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INTERVIEW/086: 21. Linke Literaturmesse - wo leben ohne Wohnung ...    Matthias Coers im Gespräch (SB)


Kampf um Wohnraum - Brennpunkt vielgestaltiger Politisierung

Interview am 5. November 2016 in Nürnberg


Matthias Coers arbeitet als unabhängiger Filmemacher und Soziologe. Als freiberuflicher Journalist und Kameramann produziert er Fotos, Texte und Videos u.a. mit Gewerkschaften, Mieterorganisationen, der AIDS-Hilfe und für Zeitungen. Er kooperiert mit partizipativen Initiativen, organisiert Vorträge und Veranstaltungsreihen zu den Schwerpunkten Stadtentwicklung, Soziale Infrastruktur und Erinnerungskultur. Seit der Premiere des Dokumentarfilms "Mietrebellen - Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt" im Frühjahr 2014 hat er über 200 Vortrags- und Filmveranstaltungen in zahlreichen Städten abgehalten. Er ist zuständig für die Bildredaktion des Berliner MieterEchos, hält Vorträge zum Thema Wohnen und ist seit langem für das European Media Art Festival tätig. 2016 war er Mitglied der Berlinale Friedensfilmpreis-Jury. [1]

Matthias Coers referierte und diskutierte beim Auftaktpodium "Wo bleibt die radikale Linke?" der 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg. Am Rande der Messe beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu seinem Engagement in der Mietrechtbewegung, den Kämpfen um Wohnraum am Beispiel Berlin und dem politischen Potential dieses sozialen Konflikts.


Vor Ständen der Buchmesse - Foto: © 2016 by Schattenblick

Matthias Coers
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Du engagierst dich seit langem in der Mietrechtbewegung. Wie bist du dazu gekommen, dich mit solchen Problemen zu beschäftigen?

Matthias Coers (MC): Ich komme aus einem proletarisch-kleinbürgerlichen Elternhaus, und dort hat man Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre wie üblich ein Häuschen gebaut: mehr Demokratie wagen, Willi Brandt, die Arbeiter, die Angestellten, die einfachen Leute beteiligen. Das hatte natürlich zur Folge, daß man lebenslang Kredite zurückzahlen mußte, und hieß bei einem kleinen Einkommen, daß gespart werden muß an allem möglichen, was man auch gespürt hat. Wenngleich es eine schöne Kindheit war, hatte man zwar das Häuschen, aber sonst nicht viele Möglichkeiten. Ich bin dann in die nächstgelegene größere Stadt gezogen, Osnabrück, eine Arbeiter- und Industriestadt, heute auch Universitätsstadt, und habe dort eine Mietwohnung bezogen. Das war die Zeit des Mauerfalls und der Umbrüche, wo Wohnraum auf einmal sehr schnell knapp wurde. Damals sind dauerhaft 5000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion als sogenannte Kontingent-Flüchtlinge nach Osnabrück gekommen. Es gab dort eine ziemlich große Zweigstelle des Aufnahmezentrums Friedland, und viele der weitgereisten Leute sind gleich geblieben. Daraufhin ist der Osnabrücker Wohnungsmarkt zusammengebrochen. Wir haben ein Stadtteilzentrum gegründet und verschiedene Aktionen gegen Wohnungsnot gestartet, zum Zeichen des Protests auf dem Rathausplatz gecampt und große Demonstrationen organisiert. Die waren schon relativ übergreifend und bezogen die beginnende Hausbesetzerszene, die Autonomen, akademische Leute, aber genauso Arbeiterinnen ein. Das war Anfang der 90er Jahre.

Ich bin aus Arbeitsgründen häufig in anderen Städten und vor allem in Berlin gewesen. Nach langem Pendeln bin ich schließlich vor sieben Jahren ganz nach Berlin in eine Wohngemeinschaft gezogen. Wenig später wurde uns eine energetische Modernisierung samt einer Mieterhöhung von über 60 Prozent angekündigt, bei Nachbarn waren es sogar 100 Prozent. Wir haben uns organisiert und versucht, das Schlimmste abzuwenden. Und da ich immer schon fotografiere und versuche, mit der Kamera dokumentarisch zu arbeiten, habe ich angefangen, Videos für Stadtteil- und Nachbarschaftsinitiativen zu produzieren. Darüber bin ich intensiver in das Thema eingestiegen und habe dann mit einer Kollegin zusammen den Film "Mietrebellen - Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt" gemacht. Mit diesem Film, aber auch mit Videos, bin ich in den letzten zwei Jahren sehr viel unterwegs und wurde in über hundert Städte eingeladen oder habe dort selber Veranstaltungen organisiert. Allein in Berlin waren es hundert Veranstaltungen in unterschiedlichsten wissenschaftlichen, aber auch Straßenkontexten, Nachbarschaften, politischen Zusammenhängen oder wo gerade interveniert werden mußte, auch mal in einem besetzten Haus, das vor der Räumung stand, aber genauso bei einem Kongreß "Recht auf Stadt", der nur ein universitäres Publikum anzieht. Das ist in aller Kürze mein Weg und Zugang zur Mietrechtbewegung.

