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INTERVIEW/103: Richtige Literatur im Falschen - schöpfen bis zum Grunde ...    Stefanie Hürtgen im Gespräch (SB)


Gespräch am 8. Juni 2018 in Dortmund


Dr. Stefanie Hürtgen hat 1988 in Berlin (Ost) Abitur gemacht, dort in der Jugend- und Erwachsenenbildung gearbeitet und absolvierte von 1990 bis 1996 das Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 ist sie als Assistenzprofessorin an der Universität Salzburg im Fachbereich Geographie und Geologie tätig, bis dahin war sie unter anderem Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt am Main. Nach ihrem Vortrag zur Verschränkung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen auf der Tagung "Literatur in der Klassengesellschaft", die vom 7. bis 9. Juni in Dortmund stattfand, beantwortete sie dem Schattenblick einige ergänzende Fragen.


Im Interview - Foto: © 2018 by Schattenblick

Stefanie Hürtgen
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Hürtgen, heute wird in der Geschlechterforschung zwischen Sex als dem biologischen und Gender als dem sozialen Geschlecht unterschieden. Ist das für Sie eine relevante Kategorisierung?

Stefanie Hürtgen (SH): Auf jeden Fall. Ich denke, daß für eine sinnvolle kritische Perspektive die Gender-Kategorie das entscheidende ist und nicht, was ich als Moralisierung der Diskussion verstehen würde, die Forderung, daß die Frauen bessere Chancen gegenüber Männern kriegen sollen. Sex als biologisches Konstrukt ist natürlich auch fraglich geworden. Was ist das eigentlich? Gibt es nicht eher viele Variationen? Vor dem Hintergrund der Diskussion um Klasse ist die Verknüpfung mit Gender wichtig als eine - wie ich im Vortrag darzustellen versucht habe - ungute Dichotomisierung, die aufgrund bestimmter materieller Reproduktionsbedingungen, Traditionen, Normen und Werte mehrheitlich an Männer gebunden ist.

Daß dies nicht so sein muß, stellen wir fest in dem neuen Chefinnen-Bild, laut dem Frauen lernen sollen, hart durchzugreifen und Führungsstärke zu entwickeln. Dafür werden zahlreiche Seminare speziell für Frauen angeboten. Natürlich gibt es in diesem Zusammenhang auch Ideen, daß man als weibliche Führungskraft gefühlvoller sein kann, aber das ist alles keine Infragestellung der generellen Ausrichtung einer bestimmten Rationalität von Arbeit, die sich eben als männliche und weibliche konnotiert, darstellt und auch häufig in dieser Weise reproduziert wird. Daß der Mann zur Arbeit geht und die Frau daheim bleibt usw., ist aber nicht empirisch an Männer und Frauen konkret gebunden, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion, die etwas auseinanderreißt und in öffentlich und privat usw. zerteilt.

SB: Wenn, was selten genug vorkommt, Frauen in DAX- oder großen internationalen Konzernen eine Führungsposition bekommen, dann in der Regel nur, weil sie die Strategien männlicher Selbstbehauptung erfolgreich anwenden. Welche Relevanz hat ihr biologisches Geschlecht dann überhaupt, oder geht es im Grunde genommen nicht in der patriarchalischen Zuschreibung auf?

SH: Es hat eine geringe Relevanz. Wenn wir jetzt einmal DAX-Konzerne nehmen, dann betrifft das unternehmerische Schichten, die natürlich auch unter dieser gesellschaftlichen Situation, die wir Neoliberalismus nennen, leiden. Ich will das jetzt gar nicht so darstellen, daß sie sich einfach nur einen Lenz machen und locker sind, sondern sie sind auch Burnout und Riesenstreß ausgesetzt. Aber natürlich sind sie Teil dieser funktionalen Kapitallogik. Ich würde nicht sagen, daß das biologische Geschlecht überhaupt keine Relevanz hat. Die MeToo-Debatte hat gezeigt, daß mit großer Selbstverständlichkeit Übergriffe stattfinden und Ausnutzungsverhältnisse vorherrschen, und das ist nur die Spitze des Eisberges.

