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INTERVIEW/093: Linke Buchtage Berlin - Anstoß nach rechts ...    Gerd Wiegel im Gespräch (SB)


Gespräch am 2. Juni 2018 in Berlin


Der Politologe, Publizist und Autor Dr. Gerd Wiegel hat an der Philipps-Universität Marburg studiert und promoviert. Von 1997 bis 2003 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Politikwissenschaft. Als Redakteur der Zeitschrift Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung veröffentlichte er zahlreiche Artikel zur geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und politischen Rechten in Deutschland und Europa. Er arbeitete auch für MOBIT (Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Thüringen) und ist aktuell Referent für Rechtsextremismus und Antifaschismus für die Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag. Von ihm ist im Juni 2017 das Buch "Ein aufhaltsamer Aufstieg. Alternativen zu AfD & Co." [1] erschienen.

Bei den Linken Buchtagen, die vom 1. bis 3. Juni 2018 im Berliner Mehringhof in Kreuzberg stattfanden, stellte Gerd Wiegel zusammen mit Ingo Stützle das Buch "Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump und Co. verstehen" [2] vor, das im Dietz Verlag erschienen ist und einen Beitrag von ihm enthält. Im Anschluß an den Workshop [3] beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Bei der Buchvorstellung - Foto: © 2018 by Schattenblick

Gerd Wiegel
Foto: © 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Deutsche Regierungspolitik steuert auf Bundes- und Länderebene mittels einer massiven Verschärfung diverser Gesetze zunehmend repressive Verhältnisse an. Wie verhält sich diese Form autoritärer Staatlichkeit zum Aufstieg der Rechten in Gestalt der AfD?

Gerd Wiegel (GW): Es stellt sich vielleicht ein bißchen wie kommunizierende Röhren dar. Man sieht ja, daß auf die AfD reagiert wird und daß wir momentan einen Überbietungswettbewerb darin erleben, wer - etwas zugespitzt gesagt - AfD-Politik am besten umsetzt. In der neuen Großen Koalition findet ein Wettrennen statt, vor allen Dingen innerhalb der CDU, die natürlich sieht, daß ein Teil ihrer Klientel zur AfD abgewandert ist, und versucht, das aufzubereiten. Interessant finde ich dabei, daß mit der Konzentration auf die AfD, so wichtig das auch sein mag, doch aus dem Blick gerät, daß vieles an autoritärer Politik tatsächlich, wie du auch gesagt hast, von Etablierten schon vorher gemacht wurde. Wir hatten das vorhin im Workshop als eine Form von autoritärer Politik in einem neoliberalen Kapitalismus diskutiert. Das ist ja nichts, was erst mit der Rechten zum Thema geworden wäre, sondern etwas, das vorher schon da war.

Die AfD bringt eine Form von Unzufriedenheit mit der Undurchschaubarkeit von politischen Entscheidungswegen zum Ausdruck, mit der Delegation auf Ebenen, die demokratisch gar nicht mehr kontrollierbar sind. Und so schlimm das klingt, daß die AfD mit der berechtigten Kritik an undemokratischen Zuständen selber eine undemokratische Politik formulieren kann, hat sie doch diese Unzufriedenheit für sich genutzt. Insofern ist es in der Tat nicht nur diese Rechte oder die AfD, die für so eine autoritäre Entwicklung steht. Der Ausgangspunkt war meines Erachtens schon zuvor angesiedelt, und er wird jetzt durch die AfD nach meiner Wahrnehmung nochmal massiv verstärkt, weil alle offensichtlich sehr, sehr stark auf die AfD reagieren und zwar in dem Sinn, sie möglichst überflüssig zu machen, indem man Teile ihrer Politik übernimmt.

SB: Wir haben im Workshop darüber gesprochen, daß es nicht in jedem Fall eine starke Linke ist, die eine autoritäre Lösung auf den Plan ruft. Die Schwäche linker Interessen und Bewegungen in der Bundesrepublik scheint vom Gegenteil zu zeugen. Könnte der Ausbau des Sicherheitsstaats und die Rechtsverschiebung in der politischen Landschaft hierzulande nicht zuletzt einer strategischen Prävention für künftige Krisen geschuldet sein?