SB: Welche Erfahrungen hast du beim Vorführen des Films in den verschiedenen Milieus gemacht?

MC: Als wir angefangen haben zu drehen, wurde das Thema von der breiteren Bevölkerung nur bedingt zur Kenntnis genommen, von der politischen Ebene sehr wenig, von der Verwaltung schon gar nicht. Man hatte das Gefühl, daß viele Leute immer noch meinten, der Wohnungsmarkt sei entspannt, was natürlich gar nicht der Fall war. Das Bewußtsein hinkt eben immer ein bißchen hinterher. Andererseits waren viele Leute konkret in ihrer Lebenssituation betroffen und haben politischen Protest organisiert. Die erste größere Demo in Berlin, die das wirklich auf die Tagesordnung gesetzt hat, gab es 2011. In unserem Film, der 2014 ins Kino kam, zeigen wir Mieterinnen und Mieter nicht als Opfer, sondern als selbstbewußte politische Akteure, als Menschen, die selber handeln. Das weckt in unterschiedlichen Kontexten reges Interesse. Sei es im Seniorenheim oder bei Leuten, die sich politisch links verorten, aber von der Rente leben müssen, überall stößt man auf großes Verständnis dafür, daß sich jung und alt für ihre eigene kleine Mietwohnung, für ihre Nachbarinnen, für ihre Würde einsetzen oder einfach in ihrem Stadtteil leben wollen. Natürlich sind die Menschen den gesellschaftlichen Verhältnissen oder Zumutungen durch die Landlords, Investoren, Eigentümer oder teilweise auch die Gesetzgebung ausgesetzt, aber andererseits werden sie aktiv und machen sich kundig. Und das findet überall Anerkennung.

Daß es gerade in der autonomen Szene dringend notwendig war, das Thema ernsthaft aufzugreifen, hat damit zu tun, daß man dort zur Miete wohnen eher als Niederlage auffaßt. Ich persönlich sage hingegen, zur Miete wohnen ist eine kulturelle Errungenschaft. Wenn man das auf die Lebenszeit eines Menschen unter kapitalistischen Bedingungen bezieht, sind die Wohnkosten vielleicht nur halb so hoch als wenn man Eigentum anschaffen würde. Das heißt natürlich auch, daß man mehr bestimmen kann, was man arbeitet und konsumiert. Man hat einfach größere Autonomie über sein Leben, was einen selbst, die Kinder und Freunde, Bildung und Reisen, kurz den gesamten Lebenszusammenhang betrifft. Wohnkosten sind existentiell und müssen bezahlt werden, weswegen das ein wichtiges Kampffeld ist. Es ist im Grunde fast ein proletarisches Feld. Es geht nicht nur um den Lohn oder die Humanisierung der Arbeit, sondern auch um die Frage, wie wir einen Großteil unseres Lebens in den Wohnungen, im Stadtteil verbringen. Das ist ein Ort, der lange nicht auf dem Schirm war, aber inzwischen schon einen gewissen Respekt erfährt.

SB: Da die traditionelle Produktion zunehmend wegbricht, verlieren viele Menschen die Arbeit und werden ausgegrenzt. Könnte die Wohnungsbewegung ein neuer Brennpunkt der Politisierung werden?

MC: Ich denke, das ist sie schon. Wenn man weltweit, in Europa, aber auch in deutschen Städten die Frage aufwirft, wie wir die gesellschaftlich notwendige Arbeit organisieren und unser Einkommen als Subjekte im Kapitalismus sichern, kann sie natürlich nicht allein über die Wohnproblematik gelöst werden. Aber die Wohnkosten sind nun einmal der Hauptteil, der für eine Art Grundversorgung eines jeden Menschen ausgegeben werden muß. Wohnen muß man, und wenn die Leute merken, daß sie ihre Wohnung verlieren, ist das keine ferne Bedrohung am Horizont, sondern findet jetzt statt. Konservative Sozialverbände wie die Caritas oder etwas offensivere wie der Paritätische Wohlfahrtsverband gehen von ungefähr 350.000 wohnungslosen Menschen in Deutschland aus, in den nächsten fünf Jahren werden es vielleicht schon 500.000 sein. Nicht alle diese Menschen leben als Obdachlose auf der Straße, aber sie müssen über Unterkünfte und Heime mit staatlicher Finanzierung versorgt werden. Sie leben in sehr ungünstigen Bedingungen und können sich nicht am Wohnungsmarkt mit einer Wohnung versorgen, weil das zu teuer ist oder aus irgendwelchen anderen Gründen nicht geht. In Spanien, wo traditionell sehr viele Leute Wohnungseigentümer sind, haben aufgrund der Krise Hunderttausende Menschen ihre Wohnung verloren, weil sie die Kredite nicht mehr tilgen können. Dort fand eine regelrechte Eruption statt. Da die lokalen Bürgermeister direkt von der Bevölkerung gewählt werden, bekamen die Finanzmetropole Barcelona oder auch die Hauptstadt Madrid auf einmal Bürgermeisterinnen aus der Mieterinnenbewegung. Die Plattform der Hypothekenbetroffenen ist sehr stark in ihrer Selbstorganisation, und die Betroffenheit ist riesig. In Spanien kommt alles zusammen: Einkommensverlust, Armut, Verlust der Wohnung.