Wenn Frauen in DAX-Konzerne gehen, bricht unter Umständen vielleicht hier und da noch eine männerbündische Struktur auf. Aber es ist nicht so relevant, daß es für eine kritische emanzipatorische Frage nach einem künftigen Geschlechterverhältnis oder für eine andere, nicht dieser Dichotomie unterworfene Perspektive auf Arbeit reicht. In diesem Sinne erwarte ich davon wenig Impulse, nicht, weil die Menschen schlecht sind, sondern weil sie die Kapitallogik verkörpern müssen, also Rationalisierung, Steigerung, Marktgängigkeit und Konkurrenzfähigkeit verkörpern müssen und es auch tun.

SB: Nun ist die Verletzlichkeit von Frauen nach wie vor in dem Sinne gegeben, daß meist sie und nicht Männer Opfer von Vergewaltigungen und sexueller Gewalt sind. Was wäre für Sie ein erster emanzipatorischer Schritt für Frauen, um diesen Teil der ganz physischen und materiellen Auseinandersetzung konkret anzugehen?

SH: Ich würde nicht in der Perspektive antworten, daß das nur die Aufgabe der Frauen ist, sondern eher in der Weise, wie es vorhin Anke Stelling gemacht hat. Ich denke, wir müssen wieder stärker unsere leiblichen, physischen und auch psychischen Grenzen und Bedürfnisse als menschliche Wesen, als kommunikative Wesen und als soziale Wesen thematisieren und aus diesem Tabubereich, den es mittlerweile angenommen hat, auch ein Stück weit herausholen. Auf der einen Seite sprechen alle über Depression und Burnout als die zentralen Zivilisationskrankheiten der Zeit, auf der anderen Seite ist es, wenn man sozusagen in diesen Karriereschritten denkt und etwas verantwortungsvollere Tätigkeiten übernimmt, ungeheuer schwer, einfach zu sagen, heute schaffe ich das nicht, ich habe meine Grenzen. Manchmal kann man auch sagen, ich habe Kinder, das ist eine Grenzziehung, die teilweise akzeptiert wird, aber auch nicht immer.

Die Idee der Leiblichkeit ist ja, daß ich schlicht und einfach körperliche Grenzen habe. Ich denke, das ist ein ganz zentraler Schritt gegen die immer weiter voranschreitende Entgrenzung, wie wir das in der Forschung und Diskussion nennen, von Arbeit. Damit ist ja nicht nur die Grenzverschiebung zwischen privat und öffentlich gemeint, also daß ich Arbeit mit nach Hause nehme, sondern auch die immer weitere Ausdehnung, wenn ich zum Beispiel Probleme mit mir herumschleppe, die ich nicht gelöst bekomme oder ich es nicht geschafft habe, x Mails zu beantworten.

Das ist ein erster Schritt. Ein zweiter wäre, so etwas wie eine Alltagsethik oder alltägliche moralische Ökonomie zu stärken. Das ist nicht nur eine Frauenperspektive und -aufgabe, aber die Frau hat etwas dazu beizutragen, indem sie sagt, wir brauchen einen Arbeits- und Produktionsbegriff, der sich nicht auf die Anonymität des Marktes und dessen Verwertbarkeit mit einer Profitsteigerung am Ende ausrichtet, weil das in kapitalistischen Gesellschaften halt so ist. Wir müssen statt dessen die Frage wieder stark machen, für wen produzieren wir, was produzieren wir, auf welche Weise produzieren wir, wie schaffen wir es, uns in respektvoller grenzenakzeptierender menschlicher Weise im Arbeitsprozeß zu verhalten und darüber hinaus. Ich denke, dazu hat die radikale Frauenbewegung, die ich von dieser Gender-Mainstreaming-Debatte abgrenzen würde, einiges zu sagen, auf das man wieder zugreifen könnte.

