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INTERVIEW/079: 21. Linke Literaturmesse - Bilder, Medien und Dokumente ...    Gabriele Senft im Gespräch (SB)


Mit erhellendem Blick fürs Wesentliche

Interview am 6. November 2016 in Nürnberg


Gabriele Senft widmet sich als politisch aktive Fotografin der Darstellung sozialer Widersprüche und staatlicher Übergriffe auf stets positionierte und eingreifende Weise. In der DDR aufgewachsen und dort insbesondere im kulturellen Leben als Berichterstatterin tätig zählt sie heute zu der in der Bundesrepublik eher kleinen Zahl sozialistische und sozialrevolutionäre Geschichte ins Gedächtnis rufender und die Schattenseiten herrschender Verhältnisse sichtbar machender Fotografinnen. Aus der Tradition der Arbeiterfotografie, auf die sie sich beruft, sind verschiedene Gruppen und Organisationen hervorgegangen wie der Verband Arbeiterfotografie, R-Mediabase und die Fortschrittlichen Arbeiterfotografen, denen Gabriele Senft angehört. Auf deren Galerie [1] sind auch einige Beispiele für die Fotografie ihres Lehrers Horst Sturm zu sehen.

Auf der 21. Linken Literaturmesse schilderte Gabriele Senft in einem Gespräch mit dem Schattenblick, wie sie zur Pressefotografie kam und welche Rolle der ADN-Fotograf Horst Sturm bei ihrem Werdegang spielte.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Gabriele Senft
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Könntest du etwas zu deiner Entwicklung als Fotografin erzählen und in welcher Beziehung dies zu Horst Sturm stand?

Gabriele Senft (GS): Da ich schon während der Schulzeit mit dem Fotografieren begann, wollte ich nach dem Abitur - das war jetzt wirklich in einem anderen Leben - Fotojournalistin werden. Ein möglicher Schritt dahin war ein einjähriges Volontariat beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) der DDR in Berlin. Horst Sturm war in diesem Jahr 1970/71 unser Mentor. Anschließend habe ich in Leipzig studiert mit dem Ziel, auch als Diplomjournalistin, natürlich durch das Wort, vor allem durch die Bildaussage wirken zu können. Horst Sturm, voll beschäftigter Pressefotograf der Agentur, verstand es neben seiner Reporterarbeit dennoch, und vielleicht gerade deshalb, besonders erfolgreich, uns das Fotografieren beizubringen. Dazu gehört zunächst das Beherrschen des technische Werkzeugs, vor allen Dingen hat mich aber seine Persönlichkeit und die Art und Weise, wie er an die Aufgaben heranging, geprägt.

Er hat uns mit der Kamera begleitet und auch eigene Bilder gemacht. Wie er die Leute respektvoll in allen Bereichen des Lebens betrachtete und ihre Arbeit, ihr Umfeld achtete, hat mich sehr berührt, weil das meiner eigenen Motivation zu fotografieren sehr entgegenkam. Nach diesem Jahr Volontariat war ich vier Jahre in Leipzig an der Karl-Marx-Universität. Anschließend hatte ich das Glück, wieder in Berlin bei der Agentur anfangen zu können. Dort habe ich mich nach und nach auf die Kulturberichterstattung spezialisiert. Horst Sturm gab mir das Versprechen, mich noch eine Weile unter seine Fittiche zu nehmen und mir bei Problemen zu helfen und gab mir so Sicherheit. So konnte ich mich in Ruhe zu einer vollgültigen Pressefotografin der Agentur entwickeln, für die ich von 1975 bis 1990 unter anderem auch als Theaterfotografin tätig war. Der Verlag Wiljo Heinen, der hier auf der Messe ist, hat den Bildband Schriftsteller der DDR herausgebracht. Das ist auch ein Resümee meiner Arbeit in dieser ganzen Zeit der DDR bei Lesungen, Schriftstellerkongressen und anderen Treffen des Dialoges zwischen Schriftstellern beider deutscher Staaten.

SB: Wie hat sich deine Arbeit vor dem Hintergrund, einen Blick zurück auf diese Zeit zu werfen, weiterentwickelt?