In Deutschland werden immer mehr Menschen in den Niedriglohnbereich abgedrängt oder leben wirklich superprekär. Man kann sich zumeist noch irgendwie mit Wohnraum versorgen, aber die Lebensqualität sinkt deutlich und die Selbstbestimmung nimmt ab. In Berlin, wo es innerhalb eines Jahrzehnts eine sprunghafte Mieterhöhung gab, kann das noch reflektiert werden. Die Leute spüren das, und jeder kennt jemanden, der Verdrängung ausgesetzt ist. Dadurch sind die Menschen wach und aktiv geworden. Das mag eine Besonderheit Berlins sein, ist aber kein singuläres Phänomen. Weltweit wird mit Wohnraum sehr viel Geld verdient und Kapital investiert, das in der Produktion keine Möglichkeiten der Reinvestition mehr findet. In der Wohnwirtschaft lassen sich Renditen erwirtschaften, und in diesem Sinne ist es zugleich ein wichtiges Feld zu kämpfen: Nicht nur um die eigene Wohnung, sondern auch um die Frage, wie wir in den Stadtteilen zusammenleben. In der unmittelbaren Produktion beispielsweise als Facharbeiter in der Autoindustrie werktätig zu sein, ist heute fast schon ein Privileg. Wenngleich es etwa in der Care-Arbeit, die überhaupt nicht bezahlt wird, ungeheuer viel zu tun gibt, sind die versicherungspflichtigen Arbeitsplätze zumindest in Deutschland auf Sinkflug. Die wachsende Konzentration der Bevölkerung in Städten zeichnet sich weltweit ab, weshalb die Frage immer wichtiger wird, wie das Zusammenleben in den Stadtteilen organisiert werden kann. Wenn sich die staatliche Strukturen verabschieden, weil sie zu teuer geworden oder nicht mehr leistbar sind, geht es um eine Art Selbstorganisation. In diesem Zusammenhang ist es natürlich sehr wichtig, ob die Entwicklung nach rechts ausschlägt oder ob es eine Perspektive für ein solidarisches Miteinander gibt, das nicht ausgrenzend sagt: Nur wir in unserem Dorf, in unserer Stadt, nur wir Deutschen. Es gilt, ein tolerantes, wirklich solidarisches Miteinander zu entwickeln. Dafür besteht in den Stadtteilen ein unglaublicher Bedarf, und das passiert eben auch.

SB: Berlin hat eine lange Tradition der Instandbesetzungen und Hausbesetzungen. Wie ist das Verhältnis der Hausbesetzerszene zur neuen Mietbewegung? Gibt es da Überträge?

MC: Da gibt es natürlich gemeinsame Linien. Das aktuelle MieterEcho, die Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft, für die ich in der Bildredaktion arbeite, hat als Schwerpunktthema die Mieterinnenbewegung von 1945 bis 1990. In diesem Zusammenhang sind die Hausbesetzungen in Westberlin sehr wichtig. Entscheidend für den aktuellen Protest ist meines Erachtens, daß es zwischen 80 und 100 Initiativen in Berlin gibt, die sich um ihr Haus, ihre Nachbarschaft, ihren Kiez, den Stadtteil oder manchmal auch um die Verhinderung von Zwangsräumungen kümmern, das ist sehr unterschiedlich. Die Zusammensetzung ist heterogen, aber es sind konkret Betroffene, manchmal machen auch radikale Linke mit, die aber nicht dominant sind. Oftmals sind es moderne Leute, die sehr flexibel sind, selber vielleicht prekär, aber mit einem Zugang zu digitalen oder audiovisuellen Medien, die sich engagieren. Von der Grundstruktur fließen auch andere Strömungen ein wie die erste Bürgerinnenbewegung in Schöneberg gegen die Autobahn oder in Ostberlin zur Wendezeit. Wie in Frankfurt, Hamburg, Bielefeld oder anderen westdeutschen Städten wurden auch in Charlottenburg, Schöneberg und besonders in Kreuzberg Häuser instandbesetzt. Es gab lange Kämpfe, ausgiebige Debatten, diese Leute sind noch da. Und auch die zweite Hausbesetzerbewegung, nämlich in den 90er Jahren am Prenzlauer Berg und in Friedrichshain, ist noch präsent. Das heißt, all dieses Vorwissen ist vorhanden. Am Prenzlauer Berg, der verlorenging, gab es eine "Wir bleiben alle!"-Bewegung, die Spirale ist weitergezogen, alle Stadtteile sind jetzt diesem enormen Druck ausgesetzt. Egal, wo man eine Wohnung mieten will, die Neuvermietungsmieten sind überall teuer. Früher konnte man aus dem Prenzlauer Berg ausziehen und nach Friedrichshain oder dann vielleicht nach Neukölln oder in den Wedding gehen. Inzwischen ist die Stadt voll, auch an den Randbereichen. Die Neuvermietungsmieten in Marzahn-Hellersdorf mit der Platte, wo man vordem notfalls immer noch hinziehen konnte, sind heute teurer als die Bestandsmieten in der Innenstadt. Der Leerstand liegt in Berlin unter einem Prozent, das heißt, es ist eigentlich gar nichts mehr frei. Die Freiwohnungswirtschaft oder auch die Mieterverbände gehen davon aus, daß man drei bis vier Prozent Leerstand braucht, um eine Wohnung adäquat des Einkommens oder auch der Bedürfnisse zu finden. Das ist vorbei.