GW: Da bin ich mir nicht sicher und müßte erst einmal länger darüber nachdenken. Denn das würde ja im Prinzip bedeuten, daß man, wie es früher immer hieß, eine Lösung in der Hinterhand hat, um sie in Krisenzeiten nutzen zu können. Nach meiner Wahrnehmung ist in der politisch herrschenden Klasse wie auch im Verhältnis von Politik und Kapital kein Interesse am Aufstieg der AfD zu erkennen. Sie bereitet den etablierten Interessengruppen so viele Probleme, daß diese eher sagen würden, wir wären wunderbar ohne sie ausgekommen. Die Form einer autoritären Politik, derer es bedarf, um einen neoliberalen Kapitalismus, aber auch einen Krisenkapitalismus aufrechtzuerhalten, hätten wir schon selber hingekriegt und diese Rechte brauchen wir dafür nicht. Insofern glaube ich nicht, daß eine Art Versicherung für eine mögliche Krise im Spiel ist, wenngleich es diese Krise natürlich gibt. 2008 war ein tiefer Einschnitt, bei dem das gesamte Gebäude in Frage stand, und es dürfte wohl allen klar sein, daß dieser Kapitalismus nicht krisenfrei ist und daß das jederzeit wieder passieren kann. Aber ich sehe momentan im Unterschied zum historischen Faschismus nicht, daß zentrale politische Akteure ein Interesse daran hegen, eine derartige autoritäre Lösung in der Hinterhand zu haben.

SB: Du hast dich ausgiebig mit der AfD beschäftigt und vorhin in der Diskussion davor gewarnt, ihren zwangsläufigen Untergang für den Fall einer Regierungsbeteiligung zu prognostizieren. Ist die AfD deines Erachtens ein parteipolitisches Phänomen, mit dem wir es noch lange zu haben werden und das man keinesfalls unterschätzen darf?

GW: Aus meiner Sicht hat die AfD alle Chancen, wenn sie es nicht selber versägt, sich jedenfalls mittelfristig - darüber hinaus kann man natürlich kaum etwas sagen - im politischen System zu verankern. Wie viele Einstellungsstudien der letzten Jahrzehnte beweisen, ist das Potential dafür in der Bevölkerung vorhanden. Ich sehe auch nicht, daß es absehbar zu einem gravierenden politischen Kurswechsel in der Bundesrepublik kommt, der an den Wurzeln dieses Erfolges der Rechten etwas ändert. Die Wurzeln des Erfolges gründen in den Verhältnissen, die wir vorhin in der Diskussion autoritären Neoliberalismus, autoritären Kapitalismus genannt haben. Selbst wenn wir es nur auf den Neoliberalismus beziehen, ohne prinzipiell vom Kapitalismus zu sprechen, so scheint selbst dieses Modell zwar gegenwärtig vielleicht nicht mehr hegemonial zu sein, aber ich sehe nicht, daß derzeit tatsächliche Alternativen entwickelt würden. Und insofern bleiben die Bedingungen für die AfD bestehen.

Es gibt ja mitunter die Erwartung, diese Rechtspartei werde sich schon von selbst entzaubern. Sie könne ungeachtet ihrer vielfältigen inneren Widersprüche in der Opposition leicht Positionen beziehen, doch wenn sie diese erst einmal real in Politik umsetzen müsse, sähe die Sache ganz anders aus. Dafür lassen sich Beispiele anführen, aber ich glaube, daß es auch Gegenbeispiele gibt. Die FPÖ hat sehr darunter gelitten, als sie in die Regierung kam. Wir können aber doch nicht ernsthaft auf die Strategie abheben, bringt sie in die Verantwortung, das wird sie schon schwächen, und nach vier Jahren hat sich Sache dann erledigt. Das wäre eine fatale Schlußfolgerung, weil man an der Rechten in Europa sehen kann, welche Folgen ihre Regierungsbeteiligung hat. Denkt man beispielsweise an Ungarn oder Polen, setzen dort Veränderungen der demokratischen Spielregeln ein, die noch weit über die autoritären Züge hinausgehen, der bürgerlichen Demokratien ohnehin innewohnen. Wir erleben in diesen Ländern eine Infragestellung von demokratischen Standards, so daß niemand mit Sicherheit sagen kann, was passieren würde, brächte es die AfD zur Mehrheitsführerin einer Koalition. Man wird ja vielleicht im nächsten Jahr nach den Wahlen in Sachsen erleben, was das bedeutet. Wenngleich ich das auf bundespolitischer Ebene in nächster Zeit nicht sehe, muß es natürlich darum gehen, solche Formationen möglichst lange von politischen Entscheidungen fernzuhalten, weil sie auf jeden Fall bemüht wären, die für ihr Publikum zentralen Punkte auch real umzusetzen. Wie sich die Migrationspolitik in Italien in den nächsten Monaten verändert, wird man klar sehen können, und es wird für die davon betroffenen Menschen gravierende Folgen haben.