GS: Die erste solcher Rückbesinnungen war eine Ausstellung mit dem Titel Jahrgang 49. Das war etwas hintersinnig, weil nur für Leute aus der DDR in doppeltem Sinn zu verstehen. Es gab in der DDR eine politisch wache Gruppe von Sängern, die sich so nannte, aber es war auch ein erste umfassende Rückschau auf mein fotografisches Wirken anlässlich meines 60. Geburtstages. Die konnte ich in Berlin, aber auch in meinem Geburtshaus in Belzig/Land Brandenburg zeigen. Eine Ausstellung in der Ladengalerie der Tageszeitung junge Welt mit Porträts aus vier Jahrzehnten, die ich Gesicht zeigen nannte, folgte. Es ging dabei um Porträts, die mir in meinem Leben wichtig erschienen, Erinnerungswert haben und auch anderen etwas geben können. Dazu entstand ein gleichnamiger Katalog im Verlag Wiljo Heinen. In diesem Jahr habe ich wieder einen Bildband zusammengestellt. Das sind nicht meine Fotografien, aber ich fühle mich ihnen sehr nah. Der Bildband ist meine Art des Dankes an Horst Sturm, der im Dezember 2015 verstorben ist. Es ist mehr als ein Katalog zu der Ausstellung, die im April bei der jungen Welt zu sehen war und später noch im Karl-Liebknecht-Haus in Leipzig, Fotografien von Horst Sturm, die etwas über ihn und das Land, in dem wir lebten, aussagen.

Es gibt einige Bilder von ihm, die die Leute kennen wie zum Beispiel das weltberühmte Foto aus dem Jahr 1954, Helene Weigel und Bertolt Brecht auf dem Festwagen am 1. Mai. Viele kennen Fotografien von ihm, aber der Name Horst Sturm ist ihnen noch häufig kein Begriff. Doch Menschen, die mit ihm vertraut sind, stammen nicht nur aus der DDR, er war auch in der BRD bekannt. Klaus Rose zum Beispiel war mit ihm befreundet und er hat auch Freunde in der Mongolei, in Tunesien, im Libanon, in Vietnam. Dort hat er oftmals Fotojournalisten ausgebildet, die ihn später noch besucht und geehrt haben. Er war wirklich eine außergewöhnliche pädagogische Persönlichkeit, zumal er nicht mit dem Zeigefinger lehrte, sondern vielmehr ein freundschaftlicher Ratgeber war. Das machte ihn aus.

Nach seinem Tod haben im Januar diesen Jahres über 80 Menschen in einer Traueranzeige noch einmal an ihn erinnert. Im selben Monat gab es auch Beiträge und Fotoreportagen in mehreren Zeitungen wie beispielsweise in der Berliner Zeitung, UZ, junge Welt und Neues Deutschland. Das Bundesarchiv Koblenz ehrte ihn durch eine Sammlung seiner Fotografien mit eindringlichem schönen Text. Er hat in diesem Jahr posthum viele Ehrungen empfangen. Und zu einer Fotoausstellung seiner Fotografien bei der jungen Welt trafen sich viele seiner ehemaligen Kollegen und Freunde nach Jahren wieder.

Er hatte schon 1946 mit dem Fotografieren wieder begonnen, hat in Berlins Trümmern gezeigt ,wie die Menschen miteinander umgegangen sind in sehr eindringlichen, von ihm fast zärtlich eingefangenen Momenten. Man merkt darin, dass er die Menschen wirklich liebte und dass viele seiner Fotografien zeitlos und aktuell bleiben. Wenn man die Bilder anschaut, kommt dieses Gefühl, wie wir es im Alltag der DDR kannten, sehr stark durch. Das ist mir gestern wieder bei meinem Vortrag hier auf der LLM zu einigen seiner Bilder aufgefallen. Wir verständigten uns da nicht nur über das geschichtliche Ereignis, sondern wodurch es wirkt, welche technischen Möglichkeiten er nutzte, also dass er eben Licht und Schatten besonders setzte, aber im Vordergrund stand die Aussage des Bildinhalts, dass die Leute eine besondere rücksichtsvolle freundliche Aufmerksamkeit hatten ihrem Leben und Umfeld gegenüber.

Die Bilder zeigen, was es so schon einmal gab bzw. im Entstehen begriffen war. Dies zu bewahren, gibt uns Hoffnung, dass es in Zukunft vielleicht noch einmal als Projekt aufgegriffen werden kann. Es ist ein anderes Miteinander, eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und wie man mit Kindern umgeht und nicht nur mit den eigenen und wie sich Menschen verschiedener Länder gegenseitig achten. All das ist in diesem Bildband herausgearbeitet, und ich denke, dass es hier gut angekommen ist. Man hat mir jetzt angeboten, bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz nächstes Jahr im Januar noch einmal einen ähnlichen Vortrag zu halten. Darauf freue ich mich sehr und hoffe, dass das klappt.