Daß sich Vorwissen mit dem aktuellem Protest verbindet, ist sicher eine Berliner Besonderheit, die dazu führt, daß der Protest so gut organisiert und kompetent stattfinden kann. Andererseits kommt hinzu, daß die Hauptstadt eine breite Medienlandschaft aufweist. In kleineren Städten gibt es häufig nur ein, zwei konservative Zeitungen, die Berichte von Initiativen monatelang nicht abdrucken. In Berlin bringt das gleich die taz, das Neue Deutschland, die junge Welt und dann zieht die Berliner Tageszeitung nach, dann kommt der Kurier und weitere folgen. Es gibt das Fernsehen, die Nähe zur Lokalpolitik, zur Landesregierung und zur Bundesregierung. Da man die politischen Vertreterinnen und die Verwaltung quasi vor der Nase hat, kann man sehr schnell Druck aufbauen. Zum Teil kriegen sie die Problematik auch selber mit, es sind ja nicht alles Richterinnen und Richter, die Eigentum in Zehlendorf oder im Grunewald haben. Berlin ist zu 85 Prozent eine Mieterinnenstadt, so daß das Thema auf einmal große Bedeutung bekommt. Man ist ja nicht dumm und weiß durch die modernen Medien, was in London oder Paris passiert, was Entmischung und Verdrängung bedeutet, die Leute spüren das. Sie wollen nicht nur ihre Wohnung, sondern auch ihre Nachbarn behalten, ob die nun größere oder kleinere Einkommen haben: Es ist mein Kiez, hier leben wir in Unterschiedlichkeit.

SB: Die Berliner Wohnungsbewegung zeichnet sich demnach nicht zuletzt dadurch aus, daß sie eine Begegnungsfläche für Menschen aus oftmals sehr unterschiedlichen Lebensbereichen schafft, die sich mit gemeinsamen Problemen konfrontiert sehen?

MC: Genau. Die Leute haben natürlich einen unterschiedlichen Zugang, manche waren noch nie auf einer Demo oder politisch aktiv oder müssen auf ihre alten Tage noch einmal zu solchen Mitteln greifen. Einer der berühmtesten Berliner Mieteraktivisten ist Sven Fischer, der sich mit seiner Familie als letzter in seinem Haus gegen energetische Modernisierung wehrt und einem Investor entschlossen entgegentritt. Alle anderen Wohnungen sind modernisiert, wirklich krasse Baustellen, umgewandelt in Eigentumswohnungen. Er hingegen bleibt streitbar und hat auch Erfolge. Wie er berichtet, sei er früher einfach nur Koch gewesen und habe sich für all das nie interessiert. In den fünf Jahren seines Wohnungskampfs habe er sich als Mensch vollkommen verändert, sei politisch wach geworden und mische sich ein. Das geht vielen Leuten so, daß sie erst dann aktiv werden, wenn ihre eigene Lebenssituation betroffen ist. Wir als Menschen mit einer linken Biographie mögen das anders sehen, aber hier wird eben keine Stellvertreterpolitik gemacht, sondern es ist eine solidarische Arbeit für die Nachbarin, aber eben auch für mich. Fehlender Kontakt zur Bevölkerung ist etwas, woran linksradikale Positionen und linke Politik in Deutschland seit langem kranken. In der Linken herrschte schließlich sogar die Auffassung vor, die Bevölkerung habe keine Probleme, da sie ganz gut am Reichtum beteiligt sei. Das stimmt jedoch nicht, da zahllose Menschen tagtäglich darum kämpfen müssen, ihr geringes Einkommen zu sichern und ein bißchen Glück in der abgetrennten Freizeit zu realisieren.

Die Wohnungsfrage ist keine Stellvertreterebene, ich bin selber mittendrin und sofort mit der sozialen Frage konfrontiert, die der Staat nicht lösen kann, weil er im Neoliberalismus die Steuerungsinstrumente aus der Hand gegeben hat: Ausverkauf der Städte, die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften sind total ausgedünnt, die Verwaltung wurde massiv beschnitten. Man hat das Feld dem privaten Markt überlassen, geblieben ist lediglich eine Einzelfallförderung. Es kann Wohngeld gezahlt werden, das in einer Art Staubsaugereffekt gleich zu den Investoren fließt. Sie nehmen jede Miete, die sie wollen, der Staat reguliert nach, gibt ein bißchen Wohngeld, macht damit aber die halbe Bevölkerung zu Bedürftigen, die auf einmal Bittsteller sind.

