und möglichst der Frau als Zubringerin der Sorgearbeit ist extrem diskriminierend.

SB: Hat der Begriff des Patriarchats für Sie auch im urtümlichen Sinne noch eine Bedeutung?

GN: Patriarchat heißt die Vorherrschaft des Patriarchen, was im historischen Kontext immer der Mann war, der notfalls auch von seinem Faustrecht Gebrauch machen konnte sowohl gegenüber dem Gesinde wie auch gegenüber der eigenen Frau und den Kindern. Die Züchtigung von Kindern war noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg legal. Ganz abgeschafft durch eine Änderung im BGB wurde sie erst im Jahr 2000. Wenn man sich Bilder von Politikern bei Treffen auf EU-Ebene anschaut, dann ändert auch eine Bundeskanzlerin nichts daran, daß die politische Gestaltung immer noch männlich dominiert ist. Selbst wenn Frauen in die hierarchischen Strukturen eingebunden werden, bleiben diese dem Wesen nach weiterhin patriarchal. Mit einem anderen Geschlecht ist nicht gleichzeitig auch die patriarchale Struktur überwunden.

SB: Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang das Gender-Mainstreaming als gesellschaftspolitischen Lösungsansatz?

GN: Das Gender-Mainstreaming ist eine Methode, sie besagt, daß Politik, Unternehmen, Organisationen und Institutionen jegliche Maßnahmen, die sie ergreifen, hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und von Männern untersuchen und bewerten sowie gegebenenfalls Maßnahmen zur Gleichstellung ergreifen. Aber diese Methode verbleibt im kapitalistischen System, aus dem heraus sie entstanden ist, so daß sich erst einmal nichts an den hierarchischen Strukturen ändert. Freilich gibt es keinen Grund, warum in Führungspositionen nicht gleich viele Frauen wie Männer sein sollen, solange die Hierarchien so sind, wie sie sind. Die Feministinnen der 1970er Jahre waren jedoch angetreten, diese Strukturen und Hierarchien zu verändern. Deshalb haben sie selbstverwaltete Frauen- und gemischte Projekte entwickelt. Es ging nicht darum, die Hälfte der Posten einzunehmen. Man weiß bis heute nicht, ob sich wirklich etwas ändern würde, wenn die Hälfte der Aufsichtsrats- und Vorstandsposten von Frauen besetzt wären, denn für eine Untersuchung fehlt die empirische Basis. Aber die Angst davor scheint groß zu sein, sonst würde man nicht in dieser Weise dagegen polemisieren.

Es gab einmal eine Zeit, wo schon der Begriff Feminismus total diskriminiert war und sich viele Frauen davon distanziert hatten. Heute waren in meinem Vortrag fast durchweg jüngere Frauen, was mir zeigt, daß sie sich wieder dafür interessieren und viele nennen sich wieder bewußt Feministinnen. Sie haben ihre eigenen Zeitschriften und machen manches anders, als wir es früher getan haben, und ich finde das ganz toll. Ich habe meinen Vortrag absichtlich historisch gehalten und konnte erkennen, daß junge Frauen, wenngleich nicht alle, durchaus ein Geschichtsbewußtsein haben.

Anders als früher gibt es heutzutage noch den Queer-Feminismus, der bereits die Einteilung in Frauen und Männer in Frage stellt, aber das gehört im Prinzip auch zum Feminismus. Denn wenn ich sage, daß alle Menschen, egal, welchen Geschlechts, die gleichen Möglichkeiten zur Entfaltung haben sollen und so zusammenleben können, wie sie wollen, dann werden damit auch die Rollen, die Männer und Frauen zugeschrieben werden, angegriffen.

SB: Empfinden Sie die Erweiterung der klassischen bipolaren Geschlechterbeziehung, die heutzutage als heteronormativ bezeichnet wird, persönlich als Bereicherung?

GN: Ich sehe darin generell eine Bereicherung, denn die bipolare Sicht auf das Geschlecht hat viele Menschen ausgegrenzt. Daß sich junge Leute wieder darüber Gedanken machen, finde ich sehr begrüßenswert. Die Bezeichnung heteronormativ drückt etwas Negatives aus, weil sie die heterosexuelle Beziehung in der Familie als Norm setzt und sich damit am Mann-Frau-Muster orientiert und andere Lebensweisen ausgrenzt, was nie das Anliegen der feministischen Bewegungen war. Aus diesem Grund wurden Frauenwohngemeinschaften, Kommunen und andere Zusammenschlüsse gegründet, um die heteronormative Familie aufzubrechen, an der sich alles orientiert.