Gabriele Senft am Büchertisch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Am Stand des Wiljo Heinen Verlages
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Einmal ganz allgemein gefragt: Welche Bedeutung wurde in der Kulturpolitik der DDR dieser Art von Bildkommunikation eingeräumt?

GS: Wenn ich meine Erfahrungen in der Agentur heranziehe, denke ich, dass die Fotografie in der Kulturpolitik eine große Bedeutung hatte. Bei ADN befand ich mich in der täglichen Wahrnehmung zwar eher in der zweiten oder dritten Reihe. Verständlich, da es eine Nachrichtenagentur war, standen natürlich politische, staatstragende Ereignisse, so die Begegnungen der Großen aus den Regierungen verschiedener Länder im Vordergrund, der Händedruck bei Besuchen oder Verträgen, eben diese Protokollfotografie im Vordergrund. Dann kam die Wirtschaft, der Sport, der natürlich auch sehr wichtig war, aber daneben genauso die Kultur. Das war nicht so etwas wie ein fünftes Rad am Wagen. Ich war bei den Fotoproben vor Theaterpremieren, bei vielen Gastspielen, durfte dabei sein bei internationalen Konzerten mit berühmten Dirigenten, beim Festival des Politischen Liedes, in Ateliers von Bildhauern oder in der Kunstausstellung Dresden. Und dann gab es auch viele Volkskunstereignisse wie die Arbeiterfestspiele oder Volkskunsttage von einzelnen Bezirken (jetzt würde man Bundesländer sagen) im Palast der Republik. Und zu meinen Aufgaben der Fotobegleitung wichtiger kultureller Ereignisse gehörten ebenso Bildungs- und medizinische Einrichtungen sowie die Freizeit der Menschen. Es war also wichtig und umfassend, es erfasste fast alle Bereiche, wo ich mit Fotografien vieles veranschaulichen konnte.

SB: Der Zugang zum Bild hat sich über die elektronischen Medien und die Informationstechnik stark gewandelt. Wie würdest du die Rolle einer ambitionierten Fotografie heute im Verhältnis zur damaligen Zeit beurteilen?

GS: Es ist natürlich eine völlig andere Art. Heutzutage kann ich mein Material nicht nur vom Handy aus, sondern direkt von meiner Fotokamera in die Redaktion schicken. Dadurch ist es einerseits viel einfacher geworden, Bilder zu machen, aber andererseits ist dadurch auch die Konkurrenz angewachsen. Aber ich bin überzeugt, dass sich die Wiederspiegelung des Lebens zunehmend anschaulich über Bilder definiert. Ein Portal wie Facebook zum Beispiel nutze ich nicht dazu, von meinem eigenen Leben von früh bis abends zu künden, aber andere erwarten schon, dass ich über wichtige Ereignisse, wenn ich die Bilder davon schon nicht in einer Zeitung wie der jungen Welt unterbringe, wenigstens bei Facebook etwas davon zeige. Es gehört wesentlich zu meinem Leben, mit Fotos meine Ansicht zu den Dingen zu verdeutlichen.

SB: Und wie steht es mit der Fotografie im Verhältnis zur Videokultur, die immer mehr um sich greift, hat das fotografierte Bild da überhaupt noch einen Stellenwert oder gewinnt es möglicherweise sogar an Bedeutung?

GS: Das sind zwei Sachen, die parallel laufen. Ich denke, vor Ort mit Ton und Musik und dem Verlauf und allem präsent zu sein, stellt zunächst einmal ein sehr wichtiges Dokument dar, aber im Foto kann man die Facetten, die in einer Sekunde stecken, in Ruhe und noch einmal eindringlicher betrachten und bewerten. Beides hat also seine Berechtigung.

SB: Heute gehört die Nachbearbeitung am Computer eigentlich zum Foto dazu. Wie siehst du auch als Dokumentaristin den Einsatz bildverändernder Verfahren in bezug auf das Fotografieren?

GS: Eingriffe in das eigentliche Geschehen der Reportagefotografie sind für mich verboten. Einflussnahme finde ich insoweit legitim, dass ich einen Horizont gerade rücke, etwas Wesentliches aufhelle oder etwas Unwesentliches abdunkle, so wie es auch im Labor üblich war. Und ich denke, es ist gestattet, bei einer Momentaufnahme etwas zufällig Störendes, jedoch für die Bildaussage Belangloses wegzuretuschieren. Ein Beispiel dazu: Wenn einer vor dem Laternenpfahl steht und man hat die Laterne so unglücklich erwischt, daß sie ihm auf dem Foto aus dem Kopf herauswächst - das würde man in natura und im Film ja nicht sehen und man hätte einen halben Schritt zur Seite machen können, es zu vermeiden, jedoch diese Zeit nimmt man sich nicht-, solche Sachen können meiner Meinung nach bei der Fotobearbeitung korrigiert werden, wenn es nicht auf die Sekunde des Ereignisses angekommen war. Das muss man abwägen, dass die Aussage nicht darunter leidet, - aber mehr auf keinen Fall.