SB: In diesem Zusammenhang fällt häufig der Begriff des Ausnahmezustands. In der Türkei herrscht nach wie vor der offiziell erklärte Ausnahmezustand, ebenso in Frankreich, wenngleich diese beiden Länder auf den ersten Blick recht unterschiedlich aussehen. Wir erleben in der Bundesrepublik bestimmte Formen der Verschärfung, die man als Vorstufen oder Vorbereitung des Ausnahmezustands bezeichnen könnte. Wäre das ein Begriff, der einen gemeinsamen Rahmen für die Repression in verschieden Ländern definiert?

GW: Der Begriff "Ausnahmezustand" weckt ja zwangsläufig Erinnerungen an Carl Schmitt, und dabei schwingt natürlich historisch so viel mit, daß man leicht in ein sehr problematisches Fahrwasser gerät. Aus diesem Grund bin ich vorsichtig, Analogien zu ziehen, und mich dabei dieses Konzepts zu bedienen. Wenn ich mir jedoch vorstelle, daß es auch in Deutschland zu massiveren ökonomischen Einbrüchen käme, die zu gravierenden Formen von Unzufriedenheit führen, oder zu Verwerfungen wie einem schweren Terroranschlag hierzulande, würde das meines Erachtens aus Sicht der Herrschenden Formen von Politik attraktiv und diese in erheblichen Teilen der Bevölkerung akzeptabel machen, die das Bild von einer mehr oder weniger liberalen westlichen Demokratie deutlich ändern könnten. Du hast die Türkei und Frankreich als Beispiele zitiert, die nahelegen, daß das auch in anderen Ländern so funktionieren könnte. Wenngleich man mit Blick auf die Türkei vielleicht noch von einer spezifischen Situation sprechen kann, zeigt doch das Beispiel Frankreich - ein allen formalen Anforderungen westlicher Demokratie entsprechendes Land - daß es auch dort solche autoritären Mechanismen gibt, die weiter tradiert werden können. Wenn ich mir anschaue, wer momentan Innenpolitik in der Bundesrepublik betreibt, nämlich der Ressortchef Seehofer, würde ich schon davon ausgehen, das solche Formen autoritärer Politik auch den hiesigen Gedankenspielen nicht fremd sind.

SB: Ein zentrales Moment für die politische Rechte sind die äußeren Feindbilder, ein von ihr vielzitiertes Bedrohungsszenario, mit dem eine autoritäre Antwort begründet und deren Akzeptanz gefördert wird. Andererseits ist die Anschlagsgefahr auch in Deutschland ein nicht von der Hand zu weisenden reales Moment. In welchem Maße werden dabei Ängste in der Bevölkerung instrumentalisiert und zu Aggressionen verdichtet?

GW: Für das zentrale Feindbild Islamismus und muslimische Zuwanderung spielt das natürlich eine große Rolle. Gerade was diese Feindbilder angeht, beruht ihr Erfolg darauf, daß sie immer mit Elementen von Realität arbeiten. Es würde nicht so gut funktionieren - wenn man einmal vom Antisemitismus absieht - könnte es sich nicht die Sorgen und Ängste der europäischen Bevölkerung zunutze machen, die einen realen Kern haben. Es werden Anschläge in Frankreich und auch in Deutschland verübt, und die Rechte knüpft an vorhandene Ängste an, die sie dann aber auf ganze Kollektive überträgt, die als Feindgruppen markiert werden. Insofern trägt die tatsächliche Gefahr natürlich schon dazu bei, Argumentationen der AfD mit einer scheinbaren Logik oder Wahrheit zu versehen. Der ganze Kriminalitätsdiskurs ist ja enorm wichtig für sie. Bedrohung und Angst ist eines der Hauptschmiermittel der Rechten, und damit arbeiten sie - gerade auch die AfD momentan - exzessiv, um das Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung hoch zu halten.

SB: Gerd, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] Gerd Wiegel: Ein aufhaltsamer Aufstieg. Alternativen zu AfD & Co., PapyRossa Verlag Köln 2017, Neue Kleine Bibliothek 230, 126 Seiten.

[2] Martin Beck, Ingo Stützle (Hrsg.): Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen, Dietz Verlag Berlin 2018, 272 Seiten

[3] www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0074.html


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