Da werden die Leute natürlich selber aktiv, merken aber auch, daß sie Stadtplanung und Wohnungsbau nicht ohne weiteres organisieren können. Diverse Berliner Gruppen würden gerne ein Mietshäusersyndikatprojekt machen, finden aber keine Objekte, weil diese zu teuer sind, als daß sie aus einer solidarischen Struktur heraus gestemmt werden könnten. Die Bezirksbürgermeister sagen, Neubau kostet eben 8 Euro 50 oder 10 Euro netto kalt, darauf läuft es hinaus. So eine Perspektive ist jedoch für 60, 70 Prozent der Bevölkerung völlig uninteressant. Wenn aber Neubau offenbar keine Lösung ist, was dann? Manche schauen ins ehemalige rote Wien zum Gemeindewohnungsbau, einer Art sozialistischen Wohnungsbaus, wo die öffentliche Hand die Wohnung erstellt und dann den Mieterinnen dauerhaft bezahlbar zur Verfügung stellt. Das ist zwar sicherlich kein antikapitalistischer, sondern ein antineoliberaler Kurs, aber damit wäre schon viel gewonnen. Das bleibt vermutlich für die nächsten zehn Jahre eine Perspektive. Dagegen steht das Bundesfinanzministerium mit der schwarzen Null. Es wird für die Städte gar nicht so leicht sein, in den erforderlichen Größenordnungen zu investieren. Eine Wohnung steht in einer Stadt wie Berlin oder hier in Nürnberg 50, 80, 120 Jahre. Da steckt unglaublich viel verdichtete Arbeit drin. Es gibt neue Ideen von Smart-Wohnen, Tiny-Wohnen, kleine Objekte, die auch den individuellen Bedürfnissen entsprechen. Da wird viel diskutiert, es kommen auch junge Architekten, die gerne etwas entwerfen und realisieren wollen. Sie merken aber, daß sie in Lohn und Brot ganz konventionelle Arbeiten abliefern müssen. Und in der Freizeit, wie das Leben im Kapitalismus eben auseinanderfällt, engagieren sie sich in einer Initiative. Der wesentliche Unterschied ist eben, daß diese Initiativen nicht nur von Linken, sondern aus der Bevölkerung heraus entstehen. Das ist eine historisch neue Situation, wie ich sie persönlich von meinem Alter her gar nicht kennengelernt habe. Brokdorf oder Startbahn West waren vor meiner Zeit, da war ich noch nicht alt genug, um mich daran beteiligen zu können. Soziale Kämpfe finden überall statt, ob es die Hebammen, die Menschen in den Kliniken oder die Beschäftigten im Einzelhandel sind. Das sind durchaus große, aber ganz spezielle Gruppen. Das Wohnthema ergreift hingegen sehr viele Menschen, es sei denn, man lebt im ländlichen Bereich, wo die Leute oftmals eine Eigentumswohnung oder ein Häuschen besitzen. Aber in den städtischen Räumen leben in Deutschland die Menschen überwiegend zu Miete.

SB: Wie geht man mit Verdrängungsphänomenen der Gentrifizierung in den Städten um, wenn sich ein bestimmter Kreis einkommensstärkerer Leute Wohnraum verschafft und das Viertel Zug um Zug zu Lasten der angestammten Bewohnerinnen verändert?

MC: Ich glaube nicht, daß die Leute das bewußt machen, es handelt sich eher um Prozesse in einem blinden Kapitalismus. Ich bin häufig bei Wohnungsbesichtigungen, um dort Fotos zu machen und Interviews zu führen. Kürzlich war ich in Neukölln an der hinteren Karl-Marx-Straße, ehemals ein proletarischer, heute ein sehr migrantischer Stadtteil, in dem unglaublich viele neue Geschäfte vor allem von Menschen aus Syrien aufgemacht werden, da passiert eine ganze Menge. Geht man zu einer Wohnungsbesichtigung, 100 Quadratmeter, 1350 Euro kalt, ist das viel zu teuer, das hätte vor fünf Jahren dort niemand bezahlt. Aus dem Bezirk kann sich das sowieso niemand leisten. Es kommen Leute, die eigentlich gerne in Mitte oder am Prenzlauer Berg, aber gar nicht in diesem Stadtteil wohnen wollen. Die ziehen da nicht aus Gentrifizierungsgründen hin, sondern brauchen einfach eine Wohnung, eine bestimmte Geräumigkeit und haben vielleicht einen bestimmten Wunsch, eine Altbauwohnung zum Beispiel. Es gibt natürlich auch junge Leute aus dem Ausland, die in Berlin studieren und die Stadt sehr billig finden, weil zu Hause in Melbourne ein Zimmer das Doppelte kostet. Die denken, Berlin sei günstig, was klagen die hier bloß so. Und es gibt natürlich auch Leute, die ein Café oder eine kleine Galerie aufmachen, weil es das im Viertel noch nicht gibt. Ich glaube nicht, daß die Gentrifizierungsthese zutrifft, wonach es quasi die Künstlerinnen, jungen Leute und Hipster sind, die ein Stadtviertel aufwerten. Die ganze Stadt ist für die Immobilienwirtschaft ein attraktiver Wohnungsmarkt, auf dem sich viel Geld verdienen läßt. Sie findet diese interessanten Orte schon von allein, da sie hochmotivierte Leute beschäftigt, die jeden Morgen ihre Computer hochfahren und die Stadt ausverkaufen.