Bei einem Werbefoto für ein Buch ist das eine ganz andere Sache, aber wir reden jetzt über den dokumentarischen Charakter eines Fotos, und da ist nur ein minimalster Eingriff zulässig. Um das, was man erlebt hat, eindringlich zu gestalten, kann man mit Licht und Schatten arbeiten, aber man darf keine anderen Personen hinzunehmen oder das Geschehen an einen anderen Ort verlagern. Das ist für mich unzulässig, es verfälscht die Authentizität und schadet dem Ereignis. Das Bild wäre nicht mehr glaubhaft.

SB: Spätestens seit der Weimarer Republik gibt es in Deutschland die Tradition der Arbeiterfotografie, die der Arbeiterbewegung angehörte und aus ihrem Blickwinkel heraus fotografierte. Hat es dazu etwas Entsprechendes in der DDR gegeben?

GS: In der DDR wurde keine neue Vereinigung Arbeiterfotografie gegründet, obwohl es ehemalige Arbeiterfotografen gab, die, wenn sie noch im Besitz einer Kamera waren, gleich nach dem Krieg weiter fotografierten. Neben Horst Sturm möchte ich da auch die bekannte Fotografin Eva Kemlein nennen, die ich auch zu meinen Freundinnen rechnen konnte. Oder der Arbeiterfotograf Erich Rinka, der wirkte auch in der DDR und von ihm gibt es einen aussagekräftigen Film über die historische Arbeiterfotografie. Eugen Heilig, in den 20er Jahren Mitbegründer der historischen Arbeiterfotografie, gab die Mitgliederzeitschrift Arbeiterfotograf heraus. Die leitete damals die Arbeiter praktisch an, half, technische oder auch ästhetische Grundsätze zu erlernen und sich darüber auszutauschen. Sein Sohn Walter Heilig leitete nach 1945 den Illus-Bilderdienst, aus dem später ADN-Zentralbild hervorging und er gewann 1949 Horst Sturm als Berichterstatter.

Die Grundsätze der Arbeiterfotografie wurden bei der Agentur, soweit das in der täglichen Berichterstattung möglich war, berücksichtigt. Praktisch eine Generation später, 1970, hat Walter Heilig mich eingestellt. So gab es in gewisser Weise auch für mich von Anfang an eine Verbindung zu den Arbeiterfotografen. Fotografin Tina Modotti zum Beispiel, ist auch in der Arbeiterbewegung bekannt. Sie hat über ein halbes Jahr bei den Heiligs in Berlin gewohnt und in dieser Zeit auch Bilder für die Arbeiterfotografie, für die Arbeiter Illustrierte Zeitung gemacht.

Ich fühle mich dieser Tradition der historischen Arbeiterfotografie sehr verbunden, obwohl meine Eltern keine Arbeiter waren und ich als Fotojournalistin das Ganze eigentlich nur aus der geschichtlichen Perspektive beobachten konnte. Das Thema einer Neugründung Arbeiterfotografie stand in der DDR nie wirklich zur Debatte, weil es dort andere Möglichkeiten gab wie Arbeitsgemeinschaften und Fotozirkel beim Kulturbund. Auch ich habe in einem solchen Fotozirkel des Kulturbunds während der Schulzeit in meiner Heimatstadt Luckau erste Fähigkeiten im Fotolabor und bei gemeinsamen Ausflügen gelernt. In der BRD hat man dann 1978 in Essen mit der Gründung eines Bundesverbandes Arbeiterfotografie diese Tradition der historischen Arbeiterfotografie wiederbeleben wollen.

SB: Gabriele, vielen Dank für das Gespräch.


Bücher von Gabriele Senft am Stand des Wiljo Heinen Verlages - Fotos: 2016 by Schattenblick Bücher von Gabriele Senft am Stand des Wiljo Heinen Verlages - Fotos: 2016 by Schattenblick

Fotos: 2016 by Schattenblick


Fußnote:

[1] http://www.arbeiterfotografen.de/galerie/index.php?/category/91


Berichte und Interviews zur 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

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17. November 2016


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