Interessanterweise wird sie heute in einem viel geringeren Ausmaß gelebt. Je nach statistischer Grundlage leben nur noch 24 bis 26 Prozent der Bevölkerung diese Familienform. Wenn man nur Familien mit minderjährigen Kindern rechnet, kommt man nur noch auf ca. 20 Prozent. Als ich 1991 mein erstes Familienbuch schrieb, lag der in solchen Familienverhältnissen lebende Bevölkerungsanteil noch bei einem Drittel. Mir kommt es allerdings weniger auf Zahlen an als vielmehr auf den Umstand, daß die heterosexuelle Normalfamilie nicht mehr die vorherrschende Form des Zusammenlebens ist. Darauf muß Politik Rücksicht nehmen und darf nicht immer so tun, als brauchten wir jetzt eine Förderung derselben Familie, damit in Deutschland mehr Kinder auf die Welt kommen. Möglicherweise haben junge Menschen auch Angst davor, am Stadtrand in einem kleinen Häuschen als heterosexuelle Familie zu leben.

SB: Kürzlich ist Ihr neuestes Buch "Kritik des Familismus" erschienen. Worum geht es dabei?

GN: Familismus ist die Ideologie hinter der als Norm geltenden Vater-Mutter-Kind-Familie. Das heißt, sie ist immer heterosexuell-monogam organisiert, monogam lasse ich meistens weg, weil es ohnehin meist eine Lüge ist. Die heterosexuelle Kleinfamilie mit leiblichen Kindern wird an jede Wand gemalt. Man braucht nur einen Blick in die Zeitschriften zu werfen, die Werbeanzeigen sind nahezu vollständig an dieser Kleinfamilie orientiert. Wer nicht so lebt, ist immer noch Außenseiter. Es heißt immer, Alleinerziehende, Singles und Alte, wenn sie nicht bei den Kindern leben dürfen, sind ganz allein und einsam. In Wirklichkeit geht es darum, Sozialkosten zu sparen, indem die Sorgearbeit in dieser Familie geleistet werden soll. Meist sind die Familien (sprich Frauen innerhalb derselben) total überlastet, wenn sie die ganze Sorgearbeit leisten.

SB: Zielt Ihre Kritik im wesentlichen darauf, daß das Modell der Kleinfamilie zwar nicht mehr in dem Maße gelebt wird, aber ideologisch immer noch dominant ist?

GN: Ja und Nein, ich kritisiere auch die Struktur als solche, weil familistische Systeme alle Menschen ausschließen, die nicht zu dieser Familie gehören. In meinem Buch beschreibe ich, daß sie zwar als Leitbild gilt, sich aber auch dieses Leitbild im Lauf der Geschichte immer wieder gewandelt hat. Vor der Industrialisierung nahm die Großfamilie diese Rolle ein, die aber ebenfalls nicht von allen Menschen gelebt wurde, sondern ihre Verbreitung nur im großbürgerlichem bzw. großbäuerlichem Raum hatte. Die Großfamilie wurde von den ersten Familiensoziologen ebenso an die Wand gemalt, wie dies jetzt mit der Kleinfamilie geschieht. Mit fortschreitender Industrialisierung hat sich aus dem Zerfall der Großfamilie die Kleinfamilie entwickelt, aber sie funktioniert in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht mehr.

Zur bürgerlichen Kleinfamilie gehört, daß der Mann berufstätig ist und die Frau zu Hause bleibt bzw. dazuverdient, letzteres entspricht eher dem modernisierten Modell. Tatsächlich wollen Frauen, selbst wenn sie in einer Kleinfamilie leben, nicht mehr reine Hausfrauen, sondern auch berufstätig sein. Mehr als Teilzeitarbeit oder Minijobs, die zur Existenzsicherung nicht ausreichen, kriegen sie jedoch nicht, zumal Kindertagesstätten nach wie vor nicht selbstverständlich sind. Ein berufstätiger Mensch und eine sorgende Person waren im Gesellschaftssystem, das rund um die Kleinfamilie herum eingerichtet war, zu vereinbaren. Das funktionierte aber auch nur, wenn genügend Geld da war. Auch Arbeiterfamilien strebten es an, das Geld, das der Mann verdiente, reichte jedoch meistens nicht ohne Zuverdienst. Heute wollen die weitaus meisten Frauen aber auch berufstätig sein. Das führt zum Chaos (genannt "Vereinbarkeitsproblem"), weil weder Beruf noch Familie so gestrickt sind, daß zwei Berufstätige mit zwei Sorgebiografien zu verbinden sind.