Man könnte die drei Leute, die vielleicht ein kleines Puppentheater machen, oder selbst einen linken Buchladen - lesen ist ja Luxus - unter Gentrifizierung verbuchen, aber das haut nicht so ganz hin. Spreche ich in einem Stadtteil wie Neukölln mit älteren Damen, dann sagen sie mitunter: Da ist diese neue amerikanische Coffeebar, lange war ja hier nichts, da gehe ich jetzt auch mal hin, der Kaffee ist ein bißchen teuer, aber na ja, ich kann mir den dann eben nur alle zwei Tage leisten. Ist das gut oder schlecht? Ich weiß es nicht. Strukturveränderungen haben viele Nachteile, nämlich daß Leute verdrängt werden und Investoren das ausnutzen. Auf der anderen Seite berichten queere oder schwule Leute, daß sie in bestimmten Stadtteilen oder Ecken gar nicht langlaufen konnten, weil sie angepöbelt wurden. Und durch eine Art von Gentrifizierung verändert sich auch das. Mir geht es generell um einen proletarischen Ansatz, der sagt, daß hohe Wohnkosten zu einem Verlust von Autonomie führen und die Selbstorganisation schwächen. Deswegen muß dagegen gekämpft werden. Die Leute machen das natürlich erst, wenn die Situation wirklich bedrohlich wird. Aber daß sie das machen, ist eben der Unterschied dazu, es einfach nur zu erdulden und zu sagen, ich kann ohnehin nichts tun, ich bin ein Opfer, ich bin selber schuld. Das ist nicht mehr der Fall, es hat ein Mentalitätswandel stattgefunden.

Bin ich 1975 in ein Mietshaus mit 30, 40 Parteien eingezogen, habe ich einen alten Mietvertrag und zahle vielleicht 3,80 Euro netto kalt. Im Falle einer energetischen Modernisierung beträgt die Mieterhöhung hinterher 50 Prozent. Das haut natürlich richtig rein ins Haushaltseinkommen, und viele ältere Leute mit einem kleinen Einkommen können das gar nicht stemmen. Aber eine Familie, die vielleicht erst 2011 eingezogen ist, zahlt für die gleiche Wohnung schon 1000 Euro Miete und muß auch 50 Prozent Mieterhöhung zahlen, was sich auf 500 Euro beläuft. Auch sie ist prozentual betroffen, und darin liegt ein Potential, sich gemeinsam zu wehren, auch wenn einige Mietparteien wohlhabender als andere sind. Die Leute mit kleinem Einkommen, einer Behinderung oder einer Kostenübernahme durchs Jobcenter sind natürlich besonders betroffen, weil sie auf eine bestimmte Wohnung angewiesen sind. Zudem ist es ein Zynismus zu sagen, wir modernisieren eine Wohnung altersgerecht, worauf sich die Alten, die bisher darin wohnten, auf einmal die Wohnung nicht mehr leisten können und lieber die alte Wohnung mit einem einfachen Kohleofen behalten würden.

SB: Welche Formen der Politisierung finden statt und auf welche Weise kann Druck auf Politik und Verwaltung ausgeübt werden?

MC: Es sind unterschiedliche Formen. In den letzten Jahren versuchte das "Mietenpolitische Dossier", Veranstaltungen gleich im Abgeordnetenhaus oder Parlament durchzuführen. Das zweite mietenpolitische Dossier wurde dem damaligen Wohnungsbausenator Müller, der jetzt Regierender Bürgermeister ist, persönlich überreicht. Eine solche Öffentlichkeitsarbeit bis hin zu Besetzungsaktionen sind wirklich interessant. Allerdings geht das manchmal fast in eine Überschätzung der Politik über, die schon handeln werde, wenn man nur genügend Druck macht. Vor drei Tagen gab es ein großes Hearing, bei dem sich 25 Mieterinnengruppen in einem Nachbarschaftshaus vorgestellt und dazu Politikerinnen eingeladen haben. Von Grünen, Linken und SPD, die gerade über ihre Koalition verhandeln, sind Vertreterinnen gekommen. Die Idee war dabei, die Position der Mieterinnen auf diesem Weg reinzudrücken.