SB: Frauen leisten nach wie vor einen erheblichen Anteil an unbezahlter Arbeit und darüber hinaus an affektiver Dienstleistung, die ihnen wie selbstverständlich abverlangt wird. Müßte nicht viel mehr Bewußtsein dafür geschaffen werden, daß der Arbeitsanteil von Frauen ganz erheblich ist für das Funktionieren dieser Art von kapitalistischer Wertproduktion?

SH: Ja, im ersten Schritt ist, glaube ich, eine Bewußtmachung auf jeden Fall gut, indem man fragt: Auf welcher Art von Aktivitäten, Arbeiten und Sorgeleistungen beruht diese Gesellschaft, was für eine Art von Hervorbringung produzieren wir eigentlich tagtäglich? Natürlich wissen alle, daß die emotionale Versorgung von Kollegen und Familienangehörigen ein ganz wichtiger Teil ist, der auch sehr viel Energie verzehrt. Ich bin aber nicht der Meinung, daß es darauf hinauslaufen sollte, wie es in den 70er Jahren der Fall war, darüber den Wertbegriff zu erweitern, indem alles in die Wertproduktion hineingerechnet und deswegen bezahlt werden muß. Theoretisch kann man das tun, aber ich bin gegen diese Bezahlung, weil ich denke, daß genau die nichtmarktförmige Logik der Zuwendung etwas ist, das wir als eine Ressource für eine andere Art des sozialen Miteinanders und der Vergesellschaftung erhalten sollten. Wenn wir quasi für das Streicheln von Mitmenschen, von Kindern, von Angehörigen Geld verlangten, würde sich die Bedeutung dieser Zuwendung radikal verändern. Diese Richtung möchte ich nicht nehmen, weil gerade das Herausnehmen aus einer marktwirtschaftlichen und profitlogischen Verbindung von Interesse ist.

SB: Der Begriff des Ökofeminismus bezieht sich im wesentlichen auf Frauen in den Ländern des Globalen Südens, wo unter einem großen Ausmaß an Verelendung letzten Endes die Wertschöpfung in den Metropolengesellschaften abgesichert wird. Inwieweit sind die Analysen des Ökofeminismus etwa einer Vandana Shiva für Sie von Bedeutung?

SH: Für mich ist, weil sie ja quasi als eine Art Urfrau, Urmutter (lacht) fungiert, nach wie vor Maria Mies von Interesse, aber auch Vandana Shiva. Ich bin nicht mit allem einverstanden, weil ich die letztlich auf Subsistenzproduktion ausgerichtete Alternative, die ich darin sehe, mit einem Fragezeichen versehen möchte. Ich denke, wir leben zur Zeit in global vergesellschafteten Strukturen und müssen Antworten finden, uns auf diese Weise auch in der Arbeit zu begegnen. Gleichwohl sind das meines Erachtens ungeheuer wichtige Beiträge in dieser Debatte, weil sie die vermeintliche Entwicklungslogik des rationalen, technischen, produktivitätssteigernden kapitalistischen Modells als Heilsbringung und Wohlstand für alle immer wieder wunderbar auseinandergenommen haben, und das ist heute wichtiger denn je. Es wird ja immer behauptet, Kapital wird im globalen Süden - früher nannte man das Kolonie oder Peripherie - angelegt, wo es nur Wüste gibt, die nichts aus sich selbst heraus hervorbringt. Und dann kommen wir modernen Investoren und bringen sozusagen den Fortschritt.