SB: Aus konservativer Sicht gilt die Aufteilung in Mann und Frau der biologischen Reproduktion, wobei die Frau einen wesentlichen Teil davon trägt. Sollte dies Ihrer Ansicht nach sozialpolitisch kompensiert werden, damit die Frau die gleichen Freiheiten etwa in bezug auf die Berufswahl oder andere gesellschaftliche Tätigkeiten hat wie der Mann?

GN: Biologisch gesehen ist die Frau nicht unbedingt dafür da, das Kind zu versorgen. Spätestens nach der Stillzeit könnte das auch jede andere Person machen. Das muß natürlich kontinuierlich geschehen. Es gibt viele Kinder, die ohne Vater, man denke nur an die Nachkriegszeit, oder nicht bei der leiblichen Mutter aufgewachsen sind.

SB: Was wäre aus Ihrer Sicht erforderlich, damit Frauen ohne Einschränkungen in ihrer Biografie ein Kind kriegen können?

GN: Mein Vorschlag ist in der Geschichte schon öfter praktiziert worden. Es gibt auch andere Lebensformen, wo man sich in Gruppen zusammentut und gegenseitig ergänzt, wo nicht nur die biologische Mutter für die Sorgearbeit verantwortlich ist, sondern mehrere Personen eine Gruppe von Kindern betreuen. Letzten Endes geht es darum, daß Menschen so zusammenleben können, wie sie es sich aussuchen, also, daß keine Lebensform bevorzugt und damit keine benachteiligt wird. Voraussetzung ist natürlich, daß niemand ausgebeutet, unterdrückt oder seinen eigenen Interessen widersprechend behandelt wird. "Ehe für alle" ist eine Chimäre, weil sie nur für jene gilt, die sich den bürgerlichen Normen fügen und als Paare zusammenleben wollen. Man kann sich auch etwas anderes vorstellen, und es werden ja bereits vielfältige Lebensformen gelebt. Vor allem geht es darum, daß niemand ausgegrenzt oder bevorzugt wird, nur weil er oder sie eine bestimmte Lebensform praktiziert.

SB: Würde das idealerweise nicht implizieren, daß man auf eine Institution wie die Ehe ganz verzichtet?

GN: Auf die Ehe könnte man verzichten. Man braucht keine solche Institution. Selbst dann nicht, wenn Menschen, egal, ob Homo- oder Heterosexuelle, sich versprechen wollen, zu zweit oder zu mehreren immer zusammen zu bleiben. Man kann Rituale oder Feste feiern, aber man kriegt eben keine Vergünstigung und natürlich kein Ehegattensplitting.

SB: Tove Soiland hat das Thema Sorgearbeit auf marxistische Weise untersucht und vertritt die Auffassung, daß es nicht nur darum gehen könne, Sorgearbeit in Lohnarbeit zu überführen. Wie stehen Sie dazu?

GN: Ich finde, daß man nicht alle Sorgearbeiten - bei Pflege wird es schon kritischer - Lohnarbeitskriterien unterziehen sollte. Care-Arbeit als Arbeitsform ist jedoch nicht deshalb humaner gestaltet, weil sie nicht bezahlt wird. Ich bin dafür, die Arbeit als Ganzes in den Blick zu nehmen, sowohl die (jetzt) bezahlt geleistete als auch die (jetzt) unbezahlt geleistete. Care-Arbeit kann man nicht abtrennen. Es gibt sie in der bezahlt und unbezahlt geleisteten Arbeitsform und im sozialen "Ehrenamt". Die ganze Arbeit muss humanisiert, anders verteilt und von ihrer Entfremdung befreit werden.

SB: Frau Notz, vielen Dank für das Gespräch.


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