Ein anderer Flügel lehnt die Zusammenarbeit mit Parteien ab und will deren Fahnen auch nicht auf den mieterpolitischen Demonstrationen sehen. Andere Initiativen, die nachbarschaftlich organisiert sind, sagen wiederum, wir brauchen einen strategischen Zugang und die Unterstützung von linken Grünen oder linken Linken. Es gibt in der Bewegung viele Leute, die im Städtebau oder in der Wohnungsplanung kompetent sind und vor allem Druck auf die Verwaltung ausüben wollen. Es gibt die ältere Dame, die einfach zu jeder Bürgersprechstunde eines Lokalpolitikers geht und ihn nervt. Letzten Endes werden wesentliche Entscheidungen wie die Vergabe von Grundstücken von politischen Entscheidungsträgern oder der Verwaltung abgesegnet. Daher sollte man versuchen, auch in dieser Hinsicht Einfluß zu nehmen. Wenn man das ganz aufgibt, würde man die nächsten Jahre vollkommen verschenken. Es gibt eben unterschiedliche Kampfformen. Das "Bündnis Zwangsräumung verhindern!" setzt zum Beispiel ganz auf zivilen Ungehorsam und organisiert Blockaden. Da das aber auch nicht immer so einfach ist, werden einzelne Leute, die von Zwangsräumung betroffen sind, auch im Vorfeld etwa in Form von Verhandlungen mit der Wohnungsbaugesellschaft unterstützt. Mitunter versucht man, mit Investoren oder Gerichten Lösungen zu finden, die die Leute individuell nicht hinbekommen. In der Rigastraße mit ihren ehemals besetzten Häusern gab es Räumungen von subkulturellen Orten. Dort kam es jüngst zu einem Streit zwischen neu Zugezogenen, die hohe Mieten zahlen, und ehemaligen Besetzerinnen, wo dann auch mal ein Farbbeutel flog. Inzwischen findet ein Dialog statt, weil alle sagen, wir haben diese scheißteure Wohnung gefunden, wollen diese hohen Mieten nicht bezahlen, aber müssen es tun. Die Ex-Besetzerinnen haben vielleicht noch kleine Mieten aus Verträgen der 90er Jahre, so daß die Frage der Privilegierung nicht übers Knie zu brechen ist. Im Grunde geht es darum, in einer Stadtgesellschaft Kommunikationsformen zu entwickeln, um von den Menschen her in Selbstverwaltung Einfluß zu nehmen, und zwar massiv. Die Stadt darf nicht von oben geregelt werden, nicht allein von der Verwaltung, schon gar nicht von den Investoren.

In diesem Sinne gibt es eben viele Formen, Druck aufzubauen. Man findet zahlreiche aktive Blogs oder Internetseiten von den unterschiedlichsten Gruppen, auch die Presse ist inzwischen sehr interessiert, weil das Thema alle angeht. Als Kurt Jotter, ein Aktionskünstler aus den 80er Jahren, eine Plakataktion mit Senioren vor dem Parlament organisiert hat, sind natürlich sofort die Kamerateams gekommen und darüber wurde auch berichtet. Wowereit hat sich 2010 noch mit seiner Senatorin Junge-Reyer hingestellt und erklärt, es gebe kein Problem auf dem Wohnungsmarkt. Heute wagt das kein Politiker mehr, selbst wenn er von der CDU ist. Natürlich versuchen sie zu erklären, Berlin sei eine internationale Metropole, in der eben nicht jeder wohnen könne, wo er will. Aber es gibt einen empirischen Fakt, der dagegen spricht. Berlin hat aufgrund seiner Geschichte eine scharfe Stadtkante. An S-Bahn- und Regionalbahnlinien nach Brandenburg ist die bestehende Wohnbaumasse ausgeschöpft, man kann gar nicht ausweichen und womöglich in einen Vorort oder eine kleinere Stadt ziehen und pendeln. In Berlin ist es für die einfache Bevölkerung ökonomisch kaum möglich, bei einem durchschnittlichen Einkommen die Wohnung zu wechseln oder nach Brandenburg zu ziehen. Zudem ist das lebensgeschichtlich mit Kita und Schule, für eine ältere Dame kann das der Arzt und der Friseur sein, auch gar keine Option. Die Leute brauchen für sich eine Lösung und die können sie nicht alle in linksautonomen Projekten erstreiten. Nicht jeder kann in einem Mietshäusersyndikatprojekt 50 Stunden im Plenum sitzen. Manche wollen nur einen Hausmeister und eine Tür, die sie abschließen können. Es ist eine gesellschaftliche Frage, die bei sinkenden Einkommen brisant wird. Wenngleich manche Leute finanziell gut dastehen, hat der Großteil der Bevölkerung mit stetig schwankenden und sinkenden Realeinkommen zu tun. Die Wohnkosten werden nicht sinken, sofern nicht gesellschaftlich gegengesteuert wird. Dafür ist unmittelbarer Druck erforderlich, damit die Politik nicht weitere Jahre abwartet, was passiert.

Es darf keinen Verkauf öffentlicher Güter mehr geben, es muß eine neue Idee von sozialem Wohnungsbau auf kommunaler Ebene entwickelt werden, es braucht eine staatliche Wohnungsbaupolitik, die auch ökologisch ausgerichtet ist, aber das Ökologische nicht gegen das Soziale ausspielt, wie bei einer ökologischen Modernisierung, wo Investoren gefüttert werden und die Mieterinnen bezahlen müssen. Es bräuchte auch eine europäische Wohnungspolitik, die es auf dieser Ebene noch gar nicht gibt. Fragt man SPD-Leute, wie sie Stadtplanung übersetzen würden, sagen sie "bauen". Bauen allein reicht aber nicht, da es darum geht, die Stadt gemeinsam zu gestalten. Das steht auf der historischen Tagesordnung, auch wenn es viele vielleicht nicht wissen möchten. Das heißt Mitbestimmung, neue Visionen städtischen Lebens ohne Entmischung und Satellitenstädte, sondern urbane Räume in allen Bereichen, möglicherweise auch Verdichtung. Die Kontroverse, ob Städte begrünt oder verdichtet werden sollen, greift möglicherweise zu kurz. Städte haben eine Tendenz zur Verdichtung, was jedoch Begrünung und den Schutz bestimmter Bereiche nicht ausschließt.