Diese ganzen Diskussionen sind ungeheuer wichtig, weil sie unser Wirtschaftssystem sehr klug und empirisch gehaltvoll in Frage stellen, indem sie auf die bestehenden Vergesellschaftungsformen dort vor Ort und auf die Verelendung durch den Anschluß an die vermeintliche Moderne abheben. Das von den Investoren vorgefundene Elend existiert nicht, weil das der globale Süden ist, sondern weil es von der Kapitalseite so produziert wurde. In einem Satz zusammengefaßt ist das eine wichtige Infragestellung der auch im Alltagsweltlichen dominanten Entwicklungsvorstellungen von uns als der Moderne, die sozusagen das Fortschrittliche verkörpert und auf die nachfolgenden Gesellschaften des globalen Südens überträgt. Was heißt eine solidarische globale Gesellschaft? Es bedeutet, sich auf Augenhöhe zu begegnen und nicht, daß wir euch das Gesellschaftsmodell der Zukunft bringen, was eben nicht der Fall ist.

SB: Die Erweiterung des binären Geschlechterverhältnisses findet ihren Ausdruck in der LGBTIQ-Bewegung oder der Einführung eines sogenannten dritten Geschlechtes bei Eintragungen ins Personenstandregister. Letztlich gebe es so viele Geschlechter, wie es Menschen gibt, soll Judith Butler einmal gesagt haben. Wie stehen Sie zu dieser Idee?

SH: Das ist Teil der heutigen schwierigen Gemengelage der im weitesten Sinne progressiven Linken, daß sie zu Recht auf Verschiedenheit als unhintergehbares Anerkennungsverhältnis beharrt. Ich würde im ergänzenden Sinne, weil mich das zunehmend auch selbst betrifft, das Alter und bestimmte Formen von sogenannten Gebrechlichkeiten dazunehmen. Ich komme aus der DDR, das ist auch nicht ganz ohne. Wir tragen immer individuelle, potentielle und je nach gesellschaftlicher Situation sich dann auch realisierende Verletzungsgefahren in uns. Wir gehören in unserer Verschiedenheit, Pluralität und auch der darin enthaltenen Verletzbarkeit anerkannt. Das würde ich auf jeden Fall unterschreiben.

Womit ich nicht einverstanden bin, ist die mittlerweile völlig überbordende sogenannte Identitätspolitik. Ich denke, es geht darum, sich in der Verschiedenheit auch aufeinander zu beziehen und nicht dabei stehenzubleiben, daß wir die sexuelle Verschiedenheit oder auch Hautfarbenverschiedenheit usw. einfach nebeneinander stehenlassen und nur als plurales Verhältnis betrachten. Die Frage ist, wie können wir uns quer zu diesen Verschiedenheiten in einen solidarischen Zusammenhang bringen, wie können wir uns stärken, um wieder mehr Solidarität, Zusammenhalt und Transformation der Gesellschaft in dieser Richtung zustande zu kriegen. Das sind die großen Fragen, und da ist die Anerkennung des einzelnen unhintergehbar. Das hat die alte Arbeiterbewegung gezeigt, die das häufig nicht getan hat. Statt dessen ist sie von einem kollektiven Blaumann, also dem Arbeiter, ausgegangen, der halt nicht schwul war und auch kein drittes Geschlecht hatte, sondern eben männlich war. Dahin wollen wir nicht zurück.

Aber die Vielheit als solche ist, ehrlich gesagt, eine Tautologie. Wir sind alle Individuen und wollen doch nicht in einer Gesellschaft leben, wo alle nur Individuen sind. Das ist Neoliberalismus. Sondern wir wollen in einer Gesellschaft leben, wo wir - Adorno sagt, ohne Angst anders zu sein - auf der Basis, speziell zu sein, Gemeinschaftlichkeit organisieren. Ich glaube, dies ist in letzter Zeit in einem Teil der radikalen Linken ein bißchen untergegangen.

SB: Frau Hürtgen, vielen Dank für das Gespräch.

Bäume und Stromtrasse - Fotos: © 2014 by Schattenblick Bäume und Stromtrasse - Fotos: © 2014 by Schattenblick

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Fotos: © 2014 by Schattenblick

Seelandschaft in Dortmund - Foto: © 2014 by Schattenblick

Postfossil, noninterventionistisch ... Bergsenkungssee in Dortmund
Foto: © 2014 by Schattenblick


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