Vor allem aber muß bezahlbarer Wohnraum und gleichzeitig eine Infrastruktur mit Kitas, Nachbarschaftszentren, Treffpunkten und Spielplätzen geschaffen werden. Die große Gefahr ist stets, daß sich der Investor nur darauf einläßt, 1000 Wohnungen zu bauen, von denen vielleicht 40 bezahlbar sind. Eigentlich ist an der Zeit, neue U-Bahnlinien, neue Straßenbahnlinien zu bauen, den öffentlichen Nahverkehr zu stärken, um angesichts des massiven Zuzugs eine verträgliche Urbanität herzustellen. In Berlin kommen jährlich ungefähr 50.000 Menschen netto hinzu, Metropolen wie Moskau nehmen derzeit bis zu 250.000 Personen auf, Städte in China wachsen zum Teil um 500.000 oder eine Million Menschen im Jahr - von Afrika und Lateinamerika ganz zu schweigen, wo die Verslummung explodiert. So gesehen haben wir in Deutschland eine ausgezeichnete Situation, eigentlich könnte es hier eine progressive Stadtplanung geben, die aus linker Perspektive kritisiert und vor sich hergetrieben wird.

SB: Erlebst du es so, daß die Debatte um Urbanität und die Megacities inzwischen auch in Deutschland intensiver und auf einer höheren Ebene der Dringlichkeit geführt wird?

MC: Ob es sich um eine höhere Ebene handelt, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß jedoch, daß in der Verwaltung wieder Leute eingestellt werden, die sich mit dem Thema Stadtplanung beschäftigen. Gleiches gilt für die Wohnungsbaugesellschaften, die nicht nur Wohnungen verwalten, sondern wieder versuchen, Wohnungen zu bauen und anzukaufen. Junge Leute an den Universitäten interessieren sich verstärkt für diesen Bereich, der offensichtlich ein Feld der Zukunft ist, auf dem der Bedarf wächst. Aber auch die Menschen, die in den Kiezen leben, merken natürlich, wie wichtig es ist, sich damit zu beschäftigen. Auf diese Weise entsteht Kompetenz und Sachverstand von unten, und wenn man in den Terminkalender schaut, kann man sich vor lauter "Urbanise"-Festivals, "Recht auf Stadt"-Kongressen, "Who saves the City?"-Aktionen und so weiter gar nicht retten.

Ich glaube allerdings, daß die Kämpfe konkret in den Städten geführt werden müssen. Bin ich nicht vor Ort aktiv und solidarisch, werden die Mieterinnen übergangen und selbst die nettesten Stadtplanerinnen und Architektinnen springen erst an, wenn der Investor Geld auf den Tisch legt. Dann ist es meist zu spät, weil er anderes vorhat als das, was die Leute vor Ort brauchen. Bewegung von unten mag sich nichtig anhören, dabei ist das Gegenteil der Fall. In der Bevölkerung stecken die Talente, die Leute kommen aus tausend Berufsgruppen und haben ebenso viele Fähigkeiten. Überdies können sie sich mit den digitalen Kommunikationsformen sehr schnell über die verschiedensten Dinge in Kenntnis setzen und austauschen. Natürlich freut man sich darüber, daß eine Statikerin die Berechnungen vorgenommen hat und das Haus nicht zusammenbricht. Aber das Wissen kommt auch aus der Masse, die zunehmend Einfluß nimmt. Bürgerbeteiligung darf kein Placebo sein, um die Leute ruhigzustellen. Es geht um valide Mitbestimmung mit Tendenz zur kooperativen Selbstbestimmung.

SB: Matthias, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnote:

[1] http://zweischritte.berlin/


Berichte und Interviews zur 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/059: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (1) (SB)
BERICHT/060: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (2) (SB)
BERICHT/061: 21. Linke Literaturmesse - und was wirklich geschah ... (SB)
BERICHT/062: 21. Linke Literaturmesse - Triumph der Verkennung (SB)
BERICHT/063: 21. Linke Literaturmesse - der Straßenfreiheit Zähmung ... (SB)
BERICHT/064: 21. Linke Literaturmesse - Mut macht die Stimme ... (SB)
INTERVIEW/077: 21. Linke Literaturmesse - Debattenknigge ...    Walter Bauer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/078: 21. Linke Literaturmesse - Aktionskunst kollektiv ...    Bernd Langer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/079: 21. Linke Literaturmesse - Bilder, Medien und Dokumente ...    Gabriele Senft im Gespräch (SB)
INTERVIEW/080: 21. Linke Literaturmesse - Debattenimporte zu Karl Marx ...    Mahaboob Hassan im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/084: 21. Linke Literaturmesse - zurück auf die Straße ...    Nikolai Huke im Gespräch (SB)
INTERVIEW/085: 21. Linke Literaturmesse - IT und die einstürzenden Versprechen ...    Werner Seppmann im Gespräch (SB)

19. Dezember 2016


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